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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Fühlt an meinen Liedern, daß ich eins und doppelt bin
Offizieller Begleiter seiner selbst: Sascha Anderson mimt das Delphische Orakel / Von Jörg Magenau

Sascha Anderson ist ein Name, den man ab sofort in Anführungszeichen setzen muß. "Sascha Anderson" heißt ein Buch, das auf den Autor verweist und doch zugleich eine Leerstelle schafft. Ist "Sascha Anderson" der Titel, dann fehlt der Autor, ist es der Autor, dann fehlt der Titel. Auf dem ansonsten leeren Umschlag ist der Name deshalb in der Mitte zerbrochen und in zwei Teile zerlegt. Er ist Funktion und Person, vielleicht aber auch nur eine Erfindung seiner selbst. "Sascha Anderson" hat sich gut versteckt, indem er sich öffentlich macht. Er ist nicht zu greifen.

Damit ist über dieses rätselhafte, merkwürdige Buch, das Autobiographie nicht sein will und Roman nicht sein darf, fast schon alles gesagt. "Sascha Anderson" hat sein Leben so aufgeschrieben, wie es ihm möglich war: als "Geschichte, die ich mir selbst erzähle". So lautet der Schlußsatz seines Buches. Über andere hat er in seiner fast zwanzigjährigen Tätigkeit als Stasispitzel ausführlich genug Bericht erstattet. Seine Führungsoffiziere waren sein Publikum und seine Leser. Seine über tausend Seiten Stasiprotokolle werden Andersons Hauptwerk bleiben, neben dem die Lyrikbände, die er in den achtziger Jahren als Szene-Zampano des Prenzlauer Bergs veröffentlichte, nur noch als Marginalien erscheinen. Heute spricht "Sascha Anderson" nur noch über sich und vor sich selbst. Er tut das nicht, um sich zu rechtfertigen. Dazu ist er zu klug und die Sachlage zu klar. Seine Schuld steht für ihn außer Zweifel. Doch sie hat nicht viel zu bedeuten.

In seiner eigenen, schwer verständlichen Sprache klingt das so, als spräche das Delphische Orakel: "Der ich mir einbilde zu sein, der ich nicht bin, schreibt den, der sich findet in dem, was geschrieben steht. Wie denn sonst. Die Literatur, in der ich nicht vorhanden bin, weil ich mich nicht verstehe, muß ich selbst schreiben." Das Publikum, das es für "Sascha Anderson" zweifellos gibt, ein Publikum, das auf Geständnisse, Sensationen, Abgründe rechnet, wird enttäuscht sein. Man muß schon ein dezidiertes Interesse an psychopathologischen Strukturen mitbringen, um diesem spätexpressionistischen Wortgeklingel etwas abgewinnen zu können. Mit herkömmlichen Kriterien der Literaturkritik ist nicht viel auszurichten. Es geht nicht um eine Geschichte, sondern um einen Fall. Es geht nicht um eine Formfindung, sondern um ihre Auflösung. "Sascha Anderson" ist der Versuch, eine Identität zu gewinnen oder vielmehr zu vermeiden, was in seinem Fall dasselbe ist. Es ist der Entwurf einer Identität als multipler Gestalt.

Das Buch ist in einem atemlosen Stakkato gehalten, ein Hetzgang durch ein Leben, das sich der Leser aus Einzelbildern und Andeutungen selbst zusammenreimen muß. Über die Kindheit von "Sascha Anderson" kursierten früher am Prenzlauer Berg so viele verschiedene Geschichten wie es Zuhörer gab. Jeder bekam eine andere Erzählung, und so kann "Sascha Anderson" nichts anderes sein als eine weitere Variante dieser Geschichten. Kurz gesagt, ist es die Geschichte eines verlassenen Kindes, das vergeblich um die Liebe seiner Eltern buhlt, unter Verlassenheitsgefühlen leidet und schließlich in familiärer Eintracht mit Vater Staat und Mutter Kunst ein neues Zuhause für sich entwirft. Weil der Vater als Schauspieler am Theater arbeitete, sind dem Protagonisten Rollenspiele von klein auf vertraut. Vor anderen Kindern spielt er den Stummen, der seine Botschaften auf Zettelchen schreiben muß, ganz so, als habe er da schon für später geübt. Doch seine Traumrolle findet er erst in reiferen Jahren: "ich als Begleiter meiner selbst". Die Karriere vom Schriftsetzer zum Lyriker, Ausstellungsmacher und großen Organisator, der die Szene, die er bespitzelte, selbst hervorbrachte, lief wie in Trance als Fluchtbewegung vor sich selbst. "Sascha Anderson" relativiert die Bedeutung der DDR-Avantgarde mit Blick auf die westlichen Medien, die in den Ost-Berliner Ateliers Schlange standen und mit ihren Kameras eine Oppositionsbewegung aus dem ziellosen Aktivismus heraus vergrößerten. "Sascha Anderson" relativiert aber auch die eigenen Zuträgerdienste, die sich von seinen anderen Aktivitäten kaum unterscheiden. Systematisch verwischt er die Grenzen zwischen Kollaboration und Autonomie.

