Eine junge Frau reist 1930 wegen eines Lungenleidens von Paris ins Sanatorium von Hauteville. Dort findet sie ein Schreiben ihres Verlobten vor. Es ist ein Abschiedsbrief und darin steht: "Ich heirate ... Unsere Freundschaft bleibt." Die junge Frau versucht den Schock zu überwinden, indem sie auf die Zumutung antwortet - in einem Brief, der nie abgeschickt wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2005Gedanken im Seelenverlies
Marcelle Sauvageots exemplarische Abrechnung mit der Liebe
Dieser Text hat die Klarheit und Härte eines Kristalls. Der schöne deutsche Titel gibt ihm eine elegische Note. Die hat er nicht. "Lassen Sie mich", wie er in der französischen Neuauflage zuletzt hieß, ist bereits eine Interpretation. Schnörkellos richtig ist der Originaltitel von 1933: "Kommentar".
Denn die Schreibende, gerade in einem Lungensanatorium angekommen, kommentiert den Abschiedsbrief ihres Geliebten, den sie dort vorfindet. Ihr literarischer Kunstgriff besteht darin, den Brief nur in wenigen Sätzen zu zitieren, vor allem diesen: "Ich heirate ... Unsere Freundschaft bleibt." Schreibend tritt sie mit dem Mann in ein Gespräch, das keine Nähe trübt. Die Frauenklage wird zur Selbstbefragung: Was ist Liebe, was ist Freundschaft, wer war der Mann, wer bin ich, die dem Tod entgegengeht? Sie spottet über die bürgerliche Ehe, über die "mein Mann, mein Mann" zwitschernden Frauen, von denen sie umgeben ist. Mit einer Unbedingtheit, die dem Leser Respekt abnötigt, nimmt sie das Nicht-Haben an, befiehlt sich das Vergessen. Der Text endet mit einem Kuß, den sie am Ende eines Tanzabends einem anderen Mann gibt. Er ist kein Ausdruck von Liebe, sondern ein Zeichen der Befreiung.
Marcelle Sauvageots Test spielt in einem geschlossenen Raum, der nicht das Krankenzimmer ist, sondern ein Seelenverlies. Die Außenwelt dringt kaum herein in diese metaphysische Leere. Liebe bedeutet hier niemals Glut, geschweige denn Sex, sondern sie ist etwas Gedachtes. Mildernde Umstände billigt die Autorin weder dem Mann zu, der keinen Namen trägt, noch der Frau. Niemals streift sie der Gedanke, daß diese beiden vielleicht einfach nicht zusammenpassen noch daß dieser Mann eben, wie es in einem der Nachworte heißt, von "instinktiver, organischer Falschheit" sei. Bei Marcelle Sauvageot wird er zum Inbegriff des sich verweigernden Lebens. Nur junge Menschen ohne Lebens- und Liebeserfahrung sind eines so reinen, so trostlosen Rigorismus fähig.
Marcelle Sauvageot, geboren 1900, von Beruf Lehrerin, hat, als sie diese confessio niederschrieb, an keine Veröffentlichung gedacht. Der französische Kritiker Charles Du Bos entdeckte und publizierte sie mit Einwilligung der Verfasserin. Es ist ihr einziges Buch; sie starb 1934 in Davos. Ihr Journal intime, das in der Tradition der analytischen Bekenntnisliteratur Frankreichs steht, faszinierte Literaten wie Valéry und Claudel und erlebte in den dreißiger Jahren mehrere Auflagen. Auch in Deutschland erschien eine Übersetzung. Mais hélas, möchte man da ausrufen, aber ach: Die Schönheit des schmalen Textes ist im Deutschen schwer nachzuempfinden. Hier wirkt er streng und kahl (und das "Sie", mit dem die Frau den Mann anredet, skurril), während im Französischen, das zur Rhetorik neigt, die Kühle und Simplizität dieser Sätze klassische Erhabenheit ausstrahlen. So wird das schmale Bändchen hierzulande wohl nicht den Kultstatus erreichen, den es in Frankreich im vorigen Jahr erlangt hat.
