Produktdetails
- Verlag: München: Ehrenwirth
- ISBN-13: 9783431018127
- ISBN-10: 3431018122
- Artikelnr.: 24404488
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.11.2008Auch Sie ein Ebenbild Gottes!
Was ein bloß Einzelner in der Provinz vermag: Uwe Dicks eigensinnig-blühende „Sauwaldprosa”
Ein belletristisches Buch empfängt seine Unverwechselbarkeit, und das heißt seine Existenzberechtigung, aus der Persönlichkeit des Autors. Das gilt immer; aber bei anderen Büchern tritt aus dem Persönlichen dann ein Objektives zutage, der Plot, die Figuren, wie wenn ein Kind seine Familie verlässt und in die Welt hinausgeht. Darin ist „Sauwaldprosa” anders: Sie will nichts sein und bleiben als jenes Höchstpersönliche, wie ein Fingerabdruck; das macht Reiz, Rang und Gefahr solchen Schreibens aus.
Es handelt sich um das über Jahrzehnte fortgeschriebene Opus magnum Uwe Dicks. Immer wieder ist es in erweiterter und abgeänderter Form erschienen. Auf die Frage: „Herr Dick, woran arbeiten Sie gerade?” pflegt er zu antworten: „An mir”. Der Titel spricht den hier wirkenden Gestaltungswillen mit ungebärdiger Energie aus: Er besteht auf der engen regionalen Beschränkung – der Sauwald ist eine abgelegene Landschaft am Inn hinter Passau – , er nimmt sich das Recht zur Grobheit, und indem er sich weigert, etwas anderes zu nennen als seine allgemeinste Form, Prosa eben, macht er die Absicht deutlich, von schlechterdings allem zu handeln, ohne sich eine thematische Beschränkung gefallen zu lassen. Wie ein Wachtturm auf der Kuppe steht er da, bei schmaler Grundfläche weiten Blick in die Lande gewährend und stolz auf die Produktivität dieses Missverhältnisses.
Die Sprache, die solchem Vorsatz angemessen wäre, findet und erfindet Dick in einem rauzarten Bairisch, das sich von dem Gemütlichkeits- und Prestige-Bairisch der Landeshauptstadt, dem Beckenbauerschen Grüß-Gott- und Jo-Mei-Jargon so weit wie möglich entfernt hält, der „Geldstadt”, wie Dick mit Abschätzung sagt, wo „es in der L.-M.-Universität auffallend vielen bereits eine Pointe (war), aus des Professors Mund zu vernehmen, dass der lesende Gast aus - - - aha-ha-ha! sei”. Das schürt den Groll und weckt die Erinnerung, dass die besten deutschen Traditionen in der Provinz wurzeln, dort, wo sie am tiefsten erscheint. Im Zug seiner Radtouren durch die nähere Umgebung besucht Dick auch das alte Wohnhaus Alfred Kubins, der sich hierher zurückgezogen hatte, und trifft dort auf dessen Haushälterin Cilli Lindinger, die ihm erzählt, wie Kubin ihr seine Graphiken zeigte und erklärte. „Und auf amoi, sagt Cilli, und auf amoi bin i schaugert worn! – Dank und Erregung schwingen mit in ihren Sätzen.”
Es sind auch der Dank und die Erregung des Autors selbst, der es berichtet. Hier springt vom Bedingten und Partikularen, wie es sich im Dialekt ausdrückt und leicht auch den Weg ins Bornierte nehmen könnte, der Funke über ins Große und Hohe, und plötzlich wird es hell. Der Zündpunkt liegt in dem einen Wort „schaugert”, dem nun die Standardsprache wirklich nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Sie könnte höchstens davon sprechen, dass da jemandem die Augen aufgehen oder er das Sehen lernt, aber das wäre alles des Guten schon zu viel, es klänge pathetisch oder sentimental. Entscheidend ist, dass es der Haushälterin widerfährt, dass also ein Mensch, der bloß den guten Willen mitbringt und sonst nichts, das Schöne und Wahre genau so zu erkennen vermag wie der Würdenträger, der Bescheid weiß, und vielleicht besser. Durch das Verknorzte dieser Sprache scheint eine tiefe, zuversichtliche Menschenfreundlichkeit herauf.
Allerdings muss einer schon ein Mensch sein, um sich diese Freundlichkeit zu verdienen. Viele sehen auch nur so aus, oder nicht einmal das. „Mein A und O”, sagt Dick, und hier greift der Ernst zur Hochsprache als seinem angemessenen Vehikel, „ist der lebendige Einzelne. Und: Ich glaube nur noch, was ich persönlich erfahren habe.” Wobei das mit dem persönlichen Erfahren in der Heimat von Audi und BMW nicht immer erquicklich ist. Der Überzeugungsradfahrer Dick hat es täglich mit brutalen Rasern zu tun. Einer alten Frau, die seit einer Viertelstunde wartet, hilft er über die Straße, indem er eins der Autos zum Halten zwingt. Der Fahrer steigt aus.
„Opel. AÖ. Sulzkopf. Mittfünfziger. Rote Stirnflecken. Pumpt. Schwitzt, weil er noch nicht loslegen kann. Anzug von der Stange. Quellwampe, nicht wegzuknöpfen. Stemmt die Hand in die Hüfte, drückt die Scheißwut aus dem Gekröse: Sie do! An Vakäah aufhoitn, do! Saan Sie need ganz dicht, ha?! Is dees a Bundesstroß odara Kurpromenadn, sagnSamoi, Siedo!
Mit dem mach ichs kurz, fünfzehn Meter auf ihn zugestürmt, als wolle ich ihn übern Haufen rennen (geht bereits in Abwehrstellung, strengt sich an, nicht unsicher zu wirken), dann gach gestoppt, ein fragendes, Gesicht lesendes Innehalten, und jubelnd in das so spielerisch erwirkte Maulauf: Jawohl, auch Sie! Kaum zu glauben, aber auch Sie! Zwei- dreimal ihn umkreisend (sein Gschwoikopf schafft kaum ein Viertel der Drehung): Wie müssen Sie sich glücklich schätzen! (Festlich, gratulierend:) Auch Sie – auch Siiie!!
Und da ist es, sein mechanisches: Iii? – Wos?
Auch Sie ein Ebenbild Gottes! Und lachend leichthin zum Fahrrad, aufgesessen, ab.”
