Produktdetails
- Verlag: Vintage
- ISBN-13: 9780099497165
- ISBN-10: 0099497166
- Artikelnr.: 15138634
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2005Wir brauchen keine Götter
Die Wärme des Materialismus: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Ian McEwan über seinen Roman „Saturday”
SZ : Mr. McEwan, in Ihrem neuen Roman „Saturday” ist der Held, Henry Perowne, ein wohlhabender Neurochirurg, der in London lebt und auf die fünfzig zugeht. Er ist mit sich zufrieden, und seine Familie ist es im Großen und Ganzen auch. Alles Bedrohliche kommt von außen, von englischen Gangstern und vom internationalen Terrorismus. Warum dieses Loblied auf eine intakte Familie?
Ian McEwan : Zunächst deshalb, weil es in meinem eigenen Leben und auch in den Biographien vieler meiner Freunde eben nicht so ist, dass alle andauernd in komplizierte, fürchterlich anstrengende und gewalttätige Scheidungsprozesse verwickelt sind oder die Kinder ständig Drogen nehmen. Darum kam mir mein Held so ungewöhnlich nicht vor, auch wenn manche Leser auf ihn so reagiert haben, als hätte ich einen Vergewaltiger zur Hauptfigur gemacht. Vor allem aber wollte ich, indem ich dem Helden eine interessante Arbeit, intakte Familienbeziehungen und einen zufriedenstellenden Gesundheitszustand gegeben habe, die private Bühne freiräumen, damit die Ängste hinausgehen konnten in die Welt. Ich wollte nicht einen Roman des privaten Lebens schreiben, mit den üblichen Liebesaffären und von den Eltern entfremdeten Kindern. All dies Private sollte funktionieren und natürlich hoffe ich, dass es trotzdem interessant bleibt, aber es kam mir eben darauf an, das Bewusstsein des Helden von all dem freizuhalten, damit es sich ganz der Konfrontation mit der Außenwelt widmen, sie reflektieren und von ihr beunruhigt sein kann.
SZ : Auf der Bühne, die Sie freiräumen, tritt die Politik auf, und die Geschichte. Ihr Roman spielt am 15. Februar 2003, dem Tag, an dem in London die große Demonstration gegen den drohenden Irakkrieg stattfand. Ihr Held nimmt dazu keine eindeutige Position ein, mal klingt er wie ein Falke, mal wie eine Taube. An der Demonstration jedenfalls nimmt er nicht teil. Was, meinen Sie, würde er jetzt sagen, zweieinhalb Jahre später, die aktuelle Situation im Irak vor Augen?
McEwan : Ich glaube, er befände sich in einem Zustand tiefer Verzweiflung, er hätte das Gefühl, dass manches nicht hätte riskiert werden sollen, ja, dass es womöglich besser gewesen wäre, gar nichts zu tun - und zugleich würde ein Teil seiner selbst sagen, früher oder später wäre es doch dazu gekommen. Niedergeschlagen wäre er nicht zuletzt angesichts der Bösartigkeit des Vorgehens der Sunniten gegen die Schiiten. Al-Quaida war immer eine sunnitische Organisation, und man hätte vielleicht voraussehen können, was jetzt geschieht: das Abschlachten von Kindern, von Gläubigen beim Gebet. Ich glaube nicht, dass man diese Exzesse noch als Aktionen gegen die Besetzung des Landes oder gegen die Amerikaner auffassen kann. Sie sind zutiefst nihilistisch. Mein Held wäre - und ich bin es auch, weil meine politischen Ansichten den seinen sehr ähnlich sind - sehr weit entfernt von jenem Teil der politischen Linken, der in den Aufständischen Freiheitskämpfer und Helden sieht.
SZ : In Ihrem letzten Roman, „Abbitte”, ist die jugendliche Heldin Briony eine passionierte, vielleicht allzu passionierte Leserin. Henry Perowne ist ein bekennender Nicht-Leser. Warum?