RENATE SCHOSTACK
Marcelle Sauvageot: "Fast ganz die Deine". Mit einem Nachwort von Ulrike Draesner. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer. Verlag Nagel und Kimche, München und Wien 2005. 109 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcelle Sauvageots exemplarische Abrechnung mit der Liebe
Dieser Text hat die Klarheit und Härte eines Kristalls. Der schöne deutsche Titel gibt ihm eine elegische Note. Die hat er nicht. "Lassen Sie mich", wie er in der französischen Neuauflage zuletzt hieß, ist bereits eine Interpretation. Schnörkellos richtig ist der Originaltitel von 1933: "Kommentar".
Denn die Schreibende, gerade in einem Lungensanatorium angekommen, kommentiert den Abschiedsbrief ihres Geliebten, den sie dort vorfindet. Ihr literarischer Kunstgriff besteht darin, den Brief nur in wenigen Sätzen zu zitieren, vor allem diesen: "Ich heirate ... Unsere Freundschaft bleibt." Schreibend tritt sie mit dem Mann in ein Gespräch, das keine Nähe trübt. Die Frauenklage wird zur Selbstbefragung: Was ist Liebe, was ist Freundschaft, wer war der Mann, wer bin ich, die dem Tod entgegengeht? Sie spottet über die bürgerliche Ehe, über die "mein Mann, mein Mann" zwitschernden Frauen, von denen sie umgeben ist. Mit einer Unbedingtheit, die dem Leser Respekt abnötigt, nimmt sie das Nicht-Haben an, befiehlt sich das Vergessen. Der Text endet mit einem Kuß, den sie am Ende eines Tanzabends einem anderen Mann gibt. Er ist kein Ausdruck von Liebe, sondern ein Zeichen der Befreiung.
Marcelle Sauvageots Test spielt in einem geschlossenen Raum, der nicht das Krankenzimmer ist, sondern ein Seelenverlies. Die Außenwelt dringt kaum herein in diese metaphysische Leere. Liebe bedeutet hier niemals Glut, geschweige denn Sex, sondern sie ist etwas Gedachtes. Mildernde Umstände billigt die Autorin weder dem Mann zu, der keinen Namen trägt, noch der Frau. Niemals streift sie der Gedanke, daß diese beiden vielleicht einfach nicht zusammenpassen noch daß dieser Mann eben, wie es in einem der Nachworte heißt, von "instinktiver, organischer Falschheit" sei. Bei Marcelle Sauvageot wird er zum Inbegriff des sich verweigernden Lebens. Nur junge Menschen ohne Lebens- und Liebeserfahrung sind eines so reinen, so trostlosen Rigorismus fähig.
Marcelle Sauvageot, geboren 1900, von Beruf Lehrerin, hat, als sie diese confessio niederschrieb, an keine Veröffentlichung gedacht. Der französische Kritiker Charles Du Bos entdeckte und publizierte sie mit Einwilligung der Verfasserin. Es ist ihr einziges Buch; sie starb 1934 in Davos. Ihr Journal intime, das in der Tradition der analytischen Bekenntnisliteratur Frankreichs steht, faszinierte Literaten wie Valéry und Claudel und erlebte in den dreißiger Jahren mehrere Auflagen. Auch in Deutschland erschien eine Übersetzung. Mais hélas, möchte man da ausrufen, aber ach: Die Schönheit des schmalen Textes ist im Deutschen schwer nachzuempfinden. Hier wirkt er streng und kahl (und das "Sie", mit dem die Frau den Mann anredet, skurril), während im Französischen, das zur Rhetorik neigt, die Kühle und Simplizität dieser Sätze klassische Erhabenheit ausstrahlen. So wird das schmale Bändchen hierzulande wohl nicht den Kultstatus erreichen, den es in Frankreich im vorigen Jahr erlangt hat.
RENATE SCHOSTACK
Marcelle Sauvageot: "Fast ganz die Deine". Mit einem Nachwort von Ulrike Draesner. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer. Verlag Nagel und Kimche, München und Wien 2005. 109 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main