Das ist eine wunderbare Szene, in ihrer dramatischen Gestaltung ebenso wie in der moralischen Genugtuung, die sie spendet. Aber ganz froh wird man dieses lachenden Abgangs dennoch nicht. Denn es lacht hier nur einer; und der andere, der für die Vielen steht, bleibt noch nicht einmal wütend, sondern bloß verdattert zurück. Das Lachen des Einzelnen stellt, unabhängig davon, wie berechtigt es ist, immer ein bedenkliches Indiz dar, bedenklich für ihn wie für die Sozietät überhaupt. Da gelingt es nicht mehr, wie es in der Komödie geschieht, eine Gesamtheit für das Rechte zu mobilisieren, um die lasterhafte Abweichung durch Lächerlichkeit zu töten, sondern es liegt darin etwas, das den Weg in Vergeblichkeit, Isolation, zuletzt den Wahnsinn zu nehmen droht. Auch wenn er kraft seines beherzten Charakters hier einen kleinen Triumph feiert: Man beginnt um diesen Einzelnen in seiner kategorialen Schwäche zu bangen, als Autor und als Mensch.
Der Radfahrer, wehrlos, inmitten gedanken- und rücksichtsloser Autofahrer: Er gibt ein Symbol für den Ort dieses Schreibens überhaupt ab. Sein vorwaltender Affekt muss der Zorn werden. Unter allen Affekten ist dieser, wegen des hohen energetischen Aufwands, den er erfordert, für einen Schriftsteller am schwierigsten zu handhaben. Wo er seine Mittel nicht mit der größten Ökonomie einsetzt, verläppert er in die Ohnmacht des Schimpfens, eine Gefahr, die bei österreichischen und österreichnahen Autoren (der Sauwald grenzt an) besonders groß ist. Dass die anderen statt eines Antlitzes bloß „Fiesagen” hätten, tut seine Wirkung vielleicht einmal, aber fünf- oder sechsmal bestimmt nicht. „Und die meisten lassen sich’s gefallen, knechtselig, denkfaul, Rülps statt Wort, Grunz statt Nein zu Tod und Phrase. Warum auch?, glorksen sie, das Wasserklosett, die Kühlbox und die Mattscheibe sind ihnen doch garantiert.” Dieser Hieb trifft nicht, weil der, der ihn führt, keine klare Vorstellung davon hat, wo der Feind steht. Hier werden die methodischen Grenzen ersichtlich, wenn jemand sich auf das beschränkt, was er selbst erfährt: Er erfährt seine Wut, aber Wut macht leicht auch blind.
Dick beruft sich auf die hundertjährige Phrasenkritik von Karl Kraus, aber er hält nicht inne, um zu bedenken, wie man dieses Messer nachschärfen müsste, damit es auch die aktuellen Zustände schneidet. Das Feuilleton, von dem er ignoriert wird, heißt ihm „Pfuilleton”, bedient wird es von „Journullisten”. „Dem Dichter schwants, dem Journalisten entets.” Speziell gegen das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hegt er den Ingrimm des Verschwörungstheoretikers, ohne jedoch zu wissen, wie diese Einrichtung faktisch funktioniert, welche Grade von individueller Freiheit, personalem Wechsel und schierer institutioneller Vergesslichkeit hier statthaben – wohl kaum ein Mitarbeiter, der anzugeben wüsste, was es doch gleich war, das Dick einmal so verärgert hat. Das mag man als die Flatterhaftigkeit des Tagesgeschäfts beklagen, es hat aber doch den Vorteil, dass ein neuer Anfang immer möglich ist.
Es ist hier nicht überflüssig, anzumerken, dass der Rezensent, der den Namen Uwe Dicks noch nie gehört hatte, die „Sauwaldprosa” ohne jeglichen Kommentar von der Redaktion geschickt bekam und erst während der Lektüre zu stutzen begann: Mich kann der doch wohl nicht gemeint haben? Und so möge es Uwe Dick auch nicht als grundhafte Feindseligkeit auslegen, wenn man ihm zum Beispiel einwendet, in der Forderung, „Zivilcourage” zum Pflichtfach in den Schulen zu machen, stecke ein formaler Widerspruch: Denn diese Tugend könne sich immer nur in Auseinandersetzung mit der herrschenden Macht bewähren, niemand aber als die herrschende Macht habe die Möglichkeit, Lehrpläne festzulegen. (In Sachsen sind die Lehrer tatsächlich gehalten, die Zivilcourage ihrer Schüler bei der „Kopfnote” zu berücksichtigen. Man denke sich, wie hier die Praxis der Notengebung aussieht!)
Doch man lege Dick nicht auf seine Widersprüche fest. Nicht nur weil Widerspruchsfreiheit in der Literatur generell kein hochrangiges Gut bedeutet, sondern vor allem, weil es die Widersprüche der Welt sind, die er so überaus scharf spürt, dass er sie zu den seinen macht. Der Dialekt taugt als die Sprache der feinsten humanen Delikatesse wie als Hinterhalt der dumpfesten Niedertracht, der Weg vom A und O des lebendigen Einzelnen zum AÖ auf dem Nummernschild des Altöttinger Opelfahrers gestaltet sich oft erschreckend kurz. „Ist es in diesem letzten Ekel verwunderlich, dass du dich freust, wenn im Herbst die jungen Schwalben zahlreich überm Garten zwitschern, dass du aber schluckst, zur Seite schaust, wo eine Menschenmutter ihr kopflastiges Glück daherschiebt, das nach tausend Wochen vermutlich doch wieder nur zum Polizeioberinspektor, zum Haarwasserfabrikanten oder zum germanistischen Eunuch mutiert.” Dick grübelt nach, mit welchem Recht er einst eine junge Drossel vor einer Katze rettete. „Dem Vogel gönnst du das Würmchen, der Katze den Vogel nicht.” Er zerhaut den unlösbaren Knoten mit dem Schrei: „Verdammtes Fressenmüssen!”
Es muss Uwe Dick mit besonderer Freude erfüllt haben, dass er vor einiger Zeit den Jean-Paul-Preis gewonnen hat. Jean Paul, zusammen mit Karl Kraus und Arno Schmidt, ehrt er als seinen Gewährsmann, der ihm die Tradition des Einzelnen verbürgt. Zum Schluss des sechshundert Seiten starken Buchs entlehnt er dem „Titan” die Figur des Hofmeisters Schoppe, dessen Humanismus mit den Zügen eines grimmigen Humors auftritt. „Wer da? Schoppe? Ja. Der Apfel der Erkenntnis traf ihn hart.” An seiner Seite geht der furchtbare Wolfshund Mordian; an kurzer Leine muss er ihn halten, wenn er in die U-Bahn steigt. Der Hund reißt sich doch los und greift einen Passanten an. Aber es erweist sich, dass dieser Passant niemand anders war als der Knochenmann persönlich.