McEwan : In gewisser Weise ist „Saturday” die Fortsetzung einer Reflexion über die Einbildungskraft. Was die Literatur betrifft, ist dieser Henry in der Tat das glatte Gegenteil der Briony aus „Abbitte”. Er glaubt nicht, dass die Literatur zu den Bereichen gehört, in denen der menschliche Genius wahrhaft zur Entfaltung kommt. Zu diesen Bereichen gehören für ihn aber die Malerei und vor allem die Musik. Doch gibt es da gewisse Ironiesignale, vor allem natürlich, dass Perowne eben eine Romanfigur ist. Aus meiner Sicht ist der Roman das beste Instrument, um so etwas wie die psychologische Fotografie des Jahres 2003 zustande zu bringen, die Form des Romans, nicht die Kamera, auch nicht die Filmkamera. Nur ein Roman kann einen ganzen Tagesablauf eines Menschen mitsamt seinen Gedanken zur Darstellung bringen.
SZ : In „Abbitte” gab es einen Erzähler, der das Imperfekt benutzte, in „Saturday” begleiten Sie den Helden durchgängig im Präsens. Warum dieser Wechsel der Zeitform?
McEwan : „Saturday” habe ich im Simple Past begonnen - bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich entschieden habe, daraus einen Roman über einen einzigen Tag zu machen. Ich weiß nicht mehr genau, wann, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich eher durch die Einheit der Zeit als durch das Verfolgen der Ereignisse - die Verhandlungen in der UNO, die Invasion etc. - bekommen würde, was ich brauchte. Ursprünglich hatte ich vor, etwa sechs Monate des Jahres zu beschreiben. In dem Moment, als ich mich entschied, den Roman innerhalb eines Tages stattfinden zu lassen, ging ich zurück an den Anfang und setzte alles ins Präsens. Das ging natürlich nicht durch einen Austauschbefehl im Textverarbeitungsprogramm: Wenn man die Zeitform ändert, ändert sich sogleich das Gefühl für den Gesamtzusammenhang. Das Präsens gab mir die Vorstellung eines gelebten Tages, den der Leser in Echtzeit miterleben könnte. Dieser Roman sollte ja ein Gegenwartsroman sein, kein historischer Roman wie „Abbitte”: Ich wollte durch das Präsens zumindest die Illusion von Unmittelbarkeit und Gegenwart erzeugen.
SZ : Am Ende des Romans ist das Gefühl der Zufriedenheit einer gewissen Verunsicherung und Angst gewichen . . .
McEwan : Es ist eine sehr starkes Gefühl der Verunsicherung! Der Held hat einen Abend voller Gewalt erlebt, hat entdeckt, dass seine Tochter schwanger ist, weiß, dass seine Mutter bald sterben wird, er spürt das Altern seines eigenen Körpers, er fühlt die Welt bedrohlich auf sich eindringen - viele Ängste stürmen auf ihn ein. Und dann ist da noch die Magie der Zahlen, das Gefühl des jungen, gerade beginnenden Jahrhunderts, mit all dem Unvorhersehbaren, was es bringen wird. Wäre es ein Held im Jahre 1993, der am Ende aus dem Fenster blickt, so wäre die Aussicht vielleicht noch ein wenig besser. Wenn aber die uns bevorstehende Zukunft so schlecht ist wie die, die vor einem Mann im Jahre 1993 lag, dann sollten wir uns wirklich Sorgen machen.
SZ : Die Bedrohung, die in Ihrem Roman über London liegt, ist die des internationalen Terrorismus. Wenige Monate nach seinem Erscheinen gab es in London die Attentate von Anfang Juli. Was ist aus der Gegenwart des Henry Perowne geworden?
McEwan : Ich denke, dass wir aus der in „Saturday” beschriebenen Gegenwart noch nicht herausgetreten sind. Der Roman könnte auch im Jahre 2005 spielen. Wir leben noch in dieser Gegenwart und es war nicht schwierig vorauszusagen, dass London auf die Bomben „wartet”. Im Februar 2003 hatten wir noch nicht die Anschläge von Madrid, aber wir hatten schon Bali. Und wir sind inzwischen an das Warten gewöhnt.
SZ : Ihr Held hat ein sehr skeptisches Verhältnis zur Literatur. Aber im Moment der Krise, als die Gangster im Haus sind, kommt die Rettung durch die Literatur, dadurch, dass die Tochter Henry Perownes ein Gedicht aus dem 19. Jahrhundert zitiert. Ist das nicht sehr unwahrscheinlich, diese Zähmung des Gangsters durch eine Gedichtrezitation?