Die Ausflüchte in die Selbstvervielfachung funktionieren nur mit stilistischer Indifferenz. "Sascha Anderson" ist so geschrieben, daß niemand den Text restlos verstehen kann, vermutlich nicht einmal der Autor selbst. Viele Sätze sind unvollständig und schieben sich verblos wie Inventurlisten hintereinander. Namen werden wie Begriffe benutzt und atemlos aneinandergereiht, so daß die zugehörigen Personen kein Eigenleben gewinnen können. "Sascha Anderson" hantiert mit leblosen Schablonen. Viele Freunde, Freundinnen und Kollegen tauchen auf, ohne daß man jemals erfährt, wie es für einen Spitzel möglich ist, Beziehungen unter der Allgegenwart der Lüge überhaupt zu führen. Die Künstlerfreunde sind nicht mehr als Moleküle einer Stoffmasse, die irgendwie so zu ordnen wäre, daß sich daraus "Sascha Anderson" ergibt. Die Erinnerung funktioniert so bruchstückhaft, als handle es sich um eine Scherbensammlung, die sich nicht mehr zusammensetzen, sondern nur noch ausschütten läßt.

Um das disparate Material zu formen, hat "Sascha Anderson" den Text in Kapitel und Unterkapitel durchnumeriert wie eine Magisterarbeit und mit Fußnoten versehen, die das Einfache erklären, ohne das Dunkel des gesamten Textes zu erhellen. Man erfährt, daß es sich bei der Defa um die "Deutsche Film-Aktiengesellschaft" handelt, oder daß man sich unter einem "strammen Max" doch bitte präzise "eine Scheibe Schwarzbrot mit Schinken unter einem Spiegelei" vorzustellen hat. So erschöpft sich "Sascha Anderson" in einem leerlaufenden Gestus des Verdeutlichens, der zur Parodie mißrät.

"Sascha Anderson" ist nicht in Erklärungen zu finden, und nicht in der Erzählung, sondern allenfalls in der zersplitterten Form selbst. Glück definiert er als jenen Augenblick, der ihn "aus der Form zurückwirft. Zurück in eine frühe Gestaltvielfalt". So ergibt sich das Bild eines Menschen, der spürt, daß in ihm nichts als Leere ist. Warten, Empfindungslosigkeit oder "aktive Passivität" sind die bestimmenden existentiellen Kategorien. "Sascha Anderson" bezeichnet sich als "Herdentier mit Angst vor Einsamkeit und vor Berührung". Damit ist er an der Stelle angelangt, in der er für die Stasi brauchbar wurde. Seine Führungsoffiziere schienen ihm beide Ängste gleichzeitig mildern zu können und trieben ihn mit ihren Gesprächsangeboten doch nur in die Abhängigkeit wie Dealer einen Drogensüchtigen.

"Sascha Anderson" betreibt Aufklärung als Verdunkelung. Er ist zum informellen Mitarbeiter seiner selbst geworden, bei dem Information und Desinformation, Konstruktion und Dekonstruktion zusammenfallen. Seine Prosa ist die Fortsetzung seiner Aufklärungsarbeit mit anderen Mitteln. Man könnte auch von der Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge sprechen, wenn das nicht ein viel zu moralischer Begriff wäre für einen, der keine Moral einer halben Moral vorzieht. Ihm Lügen vorzuhalten hieße, den mathematischen Beweis für die Falschheit eines Kunstwerkes antreten zu wollen. Wahrheit oder Lüge ist nicht mehr das Problem, wenn die größte Bedrohung für "Sascha Anderson" darin besteht, die "Distanz zu sich selbst zu verlieren". Er hat den Raum der Moral konsequent verlassen und dafür den der Ästhetik betreten. Sein Leben möchte er als Kunst betrachtet wissen. Seine Schuld ist dann ein Phänomen, aus dem sich erzählerisches Kapital schlagen läßt. Das macht diese Autobiographievermeidungsunternehmung so unangenehm.

"Sascha Anderson" erzählt die Geschichte des Verrats als faustischen Stoff. Er beginnt als Prolog im Himmel mit Heiner Müller und Novalis, den beiden Schutzheiligen. "Eine sichere Ordnung, eine feste Form ist etwas für das Ende des Lebens", läßt "Sascha Anderson" Heiner Müller sagen. Und Novalis, der Romantiker, hat den Vorzug, vielleicht sogar noch ein bißchen dunkler zu sein als "Sascha Anderson" selbst, der sich sicher ist, "daß Novalis mich geschrieben hat". Es klingt wie ein schlechter Scherz, doch der Stasioffizier, der den jungen Mann 1973 in Dresden "zur Klärung eines Sachverhalts" vorlud, hieß ausgerechnet "Herr Faust". "Sacha Anderson" nannte ihn "Mephisto", denn Faust war ja er selbst. Er hatte alles im Griff und glaubte in jugendlicher Arroganz, auch mit der Stasi locker fertig zu werden. Er würde reden und reden und reden, aber seine Seele würden sie nicht bekommen. Er würde sie kontrollieren und ihnen in die Kunst hinein entkommen. Die ersten Gedichte und die ersten Stasiberichte entstanden zur selben Zeit. "Sascha Anderson" hatte im Pakt mit dem Teufel die Kreativität entdeckt.