„Wem hat der Wanker aufgelauert hier? Sense! Brav, Mordian, brav. Kehre, kehre! Ha, zascht und zergelt, schlenzt und wrangelt ihn ab, dass die Glieder schirbeln, Kongorr, schurrt der Schädel ab. Plonk, aufs Gleis. Wang, prallt der Brustkorb gegen die Werbewand. Rakkerdiklakker, regnets Finger, Ellen, Speichen. Wurachen, Janken. Pfnechen. Beide Pfoten jetzt auf einem Schenkelknochen. Knartsch – knartsch.”
Den Aufstand gegen den Tod imaginiert Uwe Dick als einen physischen Gewaltakt, das entspricht seinem Temperament. Er ist gewiss das, was Goethe nennt: den Narren auf eigene Faust. Den Narren glaubt man ihm aufs Wort; die Faust auch.BURKHARD MÜLLER
UWE DICK: Sauwaldprosa. Residenz Verlag, Salzburg 2008. 587 Seiten, 24,90 Euro.
Die besten deutschen Traditionen wurzeln in der Provinz, dort, wo sie am tiefsten erscheint.
Durch das Verknorzte dieser Sprache scheint eine tiefe Menschenfreundlichkeit herauf.
Er ist gewiss das, was Goethe nennt: den Narren auf eigene Faust.
Fernab der Landeshauptstadt und ihrem Prestige-Bairisch findet Uwe Dick im Sauwald nahe Passau seinen ureigenen Prosa-Dialekt Foto: Wikipedia
„Herr Dick, woran arbeiten Sie gerade?” „An mir”. Foto: Peter Schlanke, ASKU - Presse
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Was ein bloß Einzelner in der Provinz vermag: Uwe Dicks eigensinnig-blühende „Sauwaldprosa”
Ein belletristisches Buch empfängt seine Unverwechselbarkeit, und das heißt seine Existenzberechtigung, aus der Persönlichkeit des Autors. Das gilt immer; aber bei anderen Büchern tritt aus dem Persönlichen dann ein Objektives zutage, der Plot, die Figuren, wie wenn ein Kind seine Familie verlässt und in die Welt hinausgeht. Darin ist „Sauwaldprosa” anders: Sie will nichts sein und bleiben als jenes Höchstpersönliche, wie ein Fingerabdruck; das macht Reiz, Rang und Gefahr solchen Schreibens aus.
Es handelt sich um das über Jahrzehnte fortgeschriebene Opus magnum Uwe Dicks. Immer wieder ist es in erweiterter und abgeänderter Form erschienen. Auf die Frage: „Herr Dick, woran arbeiten Sie gerade?” pflegt er zu antworten: „An mir”. Der Titel spricht den hier wirkenden Gestaltungswillen mit ungebärdiger Energie aus: Er besteht auf der engen regionalen Beschränkung – der Sauwald ist eine abgelegene Landschaft am Inn hinter Passau – , er nimmt sich das Recht zur Grobheit, und indem er sich weigert, etwas anderes zu nennen als seine allgemeinste Form, Prosa eben, macht er die Absicht deutlich, von schlechterdings allem zu handeln, ohne sich eine thematische Beschränkung gefallen zu lassen. Wie ein Wachtturm auf der Kuppe steht er da, bei schmaler Grundfläche weiten Blick in die Lande gewährend und stolz auf die Produktivität dieses Missverhältnisses.
Die Sprache, die solchem Vorsatz angemessen wäre, findet und erfindet Dick in einem rauzarten Bairisch, das sich von dem Gemütlichkeits- und Prestige-Bairisch der Landeshauptstadt, dem Beckenbauerschen Grüß-Gott- und Jo-Mei-Jargon so weit wie möglich entfernt hält, der „Geldstadt”, wie Dick mit Abschätzung sagt, wo „es in der L.-M.-Universität auffallend vielen bereits eine Pointe (war), aus des Professors Mund zu vernehmen, dass der lesende Gast aus - - - aha-ha-ha! sei”. Das schürt den Groll und weckt die Erinnerung, dass die besten deutschen Traditionen in der Provinz wurzeln, dort, wo sie am tiefsten erscheint. Im Zug seiner Radtouren durch die nähere Umgebung besucht Dick auch das alte Wohnhaus Alfred Kubins, der sich hierher zurückgezogen hatte, und trifft dort auf dessen Haushälterin Cilli Lindinger, die ihm erzählt, wie Kubin ihr seine Graphiken zeigte und erklärte. „Und auf amoi, sagt Cilli, und auf amoi bin i schaugert worn! – Dank und Erregung schwingen mit in ihren Sätzen.”
Es sind auch der Dank und die Erregung des Autors selbst, der es berichtet. Hier springt vom Bedingten und Partikularen, wie es sich im Dialekt ausdrückt und leicht auch den Weg ins Bornierte nehmen könnte, der Funke über ins Große und Hohe, und plötzlich wird es hell. Der Zündpunkt liegt in dem einen Wort „schaugert”, dem nun die Standardsprache wirklich nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Sie könnte höchstens davon sprechen, dass da jemandem die Augen aufgehen oder er das Sehen lernt, aber das wäre alles des Guten schon zu viel, es klänge pathetisch oder sentimental. Entscheidend ist, dass es der Haushälterin widerfährt, dass also ein Mensch, der bloß den guten Willen mitbringt und sonst nichts, das Schöne und Wahre genau so zu erkennen vermag wie der Würdenträger, der Bescheid weiß, und vielleicht besser. Durch das Verknorzte dieser Sprache scheint eine tiefe, zuversichtliche Menschenfreundlichkeit herauf.