McEwan : Wenn man diese Figur als Gangster auffasst, ja. Aber nicht, wenn man ihn als den Mann sieht, als der er bis dahin im Roman geschildert wird. Er leidet an einer Nervenkrankheit, an Huntington, und ich habe mir sehr viel Mühe mit seinen Stimmungsschwankungen gemacht, mit dem plötzlichen Wechsel von Freundlichkeit zu Aggression, von Freude zu Verzweiflung. Es geht nicht darum, dass ein Krimineller durch Poesie verwandelt wird. Es geht darum, dass ein Mann wie dieser Baxter, der schwer krank und wenig gebildet ist, dass auch ein solcher Mann in so einem Gedicht mehr sehen kann als Henry Perowne. Das Gedicht weckt seinen Lebenswillen, er wird nicht gezähmt, er will mehr Leben, wie wir alle.
Aber natürlich war diese Szene ein Risiko, mit der nackten jungen Frau, die schwanger ist und laut Matthew Arnold rezitiert. Für mich war das ein Vorklang des Endes, an dem Henry Perowne, der kein Christ ist, das Leben des Mannes rettet, der einen Anschlag auf seine Familie verübt hat. Und er rettet Baxter ja nicht nur, er stößt ihn auch zurück in die Hölle seiner Krankheit. Die Operation am Ende ist so etwas wie eine Parallele zum Prozess des Schreibens.
SZ : Von John Lennon gibt es die Zeilen „Imagine, theres no heaven, above us only sky . . .”. Er meinte das als freundliche Utopie einer Zukunft ohne Religion. Ich stelle mir vor, dass Ihr Held den Lennon-Song mag. Denn Henry Perowne ist ein Erbe des 19. Jahrhundert-Materialismus, die Religion ist für ihn Vergangenheit. In der aktuellen Weltgesellschaft aber ist die Religion nach wie vor ein dynamisches Element, keine absterbende Kraft.
McEwan : Ja, das ist sie, und ich finde es sehr problematisch, dass sie das ist. Und was können wir dagegen setzen? Ich möchte in „Saturday” den Gedanken nahe legen, dass es eine Weltanschauung gibt, die die Welt ehrfurchtgebietend, großartig und wunderbar findet, die aber vor allem glaubt, das sie beschrieben werden kann. Es gehört zu den Faszinosa unserer Zeit, intellektuell wie emotional, dass wir in unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben. Haben wir je ein anderes Gedankensystem erfunden, das sich selbst korrigieren kann, außer der Wissenschaft? Das ist eben das Problem mit den Religionen: sie korrigieren sich nicht selbst, sie sind nicht anpassungsfähig, sie haben ihre heiligen Texte. Sie sind überdies in vielem, was sie über die Welt sagen, falsche, unrichtige Beschreibungen der Welt. Sie beanspruchen einen Sonderstatus: weil sie Religionen sind, sollen wir ihnen ihre Irrtümer vergeben. Ich denke, wir sollten sie nach den Standards beurteilen, denen wir alle Aussagen über die Welt unterwerfen: Sind sie wahr oder falsch?
Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es auch ohne Religion. Ich wollte in Henry Perowne den Reichtum der materialistischen Weltanschauung darstellen, auch ihre Wärme - dass am Materialismus nichts „Kaltes” sein muss, wenn er sagt: Wir haben nun eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein . . .
SZ : Es gibt also keinen Raum mehr für die Götter?
McEwan : Nein. Wir brauchen sie nicht. Es war immer ein falscher Anspruch der Religionen, zu behaupten, ohne sie gäbe es keine Moral. Aber inzwischen wissen wir genug über uns selbst, wir wissen, dass die Moral der Notwendigkeit entspringt, die uns zu sozialen Lebewesen macht, uns Konzepte von Gerechtigkeit, Fairness etc., abverlangt. Die Religionen mögen das kodifizieren.
SZ : In Ihrem Roman, dessen Held beim Operieren Johann Sebastian Bach hört, steht dort, wo früher die Religion stand, die Musik . . .
McEwan : Ja, die Musik, aber auch die Wissenschaft. Die Kunst generell kann uns so etwas wie Transzendenz geben. Es mag eine profane, säkulare Transzendenz sein, aber es ist eine.
Interview: Lothar Müller
Am Samstag, dem 15. Februar 2003, fand in London eine große Demonstration gegen den sich abzeichnenden Irak-Krieg statt (Bild oben). Der neue Roman „Saturday” des englischen Schriftstellers Ian McEwan spielt an diesem Samstag (SZ vom 22. Juli). In Berlin, wo der Autor dieser Tage seinen Roman vorgestellt hat, haben wir mit Ian McEwan gesprochen.