Oder war es doch umgekehrt? Am Anfang des Buches heißt es: "Wenn er jung ist und kräftig ohne Ende und geboren zum Agitator und Propagandisten und ideologisch geschult, glaubt auch der sozialistische Künstler, Mephisto sei die Urgestalt des Faust und das Glück auf der Seite dessen, der die Gebärden seiner Rolle beherrscht." Doch "Sascha Anderson" war weder Ideologe noch Propagandist, und Mephisto war im Sozialismus offiziell nicht vorgesehen. Schon Walter Ulbrichts Planvorgabe an die Schriftsteller der DDR, doch endlich den "sozialistischen Faust" zu schreiben, war an der Mephistofrage gescheitert. 1995 aber erhielt "Sascha Anderson", wie er unlängst auf einer Pressekonferenz in Berlin erzählte, Post von seinem einstigen Führungsoffizier Reuter. Reuter hatte den Ruhestand nach der Wende genutzt, um einen Spionageroman zu schreiben, in dem er "Sascha Anderson" die Hauptrolle zugedacht hatte. Reuter war Faust, und "Sascha Anderson" war Mephisto. Doch diese Rolle des Spitzels als Verführer des Führungsoffiziers akzeptierte "Sascha Anderson" nicht: sie sei die Umkehrung der realen Verhältnisse. "Sascha Anderson" möchte sich lieber als Verführten oder zumindest als Opfer der Verhältnisse sehen.

So war es früher, so ist es heute. Die vakante Rolle der Führungsoffiziere hat "Sascha Anderson" nun der Öffentlichkeit zugewiesen. Sie ist es, die ihm Erklärung und Bericht zumutet, sie erzeugt seine Bedeutung und wird von ihm dafür geliebt und gehaßt. Wie sonst wäre es zu erklären, daß "Sascha Anderson" die Öffentlichkeit zugleich sucht und vermeidet, daß er Aufmerksamkeit mindestens ebensosehr benötigt, wie er sie fürchtet, und daß er Freiheit immer noch als etwas empfindet, was von anderen zugeteilt wird? Seine Strategie, vor der Öffentlichkeit Rechenschaft über sich selbst abzulegen, ohne etwas mitzuteilen, gleicht der des Informanten, der niemandem geschadet haben will. Der Text ist sein Schutz: Hier ist er geborgen. Deshalb muß der Text als Dichtung immer dichter werden. Der Text ist "Sascha Anderson", ihm ist nichts anzuhaben. Der Text ist, wie er ist. Die Absicht ist, "etwas so zu erzählen, daß es sich im Schutz der Erzählung aufhebt". Fragt sich nur, warum man diesen Prozeß, der sich im Schreiben selbst erfüllt, lesend nachvollziehen soll.

Sascha Anderson: "Sascha Anderson". DuMont Literaturverlag, Köln 2002. 280 S., 20 Fotos, geb., 19,90 .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

In der Kunst-, Musik- und Literaturszene der DDR als schillernder, rastloser Dichter, Rockmusiker, Büchermacher, Kunstorganisator etabliert, war Anderson seit 1973 auch als Stasi-Informant unterwegs, der den DDR-Geheimdienst die verlangten Informationen über Freunde und Bekannte zusteckte. Nach seiner Enttarnung leugnete er zunächst hartnäckig, bis die Beweislast erdrückend wurde. Beatrix Langner zeichnet in ihrer Rezension die Stationen von Andersons Karriere nach, einer Karriere die "von Anfang an nicht den Unterschied kannte, kennen wollte zwischen Kunstwelt und Wirklichkeit, Lüge und ästhetischer Illusion", wie die Rezensentin festhält. Andersons Autobiografie ist für Langer im Kern nichts anderes als die "Fortsetzung des Verrats mit anderen Mitteln, der Selbstverrat". Aber nicht das stört die Rezensentin am meisten, sondern Andersons Sprache. Diese erscheint der Rezensentin zuweilen "kryptisch bis zur Unverständlichkeit", zumeist aber paraphrasiere sie nur wortsüchtig, "was in einfacheren Worten unerträglich verlogen wäre". Darin erblickt die Rezensentin das eigentliche Manko des Buches. Anderson habe sich vielleicht als Spitzel erklärt, urteilt Langer, "als Dichter hat er sich überflüssig geschrieben."

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