Allerdings muss einer schon ein Mensch sein, um sich diese Freundlichkeit zu verdienen. Viele sehen auch nur so aus, oder nicht einmal das. „Mein A und O”, sagt Dick, und hier greift der Ernst zur Hochsprache als seinem angemessenen Vehikel, „ist der lebendige Einzelne. Und: Ich glaube nur noch, was ich persönlich erfahren habe.” Wobei das mit dem persönlichen Erfahren in der Heimat von Audi und BMW nicht immer erquicklich ist. Der Überzeugungsradfahrer Dick hat es täglich mit brutalen Rasern zu tun. Einer alten Frau, die seit einer Viertelstunde wartet, hilft er über die Straße, indem er eins der Autos zum Halten zwingt. Der Fahrer steigt aus.
„Opel. AÖ. Sulzkopf. Mittfünfziger. Rote Stirnflecken. Pumpt. Schwitzt, weil er noch nicht loslegen kann. Anzug von der Stange. Quellwampe, nicht wegzuknöpfen. Stemmt die Hand in die Hüfte, drückt die Scheißwut aus dem Gekröse: Sie do! An Vakäah aufhoitn, do! Saan Sie need ganz dicht, ha?! Is dees a Bundesstroß odara Kurpromenadn, sagnSamoi, Siedo!
Mit dem mach ichs kurz, fünfzehn Meter auf ihn zugestürmt, als wolle ich ihn übern Haufen rennen (geht bereits in Abwehrstellung, strengt sich an, nicht unsicher zu wirken), dann gach gestoppt, ein fragendes, Gesicht lesendes Innehalten, und jubelnd in das so spielerisch erwirkte Maulauf: Jawohl, auch Sie! Kaum zu glauben, aber auch Sie! Zwei- dreimal ihn umkreisend (sein Gschwoikopf schafft kaum ein Viertel der Drehung): Wie müssen Sie sich glücklich schätzen! (Festlich, gratulierend:) Auch Sie – auch Siiie!!
Und da ist es, sein mechanisches: Iii? – Wos?
Auch Sie ein Ebenbild Gottes! Und lachend leichthin zum Fahrrad, aufgesessen, ab.”
Das ist eine wunderbare Szene, in ihrer dramatischen Gestaltung ebenso wie in der moralischen Genugtuung, die sie spendet. Aber ganz froh wird man dieses lachenden Abgangs dennoch nicht. Denn es lacht hier nur einer; und der andere, der für die Vielen steht, bleibt noch nicht einmal wütend, sondern bloß verdattert zurück. Das Lachen des Einzelnen stellt, unabhängig davon, wie berechtigt es ist, immer ein bedenkliches Indiz dar, bedenklich für ihn wie für die Sozietät überhaupt. Da gelingt es nicht mehr, wie es in der Komödie geschieht, eine Gesamtheit für das Rechte zu mobilisieren, um die lasterhafte Abweichung durch Lächerlichkeit zu töten, sondern es liegt darin etwas, das den Weg in Vergeblichkeit, Isolation, zuletzt den Wahnsinn zu nehmen droht. Auch wenn er kraft seines beherzten Charakters hier einen kleinen Triumph feiert: Man beginnt um diesen Einzelnen in seiner kategorialen Schwäche zu bangen, als Autor und als Mensch.
Der Radfahrer, wehrlos, inmitten gedanken- und rücksichtsloser Autofahrer: Er gibt ein Symbol für den Ort dieses Schreibens überhaupt ab. Sein vorwaltender Affekt muss der Zorn werden. Unter allen Affekten ist dieser, wegen des hohen energetischen Aufwands, den er erfordert, für einen Schriftsteller am schwierigsten zu handhaben. Wo er seine Mittel nicht mit der größten Ökonomie einsetzt, verläppert er in die Ohnmacht des Schimpfens, eine Gefahr, die bei österreichischen und österreichnahen Autoren (der Sauwald grenzt an) besonders groß ist. Dass die anderen statt eines Antlitzes bloß „Fiesagen” hätten, tut seine Wirkung vielleicht einmal, aber fünf- oder sechsmal bestimmt nicht. „Und die meisten lassen sich’s gefallen, knechtselig, denkfaul, Rülps statt Wort, Grunz statt Nein zu Tod und Phrase. Warum auch?, glorksen sie, das Wasserklosett, die Kühlbox und die Mattscheibe sind ihnen doch garantiert.” Dieser Hieb trifft nicht, weil der, der ihn führt, keine klare Vorstellung davon hat, wo der Feind steht. Hier werden die methodischen Grenzen ersichtlich, wenn jemand sich auf das beschränkt, was er selbst erfährt: Er erfährt seine Wut, aber Wut macht leicht auch blind.
Dick beruft sich auf die hundertjährige Phrasenkritik von Karl Kraus, aber er hält nicht inne, um zu bedenken, wie man dieses Messer nachschärfen müsste, damit es auch die aktuellen Zustände schneidet. Das Feuilleton, von dem er ignoriert wird, heißt ihm „Pfuilleton”, bedient wird es von „Journullisten”. „Dem Dichter schwants, dem Journalisten entets.” Speziell gegen das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hegt er den Ingrimm des Verschwörungstheoretikers, ohne jedoch zu wissen, wie diese Einrichtung faktisch funktioniert, welche Grade von individueller Freiheit, personalem Wechsel und schierer institutioneller Vergesslichkeit hier statthaben – wohl kaum ein Mitarbeiter, der anzugeben wüsste, was es doch gleich war, das Dick einmal so verärgert hat. Das mag man als die Flatterhaftigkeit des Tagesgeschäfts beklagen, es hat aber doch den Vorteil, dass ein neuer Anfang immer möglich ist.
Es ist hier nicht überflüssig, anzumerken, dass der Rezensent, der den Namen Uwe Dicks noch nie gehört hatte, die „Sauwaldprosa” ohne jeglichen Kommentar von der Redaktion geschickt bekam und erst während der Lektüre zu stutzen begann: Mich kann der doch wohl nicht gemeint haben? Und so möge es Uwe Dick auch nicht als grundhafte Feindseligkeit auslegen, wenn man ihm zum Beispiel einwendet, in der Forderung, „Zivilcourage” zum Pflichtfach in den Schulen zu machen, stecke ein formaler Widerspruch: Denn diese Tugend könne sich immer nur in Auseinandersetzung mit der herrschenden Macht bewähren, niemand aber als die herrschende Macht habe die Möglichkeit, Lehrpläne festzulegen. (In Sachsen sind die Lehrer tatsächlich gehalten, die Zivilcourage ihrer Schüler bei der „Kopfnote” zu berücksichtigen. Man denke sich, wie hier die Praxis der Notengebung aussieht!)