Fotos: dpa (oben), Getty Images
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Die Wärme des Materialismus: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Ian McEwan über seinen Roman „Saturday”
SZ : Mr. McEwan, in Ihrem neuen Roman „Saturday” ist der Held, Henry Perowne, ein wohlhabender Neurochirurg, der in London lebt und auf die fünfzig zugeht. Er ist mit sich zufrieden, und seine Familie ist es im Großen und Ganzen auch. Alles Bedrohliche kommt von außen, von englischen Gangstern und vom internationalen Terrorismus. Warum dieses Loblied auf eine intakte Familie?
Ian McEwan : Zunächst deshalb, weil es in meinem eigenen Leben und auch in den Biographien vieler meiner Freunde eben nicht so ist, dass alle andauernd in komplizierte, fürchterlich anstrengende und gewalttätige Scheidungsprozesse verwickelt sind oder die Kinder ständig Drogen nehmen. Darum kam mir mein Held so ungewöhnlich nicht vor, auch wenn manche Leser auf ihn so reagiert haben, als hätte ich einen Vergewaltiger zur Hauptfigur gemacht. Vor allem aber wollte ich, indem ich dem Helden eine interessante Arbeit, intakte Familienbeziehungen und einen zufriedenstellenden Gesundheitszustand gegeben habe, die private Bühne freiräumen, damit die Ängste hinausgehen konnten in die Welt. Ich wollte nicht einen Roman des privaten Lebens schreiben, mit den üblichen Liebesaffären und von den Eltern entfremdeten Kindern. All dies Private sollte funktionieren und natürlich hoffe ich, dass es trotzdem interessant bleibt, aber es kam mir eben darauf an, das Bewusstsein des Helden von all dem freizuhalten, damit es sich ganz der Konfrontation mit der Außenwelt widmen, sie reflektieren und von ihr beunruhigt sein kann.
SZ : Auf der Bühne, die Sie freiräumen, tritt die Politik auf, und die Geschichte. Ihr Roman spielt am 15. Februar 2003, dem Tag, an dem in London die große Demonstration gegen den drohenden Irakkrieg stattfand. Ihr Held nimmt dazu keine eindeutige Position ein, mal klingt er wie ein Falke, mal wie eine Taube. An der Demonstration jedenfalls nimmt er nicht teil. Was, meinen Sie, würde er jetzt sagen, zweieinhalb Jahre später, die aktuelle Situation im Irak vor Augen?
McEwan : Ich glaube, er befände sich in einem Zustand tiefer Verzweiflung, er hätte das Gefühl, dass manches nicht hätte riskiert werden sollen, ja, dass es womöglich besser gewesen wäre, gar nichts zu tun - und zugleich würde ein Teil seiner selbst sagen, früher oder später wäre es doch dazu gekommen. Niedergeschlagen wäre er nicht zuletzt angesichts der Bösartigkeit des Vorgehens der Sunniten gegen die Schiiten. Al-Quaida war immer eine sunnitische Organisation, und man hätte vielleicht voraussehen können, was jetzt geschieht: das Abschlachten von Kindern, von Gläubigen beim Gebet. Ich glaube nicht, dass man diese Exzesse noch als Aktionen gegen die Besetzung des Landes oder gegen die Amerikaner auffassen kann. Sie sind zutiefst nihilistisch. Mein Held wäre - und ich bin es auch, weil meine politischen Ansichten den seinen sehr ähnlich sind - sehr weit entfernt von jenem Teil der politischen Linken, der in den Aufständischen Freiheitskämpfer und Helden sieht.
SZ : In Ihrem letzten Roman, „Abbitte”, ist die jugendliche Heldin Briony eine passionierte, vielleicht allzu passionierte Leserin. Henry Perowne ist ein bekennender Nicht-Leser. Warum?
McEwan : In gewisser Weise ist „Saturday” die Fortsetzung einer Reflexion über die Einbildungskraft. Was die Literatur betrifft, ist dieser Henry in der Tat das glatte Gegenteil der Briony aus „Abbitte”. Er glaubt nicht, dass die Literatur zu den Bereichen gehört, in denen der menschliche Genius wahrhaft zur Entfaltung kommt. Zu diesen Bereichen gehören für ihn aber die Malerei und vor allem die Musik. Doch gibt es da gewisse Ironiesignale, vor allem natürlich, dass Perowne eben eine Romanfigur ist. Aus meiner Sicht ist der Roman das beste Instrument, um so etwas wie die psychologische Fotografie des Jahres 2003 zustande zu bringen, die Form des Romans, nicht die Kamera, auch nicht die Filmkamera. Nur ein Roman kann einen ganzen Tagesablauf eines Menschen mitsamt seinen Gedanken zur Darstellung bringen.
SZ : In „Abbitte” gab es einen Erzähler, der das Imperfekt benutzte, in „Saturday” begleiten Sie den Helden durchgängig im Präsens. Warum dieser Wechsel der Zeitform?
McEwan : „Saturday” habe ich im Simple Past begonnen - bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich entschieden habe, daraus einen Roman über einen einzigen Tag zu machen. Ich weiß nicht mehr genau, wann, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich eher durch die Einheit der Zeit als durch das Verfolgen der Ereignisse - die Verhandlungen in der UNO, die Invasion etc. - bekommen würde, was ich brauchte. Ursprünglich hatte ich vor, etwa sechs Monate des Jahres zu beschreiben. In dem Moment, als ich mich entschied, den Roman innerhalb eines Tages stattfinden zu lassen, ging ich zurück an den Anfang und setzte alles ins Präsens. Das ging natürlich nicht durch einen Austauschbefehl im Textverarbeitungsprogramm: Wenn man die Zeitform ändert, ändert sich sogleich das Gefühl für den Gesamtzusammenhang. Das Präsens gab mir die Vorstellung eines gelebten Tages, den der Leser in Echtzeit miterleben könnte. Dieser Roman sollte ja ein Gegenwartsroman sein, kein historischer Roman wie „Abbitte”: Ich wollte durch das Präsens zumindest die Illusion von Unmittelbarkeit und Gegenwart erzeugen.
SZ : Am Ende des Romans ist das Gefühl der Zufriedenheit einer gewissen Verunsicherung und Angst gewichen . . .
McEwan : Es ist eine sehr starkes Gefühl der Verunsicherung! Der Held hat einen Abend voller Gewalt erlebt, hat entdeckt, dass seine Tochter schwanger ist, weiß, dass seine Mutter bald sterben wird, er spürt das Altern seines eigenen Körpers, er fühlt die Welt bedrohlich auf sich eindringen - viele Ängste stürmen auf ihn ein. Und dann ist da noch die Magie der Zahlen, das Gefühl des jungen, gerade beginnenden Jahrhunderts, mit all dem Unvorhersehbaren, was es bringen wird. Wäre es ein Held im Jahre 1993, der am Ende aus dem Fenster blickt, so wäre die Aussicht vielleicht noch ein wenig besser. Wenn aber die uns bevorstehende Zukunft so schlecht ist wie die, die vor einem Mann im Jahre 1993 lag, dann sollten wir uns wirklich Sorgen machen.
SZ : Die Bedrohung, die in Ihrem Roman über London liegt, ist die des internationalen Terrorismus. Wenige Monate nach seinem Erscheinen gab es in London die Attentate von Anfang Juli. Was ist aus der Gegenwart des Henry Perowne geworden?
McEwan : Ich denke, dass wir aus der in „Saturday” beschriebenen Gegenwart noch nicht herausgetreten sind. Der Roman könnte auch im Jahre 2005 spielen. Wir leben noch in dieser Gegenwart und es war nicht schwierig vorauszusagen, dass London auf die Bomben „wartet”. Im Februar 2003 hatten wir noch nicht die Anschläge von Madrid, aber wir hatten schon Bali. Und wir sind inzwischen an das Warten gewöhnt.
SZ : Ihr Held hat ein sehr skeptisches Verhältnis zur Literatur. Aber im Moment der Krise, als die Gangster im Haus sind, kommt die Rettung durch die Literatur, dadurch, dass die Tochter Henry Perownes ein Gedicht aus dem 19. Jahrhundert zitiert. Ist das nicht sehr unwahrscheinlich, diese Zähmung des Gangsters durch eine Gedichtrezitation?