Doch man lege Dick nicht auf seine Widersprüche fest. Nicht nur weil Widerspruchsfreiheit in der Literatur generell kein hochrangiges Gut bedeutet, sondern vor allem, weil es die Widersprüche der Welt sind, die er so überaus scharf spürt, dass er sie zu den seinen macht. Der Dialekt taugt als die Sprache der feinsten humanen Delikatesse wie als Hinterhalt der dumpfesten Niedertracht, der Weg vom A und O des lebendigen Einzelnen zum AÖ auf dem Nummernschild des Altöttinger Opelfahrers gestaltet sich oft erschreckend kurz. „Ist es in diesem letzten Ekel verwunderlich, dass du dich freust, wenn im Herbst die jungen Schwalben zahlreich überm Garten zwitschern, dass du aber schluckst, zur Seite schaust, wo eine Menschenmutter ihr kopflastiges Glück daherschiebt, das nach tausend Wochen vermutlich doch wieder nur zum Polizeioberinspektor, zum Haarwasserfabrikanten oder zum germanistischen Eunuch mutiert.” Dick grübelt nach, mit welchem Recht er einst eine junge Drossel vor einer Katze rettete. „Dem Vogel gönnst du das Würmchen, der Katze den Vogel nicht.” Er zerhaut den unlösbaren Knoten mit dem Schrei: „Verdammtes Fressenmüssen!”
Es muss Uwe Dick mit besonderer Freude erfüllt haben, dass er vor einiger Zeit den Jean-Paul-Preis gewonnen hat. Jean Paul, zusammen mit Karl Kraus und Arno Schmidt, ehrt er als seinen Gewährsmann, der ihm die Tradition des Einzelnen verbürgt. Zum Schluss des sechshundert Seiten starken Buchs entlehnt er dem „Titan” die Figur des Hofmeisters Schoppe, dessen Humanismus mit den Zügen eines grimmigen Humors auftritt. „Wer da? Schoppe? Ja. Der Apfel der Erkenntnis traf ihn hart.” An seiner Seite geht der furchtbare Wolfshund Mordian; an kurzer Leine muss er ihn halten, wenn er in die U-Bahn steigt. Der Hund reißt sich doch los und greift einen Passanten an. Aber es erweist sich, dass dieser Passant niemand anders war als der Knochenmann persönlich.
„Wem hat der Wanker aufgelauert hier? Sense! Brav, Mordian, brav. Kehre, kehre! Ha, zascht und zergelt, schlenzt und wrangelt ihn ab, dass die Glieder schirbeln, Kongorr, schurrt der Schädel ab. Plonk, aufs Gleis. Wang, prallt der Brustkorb gegen die Werbewand. Rakkerdiklakker, regnets Finger, Ellen, Speichen. Wurachen, Janken. Pfnechen. Beide Pfoten jetzt auf einem Schenkelknochen. Knartsch – knartsch.”
Den Aufstand gegen den Tod imaginiert Uwe Dick als einen physischen Gewaltakt, das entspricht seinem Temperament. Er ist gewiss das, was Goethe nennt: den Narren auf eigene Faust. Den Narren glaubt man ihm aufs Wort; die Faust auch.BURKHARD MÜLLER
UWE DICK: Sauwaldprosa. Residenz Verlag, Salzburg 2008. 587 Seiten, 24,90 Euro.
Die besten deutschen Traditionen wurzeln in der Provinz, dort, wo sie am tiefsten erscheint.
Durch das Verknorzte dieser Sprache scheint eine tiefe Menschenfreundlichkeit herauf.
Er ist gewiss das, was Goethe nennt: den Narren auf eigene Faust.
Fernab der Landeshauptstadt und ihrem Prestige-Bairisch findet Uwe Dick im Sauwald nahe Passau seinen ureigenen Prosa-Dialekt Foto: Wikipedia
„Herr Dick, woran arbeiten Sie gerade?” „An mir”. Foto: Peter Schlanke, ASKU - Presse
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2022IndoEuroBairischer Triumph
Bindemittel in diesem Buch ist der kategorische Imperativ genauer Sprache: Uwe Dicks legendäre "Sauwaldprosa" in ihrer letztgültigen Fassung.
Das Werk des Dichters Uwe Dick ist in der deutschsprachigen Literatur von solitärem Rang. Seine Gedichte, Prosa und szenischen Monologe, vorliegend in einer Vielzahl von Büchern und Tonträgern, sind Gedanken- und Sprachkunst gleichermaßen, komplex in ihrer ästhetischen Erscheinungsweise, von sinnlicher Schönheit und formalem Raffinement. Aphoristik und epigrammatische Kürze sind für seine Spracharbeiten ebenso charakteristisch wie lyrische Groß- und prosaische Mischformen. Stellvertretend seien hier genannt "des blickes tagnacht. gedichte 1969- 2001", "Pochwasser - Eine Biographie ohne Ich" und die Einmann-Theaterstücke "Der Öd" und "Monolog eines Radfahrers". In Uwe Dicks thematischen und motivischen Kompositionen, deren intertextuelles Netz Jahrhunderte und Kontinente umspannt, finden die Dichtungen Bella Achmadulinas, Jean Pauls, Andrea Zanzottos oder der russischen Moderne ebenso Nachhall wie die Vorstellungswelten von Schamanismus und Volksglauben oder zum Beispiel die Mythen und Sagen Asiens und des Mittleren Ostens: Historisches Bewusstsein heißt für Uwe Dick, die eurozentrische Perspektive zu öffnen.
Seine Dichtung ist sprachanalytisch, Sprachkritik ist für ihn immer auch Gesellschaftskritik: "Wir sind, wie wir sprechen." Dabei lässt sich die Frage nach dem Ich für Uwe Dick nur im gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang stellen.
Seine Kunst metaphorischer Sinnstiftung, des poetischen Bildes, der Reflexion und des Fabulierens, aber auch der engagierten, anspielungsreichen Philippika gipfelt in einem Buch, das zur Weltliteratur im mehrfachen Sinne des Wortes gehört: der "Sauwaldprosa", die welthaltig ist und zugleich auch ästhetisch von internationaler Relevanz. Ihre Vielsprachigkeit, Uwe Dick nennt sie "IndoEuroBairisch", macht die "Sauwaldprosa" als Klangkörper erfahrbar - sie speist sich unter anderem aus dem Alemannischen, Bairischen, Berlinerischen, Hoch-, Mittel- und Spätmittelhochdeutschen, Niederdeutschen und Schwäbischen sowie aus dem Englischen, Griechischen, Lateinischen und dem Sanskrit. Onomatopoetische Wortneuschöpfungen schließen semantische Lücken.
Mit der 1976 veröffentlichten "ersten Sauwaldiana" beginnt dieses Lebensprojekt; nach 46 Jahren erscheint das work in progress nun, wenige Monate vor Dicks achtzigstem Geburtstag, im Wallstein Verlag als siebte Fortschrift in seiner finalen Fassung - ein literarisches Ereignis.
"Drobm überm unterm Inn, südlich der Nibelungenstraße also, nördlich der Sonnentore, dort ist mein Arkadien, der Sauwald", zeichnet der mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs seiende Ich-Erzähler den topographischen Grundriss einer Gegend zwischen Passau, Kopfing und Schärding im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet, deren sprichwörtliche Erfahrung sich "kraft innerer Gesichte" alsbald zur "Sauwald-Odyssee" steigert, dem "Sauwaldspuk am hellichten Tage": Der "Sauwald", den, wenn man nach ihm fragt, niemand kennt, auch die nicht, die doch - topographisch gesichert - von ihm umgeben sind, ist immer "woanders". Die "Odyssee" gipfelt in der "großen Passauer Sauwaldkadenz" eines "Solisten" am Biergarten-Nebentisch, dessen "Sauwald"-Vision deutliche Affinitäten zu den Prophezeiungen des Mühlhiasls, eines aus dem niederbayerischen Wald stammenden Sehers, und dem Weltengericht im Muspilli aufweist: Dieser "Sauwald", für den so klangvolle, real existierende Ortschaften wie Frauentodling, Höll, Muckenwinkl, Flohleitn oder Kobeln stehen, weitet und verwandelt sich, quasi-dialektisch, zu "Seelen-Landschaften", das "seltsam traumhafte Spiel der sogenannten Wirklichkeit" vermischt sich - erzählstrategisch durch eine Überblendtechnik zum Ausdruck kommend - mit den Realitäten des Vorgestellten, Erinnerten.
"Dem 'Leben als Betrieb' entflohen, trenne ich längst nicht mehr zwischen Drinnen und Draußen", bekennt der Ich-Erzähler als "Sauwaldläufer". Seine Maxime ist es, ganz dem Augenblick zu leben, denn so kulminiert "das ganze Werden in mir", "einem Kollektiv von Personen verschiedenster Jahrhunderte". Landschaftsskizzierungen sind eng verbunden mit einer Genealogie verwandter Seelen, deren Porträts zugleich Hommage an ihre Lebenshaltung sind. Der Leser begegnet zum Beispiel dem "Sprachkünstler" Richard Billinger, "nicht totzuschweigender Dichter des Inn", der dem Erzähler "eine Enzyklopädie Innviertler Lebens" erschloss; er lernt den listigen Gustl von Töging und "Sepp Selbertinger zu Selberting" kennen, den Erfinder des "Faulwasserkopfreaktors"; er sieht lesend die Bilder von Rudi Englberger und Toni Waim und erlebt, wie der "Sauwald"-Münchhausen "Wusch" frei "die Bilder seines Lebens" reiht.
Aufschlussreich für die andere Seite, die innere Dimension des "Sauwalds", ist der Bericht des Erzählers von seinem Besuch im Kubin-Haus. Ausgelöst von der "Dramatik des Verborgenen" der Bilder Kubins, des "Magiers von Zwickledt" und "Visionärs der Traumstadt Perle", folgt der Leser dem Abtauchen in den "Traumsee", Bilderstürze bedrohen das Erzählen: Dieses "Sauwald"-Arkadien, das Kubin'sche (Schatten-)Reich der Phantasie, zeigt sich schließlich als (er-)lebbare Gegenwelt zum "bilderlosen Dasein". So ist die "Sauwaldprosa" das "Fahrtenbuch" eines Erzählers, "der den Sauwald gerade erst staunend entdeckt", auch in sich und anderen, ein ethnographisch-poetischer Kompass nicht nur für den janusköpfigen "Sauwald", sondern für die zivilisatorische Conditio humana.
Ein Selbstporträt des Erzählers beziehungsweise Autors findet sich im langen "Pochwasser"-Finale der "Sauwaldprosa": "Verwandlungen! Ihnen lebt er: Holzhacker, Archaischer Surrealist, Seelsorger, Kleinbauer, Arroganzheitsdenker, Staatsfeind . . ." In Vorbereitung eines anderntags stattfindenden Soloauftritts gerät er über dem abendlichen Studium einer Speisekarte ("Schlachtschüssel", "Kesselfleisch", "Schwaaß", "Metzelsuppe") in eine assoziative Drift innerer Hall- und Sehräume, die ihm unbewusste, aber auch hellwache Erinnerungen an die Kindheit und Schulzeit im Internat sowie Albträume beschert. In diesem Buch im Buch ist auch eine lebenspragmatische und literarische Programmatik formuliert: "Wechseln - zwischen den Schreib- und Redeweisen. Auf der Suche nach einer Moderne des Unversöhnlichen. Auf der Suche nach einer unmöglichen Literatur."
Formal gesehen ist die "Sauwaldprosa" ein Hybrid aus Prosa, Gedichten, Szenischem, Märchen, Aphorismen, Essayistischem, Briefen, Reisebuch, Reportagen, Traumnotaten und Fußnoten. Sie ist Prosa und kommentierende Prosa der Prosa, Poesie und reflektierende Poesie der Poesie, insofern also eine die Gattungen vermischende Dichtung im Sinne der romantischen Ästhetik von Novalis und Friedrich Schlegel. Ihr Realitätsgehalt erreicht einen Sättigungsgrad, von dem manche realistische Fiktion nur träumen kann. Nicht zuletzt kann die "Sauwaldprosa" auch als Anthologie gelesen werden, versammelt sie doch, thematisch und motivisch eingebunden, nicht nur Zitate etwa von Johann Fischart, Ilse Aichinger oder Alexander Wwedenskij, sondern neben eigenen Gedichten Uwe Dicks auch solche unter anderem von Melvin B. Tolson oder Ezra Pound, dessen Usura-Canto XLV die "Sauwaldprosa" in der Übersetzung ins Deutsche von Eva Hesse und ins Pusterische, den Dialekt des Südtiroler Pustatals, von Pounds Enkel Siegfried de Rachewiltz präsentiert. Neben dem Programm der "Deckung von Sprache und Leben" - "Bin ich eins: Wort und Wesen? Dann wäre ich meiner Weltformel nahe und lebte, indem ich schreibe, was ich lebe" - ist der Pound'sche Usura-Komplex für die "Sauwaldprosa" von zentraler Bedeutung, die eine Kampfschrift ist gegen Selbstbetrug, Dummheit und Dünkel, gegen bigotten Katholizismus, Tierquälerei, Naturzerstörung und "wirtschaftsfaschistischen" Wucher.
Wie hat Uwe Dick diese 666 (!) Doppelspalten-Seiten der sauwaldlichen Letztfassung bei aller Vielfalt ihrer Gattungen und Schreibweisen formal und inhaltlich managen können? Durch eine stete Entsprechung von Form und Inhalt. Dem ABCdarius als Makroordnung sekundiert eine rhizomatische Ordnungsstruktur mit ihren assoziativ-gedanklichen Verbindungen der vielen von Dick in der "Sauwaldprosa" behandelten Gebiete und Themen, thematische Stichworte in der Kopfzeile einer jeden Seite firmieren als Headline oder Slogan, senkrecht gestellte Jahreszahlen am Seitenrand orientieren über das Entstehungsjahr der Passage. Bindemittel ist der kategorische Imperativ genauer Sprache.
Der finalen Fassung der "Sauwaldprosa", vom Wallstein Verlag buchkünstlerisch aufs Feinste orchestriert - als großformatige Textpartitur in lesbarer Schriftgröße auf bestem Papier und mit Lesezeichen -, sind viele virtuose Leser zu wünschen: Sie läsen ein immer wieder neu zu lesendes Lebensbuch voller tiefem Ernst und hoher Komik. MICHAEL LENTZ
Uwe Dick: "Sauwaldprosa".
Wallstein Verlag. Göttingen 2022. 666 S., geb., 50,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bindemittel in diesem Buch ist der kategorische Imperativ genauer Sprache: Uwe Dicks legendäre "Sauwaldprosa" in ihrer letztgültigen Fassung.
Das Werk des Dichters Uwe Dick ist in der deutschsprachigen Literatur von solitärem Rang. Seine Gedichte, Prosa und szenischen Monologe, vorliegend in einer Vielzahl von Büchern und Tonträgern, sind Gedanken- und Sprachkunst gleichermaßen, komplex in ihrer ästhetischen Erscheinungsweise, von sinnlicher Schönheit und formalem Raffinement. Aphoristik und epigrammatische Kürze sind für seine Spracharbeiten ebenso charakteristisch wie lyrische Groß- und prosaische Mischformen. Stellvertretend seien hier genannt "des blickes tagnacht. gedichte 1969- 2001", "Pochwasser - Eine Biographie ohne Ich" und die Einmann-Theaterstücke "Der Öd" und "Monolog eines Radfahrers". In Uwe Dicks thematischen und motivischen Kompositionen, deren intertextuelles Netz Jahrhunderte und Kontinente umspannt, finden die Dichtungen Bella Achmadulinas, Jean Pauls, Andrea Zanzottos oder der russischen Moderne ebenso Nachhall wie die Vorstellungswelten von Schamanismus und Volksglauben oder zum Beispiel die Mythen und Sagen Asiens und des Mittleren Ostens: Historisches Bewusstsein heißt für Uwe Dick, die eurozentrische Perspektive zu öffnen.
Seine Dichtung ist sprachanalytisch, Sprachkritik ist für ihn immer auch Gesellschaftskritik: "Wir sind, wie wir sprechen." Dabei lässt sich die Frage nach dem Ich für Uwe Dick nur im gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang stellen.
Seine Kunst metaphorischer Sinnstiftung, des poetischen Bildes, der Reflexion und des Fabulierens, aber auch der engagierten, anspielungsreichen Philippika gipfelt in einem Buch, das zur Weltliteratur im mehrfachen Sinne des Wortes gehört: der "Sauwaldprosa", die welthaltig ist und zugleich auch ästhetisch von internationaler Relevanz. Ihre Vielsprachigkeit, Uwe Dick nennt sie "IndoEuroBairisch", macht die "Sauwaldprosa" als Klangkörper erfahrbar - sie speist sich unter anderem aus dem Alemannischen, Bairischen, Berlinerischen, Hoch-, Mittel- und Spätmittelhochdeutschen, Niederdeutschen und Schwäbischen sowie aus dem Englischen, Griechischen, Lateinischen und dem Sanskrit. Onomatopoetische Wortneuschöpfungen schließen semantische Lücken.
Mit der 1976 veröffentlichten "ersten Sauwaldiana" beginnt dieses Lebensprojekt; nach 46 Jahren erscheint das work in progress nun, wenige Monate vor Dicks achtzigstem Geburtstag, im Wallstein Verlag als siebte Fortschrift in seiner finalen Fassung - ein literarisches Ereignis.
"Drobm überm unterm Inn, südlich der Nibelungenstraße also, nördlich der Sonnentore, dort ist mein Arkadien, der Sauwald", zeichnet der mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs seiende Ich-Erzähler den topographischen Grundriss einer Gegend zwischen Passau, Kopfing und Schärding im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet, deren sprichwörtliche Erfahrung sich "kraft innerer Gesichte" alsbald zur "Sauwald-Odyssee" steigert, dem "Sauwaldspuk am hellichten Tage": Der "Sauwald", den, wenn man nach ihm fragt, niemand kennt, auch die nicht, die doch - topographisch gesichert - von ihm umgeben sind, ist immer "woanders". Die "Odyssee" gipfelt in der "großen Passauer Sauwaldkadenz" eines "Solisten" am Biergarten-Nebentisch, dessen "Sauwald"-Vision deutliche Affinitäten zu den Prophezeiungen des Mühlhiasls, eines aus dem niederbayerischen Wald stammenden Sehers, und dem Weltengericht im Muspilli aufweist: Dieser "Sauwald", für den so klangvolle, real existierende Ortschaften wie Frauentodling, Höll, Muckenwinkl, Flohleitn oder Kobeln stehen, weitet und verwandelt sich, quasi-dialektisch, zu "Seelen-Landschaften", das "seltsam traumhafte Spiel der sogenannten Wirklichkeit" vermischt sich - erzählstrategisch durch eine Überblendtechnik zum Ausdruck kommend - mit den Realitäten des Vorgestellten, Erinnerten.
"Dem 'Leben als Betrieb' entflohen, trenne ich längst nicht mehr zwischen Drinnen und Draußen", bekennt der Ich-Erzähler als "Sauwaldläufer". Seine Maxime ist es, ganz dem Augenblick zu leben, denn so kulminiert "das ganze Werden in mir", "einem Kollektiv von Personen verschiedenster Jahrhunderte". Landschaftsskizzierungen sind eng verbunden mit einer Genealogie verwandter Seelen, deren Porträts zugleich Hommage an ihre Lebenshaltung sind. Der Leser begegnet zum Beispiel dem "Sprachkünstler" Richard Billinger, "nicht totzuschweigender Dichter des Inn", der dem Erzähler "eine Enzyklopädie Innviertler Lebens" erschloss; er lernt den listigen Gustl von Töging und "Sepp Selbertinger zu Selberting" kennen, den Erfinder des "Faulwasserkopfreaktors"; er sieht lesend die Bilder von Rudi Englberger und Toni Waim und erlebt, wie der "Sauwald"-Münchhausen "Wusch" frei "die Bilder seines Lebens" reiht.
Aufschlussreich für die andere Seite, die innere Dimension des "Sauwalds", ist der Bericht des Erzählers von seinem Besuch im Kubin-Haus. Ausgelöst von der "Dramatik des Verborgenen" der Bilder Kubins, des "Magiers von Zwickledt" und "Visionärs der Traumstadt Perle", folgt der Leser dem Abtauchen in den "Traumsee", Bilderstürze bedrohen das Erzählen: Dieses "Sauwald"-Arkadien, das Kubin'sche (Schatten-)Reich der Phantasie, zeigt sich schließlich als (er-)lebbare Gegenwelt zum "bilderlosen Dasein". So ist die "Sauwaldprosa" das "Fahrtenbuch" eines Erzählers, "der den Sauwald gerade erst staunend entdeckt", auch in sich und anderen, ein ethnographisch-poetischer Kompass nicht nur für den janusköpfigen "Sauwald", sondern für die zivilisatorische Conditio humana.
Ein Selbstporträt des Erzählers beziehungsweise Autors findet sich im langen "Pochwasser"-Finale der "Sauwaldprosa": "Verwandlungen! Ihnen lebt er: Holzhacker, Archaischer Surrealist, Seelsorger, Kleinbauer, Arroganzheitsdenker, Staatsfeind . . ." In Vorbereitung eines anderntags stattfindenden Soloauftritts gerät er über dem abendlichen Studium einer Speisekarte ("Schlachtschüssel", "Kesselfleisch", "Schwaaß", "Metzelsuppe") in eine assoziative Drift innerer Hall- und Sehräume, die ihm unbewusste, aber auch hellwache Erinnerungen an die Kindheit und Schulzeit im Internat sowie Albträume beschert. In diesem Buch im Buch ist auch eine lebenspragmatische und literarische Programmatik formuliert: "Wechseln - zwischen den Schreib- und Redeweisen. Auf der Suche nach einer Moderne des Unversöhnlichen. Auf der Suche nach einer unmöglichen Literatur."
Formal gesehen ist die "Sauwaldprosa" ein Hybrid aus Prosa, Gedichten, Szenischem, Märchen, Aphorismen, Essayistischem, Briefen, Reisebuch, Reportagen, Traumnotaten und Fußnoten. Sie ist Prosa und kommentierende Prosa der Prosa, Poesie und reflektierende Poesie der Poesie, insofern also eine die Gattungen vermischende Dichtung im Sinne der romantischen Ästhetik von Novalis und Friedrich Schlegel. Ihr Realitätsgehalt erreicht einen Sättigungsgrad, von dem manche realistische Fiktion nur träumen kann. Nicht zuletzt kann die "Sauwaldprosa" auch als Anthologie gelesen werden, versammelt sie doch, thematisch und motivisch eingebunden, nicht nur Zitate etwa von Johann Fischart, Ilse Aichinger oder Alexander Wwedenskij, sondern neben eigenen Gedichten Uwe Dicks auch solche unter anderem von Melvin B. Tolson oder Ezra Pound, dessen Usura-Canto XLV die "Sauwaldprosa" in der Übersetzung ins Deutsche von Eva Hesse und ins Pusterische, den Dialekt des Südtiroler Pustatals, von Pounds Enkel Siegfried de Rachewiltz präsentiert. Neben dem Programm der "Deckung von Sprache und Leben" - "Bin ich eins: Wort und Wesen? Dann wäre ich meiner Weltformel nahe und lebte, indem ich schreibe, was ich lebe" - ist der Pound'sche Usura-Komplex für die "Sauwaldprosa" von zentraler Bedeutung, die eine Kampfschrift ist gegen Selbstbetrug, Dummheit und Dünkel, gegen bigotten Katholizismus, Tierquälerei, Naturzerstörung und "wirtschaftsfaschistischen" Wucher.
Wie hat Uwe Dick diese 666 (!) Doppelspalten-Seiten der sauwaldlichen Letztfassung bei aller Vielfalt ihrer Gattungen und Schreibweisen formal und inhaltlich managen können? Durch eine stete Entsprechung von Form und Inhalt. Dem ABCdarius als Makroordnung sekundiert eine rhizomatische Ordnungsstruktur mit ihren assoziativ-gedanklichen Verbindungen der vielen von Dick in der "Sauwaldprosa" behandelten Gebiete und Themen, thematische Stichworte in der Kopfzeile einer jeden Seite firmieren als Headline oder Slogan, senkrecht gestellte Jahreszahlen am Seitenrand orientieren über das Entstehungsjahr der Passage. Bindemittel ist der kategorische Imperativ genauer Sprache.
Der finalen Fassung der "Sauwaldprosa", vom Wallstein Verlag buchkünstlerisch aufs Feinste orchestriert - als großformatige Textpartitur in lesbarer Schriftgröße auf bestem Papier und mit Lesezeichen -, sind viele virtuose Leser zu wünschen: Sie läsen ein immer wieder neu zu lesendes Lebensbuch voller tiefem Ernst und hoher Komik. MICHAEL LENTZ
Uwe Dick: "Sauwaldprosa".
Wallstein Verlag. Göttingen 2022. 666 S., geb., 50,- Euro.
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