McEwan : Wenn man diese Figur als Gangster auffasst, ja. Aber nicht, wenn man ihn als den Mann sieht, als der er bis dahin im Roman geschildert wird. Er leidet an einer Nervenkrankheit, an Huntington, und ich habe mir sehr viel Mühe mit seinen Stimmungsschwankungen gemacht, mit dem plötzlichen Wechsel von Freundlichkeit zu Aggression, von Freude zu Verzweiflung. Es geht nicht darum, dass ein Krimineller durch Poesie verwandelt wird. Es geht darum, dass ein Mann wie dieser Baxter, der schwer krank und wenig gebildet ist, dass auch ein solcher Mann in so einem Gedicht mehr sehen kann als Henry Perowne. Das Gedicht weckt seinen Lebenswillen, er wird nicht gezähmt, er will mehr Leben, wie wir alle.
Aber natürlich war diese Szene ein Risiko, mit der nackten jungen Frau, die schwanger ist und laut Matthew Arnold rezitiert. Für mich war das ein Vorklang des Endes, an dem Henry Perowne, der kein Christ ist, das Leben des Mannes rettet, der einen Anschlag auf seine Familie verübt hat. Und er rettet Baxter ja nicht nur, er stößt ihn auch zurück in die Hölle seiner Krankheit. Die Operation am Ende ist so etwas wie eine Parallele zum Prozess des Schreibens.
SZ : Von John Lennon gibt es die Zeilen „Imagine, theres no heaven, above us only sky . . .”. Er meinte das als freundliche Utopie einer Zukunft ohne Religion. Ich stelle mir vor, dass Ihr Held den Lennon-Song mag. Denn Henry Perowne ist ein Erbe des 19. Jahrhundert-Materialismus, die Religion ist für ihn Vergangenheit. In der aktuellen Weltgesellschaft aber ist die Religion nach wie vor ein dynamisches Element, keine absterbende Kraft.
McEwan : Ja, das ist sie, und ich finde es sehr problematisch, dass sie das ist. Und was können wir dagegen setzen? Ich möchte in „Saturday” den Gedanken nahe legen, dass es eine Weltanschauung gibt, die die Welt ehrfurchtgebietend, großartig und wunderbar findet, die aber vor allem glaubt, das sie beschrieben werden kann. Es gehört zu den Faszinosa unserer Zeit, intellektuell wie emotional, dass wir in unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben. Haben wir je ein anderes Gedankensystem erfunden, das sich selbst korrigieren kann, außer der Wissenschaft? Das ist eben das Problem mit den Religionen: sie korrigieren sich nicht selbst, sie sind nicht anpassungsfähig, sie haben ihre heiligen Texte. Sie sind überdies in vielem, was sie über die Welt sagen, falsche, unrichtige Beschreibungen der Welt. Sie beanspruchen einen Sonderstatus: weil sie Religionen sind, sollen wir ihnen ihre Irrtümer vergeben. Ich denke, wir sollten sie nach den Standards beurteilen, denen wir alle Aussagen über die Welt unterwerfen: Sind sie wahr oder falsch?
Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es auch ohne Religion. Ich wollte in Henry Perowne den Reichtum der materialistischen Weltanschauung darstellen, auch ihre Wärme - dass am Materialismus nichts „Kaltes” sein muss, wenn er sagt: Wir haben nun eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche oder islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein . . .
SZ : Es gibt also keinen Raum mehr für die Götter?
McEwan : Nein. Wir brauchen sie nicht. Es war immer ein falscher Anspruch der Religionen, zu behaupten, ohne sie gäbe es keine Moral. Aber inzwischen wissen wir genug über uns selbst, wir wissen, dass die Moral der Notwendigkeit entspringt, die uns zu sozialen Lebewesen macht, uns Konzepte von Gerechtigkeit, Fairness etc., abverlangt. Die Religionen mögen das kodifizieren.
SZ : In Ihrem Roman, dessen Held beim Operieren Johann Sebastian Bach hört, steht dort, wo früher die Religion stand, die Musik . . .
McEwan : Ja, die Musik, aber auch die Wissenschaft. Die Kunst generell kann uns so etwas wie Transzendenz geben. Es mag eine profane, säkulare Transzendenz sein, aber es ist eine.
Interview: Lothar Müller
Am Samstag, dem 15. Februar 2003, fand in London eine große Demonstration gegen den sich abzeichnenden Irak-Krieg statt (Bild oben). Der neue Roman „Saturday” des englischen Schriftstellers Ian McEwan spielt an diesem Samstag (SZ vom 22. Juli). In Berlin, wo der Autor dieser Tage seinen Roman vorgestellt hat, haben wir mit Ian McEwan gesprochen.
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»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern