Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Berlin
  • Seitenzahl: 472
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 597g
  • ISBN-13: 9783871342394
  • ISBN-10: 3871342394
  • Artikelnr.: 24069011
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.1997

Ritt des Dschinns auf einem Esel
Die Liebe kommt immer zu spät, und erst die Erinnerung ist weise: Dzevad Karahasan schmiedet "Schahrijars Ring" · Von Karl-Markus Gauß

Der Roman beginnt mit einem luziden Essay über den Charakter moderner Möbel: "Die Materialien verlangen geradezu danach, Erinnerungen auszuschließen und unmöglich zu machen; ihrer Natur nach sind sie reine gleichgültige Gegenwart und deshalb unveränderlich: Glas, poliertes Metall und Spannplatte." Der Gleichgültigkeit zu trotzen, ist dieser Roman geschrieben worden, der von der Sehnsucht nach Geschichte erzählt und vom Wunsch der Menschen, eine Spur ihrer Existenz zu hinterlassen.

Der 1953 geborene bosnische Autor Dzevad Karahasan hat "Schahrijars Ring" in Sarajevo geschrieben. Nachdem eine Granate seine Bibliothek verwüstet hatte und seine Schwiegermutter, eine Serbin, die muslimische Nachbarn versteckt hielt, von serbischen Garden ermordet worden war, floh er nach Österreich. Das Romanmanuskript blieb zurück, und der Flüchtling hat seinen großen Roman aus der Erinnerung noch einmal und anders geschrieben.

"Schahrijars Ring" ist ein aberwitzig komplex gebauter Roman, der eine Vielzahl an wundersamen Geschichten auf drei Schauplätzen und drei Zeitebenen zueinander in Beziehung setzt. Wie drei Zeichnungen, die so aufeinanderliegen, daß jede von ihnen auf die beiden anderen durchscheint, so ergänzen und kommentieren die drei Bücher dieses Romans einander. Die Liebesgeschichte des ersten, in der Gegenwart spielenden Buches zeichnet seine Konturen dem zweiten Buch ein, das von einer politischen Verschwörung im fünfzehnten Jahrhundert handelt; diese wiederum hängt ursächlich mit dem dreitausend Jahre alten Märchen zusammen, von dem das dritte Buch erzählt; und das sumerische Märchen schließlich enthält eine Liebesgeschichte, die den Schlüssel für die Ereignisse des ersten Buches enthält.

Zu kompliziert? Keineswegs, denn der Wechsel vom Krieg in Sarajevo zu den Palastintrigen von Istanbul ins vorchristliche Land der Sumerer ist zwar ein erzählerischer Kraftakt sondergleichen, aber man merkt dem Autor die Anstrengung kaum an. Allenfalls im zweiten Buch, in dem die mystische islamische Bewegung des Sufismus eine große Rolle spielt und die langen theologischen Passagen bei uns auf mangelhaft vorgebildete Leser treffen werden, geht das verwegene Romankonzept, einen Bogen über drei Jahrtausende zu spannen, nicht völlig auf.

In Sarajevo begegnet eine emanzipierte, lebenspraktische Frau einem träumerischen, untüchtigen Mann, der sich der zeitgemäßen Beziehungsarbeit der Geschlechter widersetzt und bei jedem Konflikt in traurige, phantastische, witzige, immer aber verstiegene Geschichten ausweicht, die er erzählt. Azra und Faruk sind so verschieden, daß sie einander verfallen müssen, aber miteinander nicht glücklich werden können. Während der Ring um Sarajevo enger wird, löst Azra endlich die Verbindung. Faruk verläßt Sarajevo und verschwindet ins Hinterland des Krieges, sie bleibt in der alsbald von Terror und Hunger heimgesuchten Stadt. Kaum ist der Geliebte weg, beginnt sie sich nach ihm zu sehnen, doch rätselhaft, es gelingt ihr nicht, "in ihren Fingern die Erinnerung an seine Haut, in ihrem Körper die Erinnerung an seine Berührung zu wecken oder seine Gestalt zu beschwören. Nur seine zahllosen, ineinander verflochtenen Geschichten waren in ihr lebendig und gegenwärtig . . ."

In der Wohnung des Verschwundenen findet sie seine "Hinterlassenschaft", die er ihr brieflich als das wahre Zeugnis seiner selbst ans Herz legt. Doch er hat ihr nichts anderes als seine verstiegene Erzählung eines Kriminalfalls aus dem sechzehnten Jahrhundert überantwortet. Als vermeintlicher Ketzer war damals der junge Schriftsteller Figani - den es, wie auch manches Ereignis dieses phantastischen Romans wirklich gegeben hat - in Instanbul auf eine traditionell grausame Weise hingerichtet worden. Rücklings auf einen Esel gefesselt, wurde er durch die Stadt getrieben und vom Pöbel gesteinigt.

Dem jungen Figani war ein religiös bedenkliches Märchen zum Verhängnis geworden, das er übersetzt hatte. Dieses sumerische Märchen, das von der Menschwerdung eines Dschinns, eines Feuergeists, handelt, hatte die Glaubenswächter gegen ihn aufgebracht. Der Dschinn, ein rührendes Fabelwesen, das körperliche Gestalt annehmen kann, aber doch kein Mensch aus Fleisch und Blut ist und weder Lust noch Schmerz verspürt, vermag die Menschen durch die Geschichten, die er unentwegt erzählt, zu rühren. Als er Belitsilim kennenlernt, entbrennt er in unsterblicher Liebe zu ihr und hat nur noch den einen Wunsch, Mensch zu werden: "Ihr habt einen Körper und Gefühle, ihr wünscht und sehnt euch. Schön ist das: zu fühlen, zu begehren. Groß ist das. Einen Körper zu haben."

In der Liebe reift der Dschinn langsam zum Menschen, der er indessen vollends erst wird, als er sein Leben verliert. Eine aufgehetzte Volksmasse wird ihn, den Fremden, rücklings auf einen Esel setzen und durch die Straßen treiben. Geschlagen und gequält, verspürt er glücklich ein einziges Mal sein Menschentum - als tödlichen Schmerz. Belitsilim aber wird neun Monate später seinen Sohn zur Welt bringen. Faruk, so dürfen wir annehmen, der Geschichtenerzähler von Sarajevo, von dem nichts bleibt als seine lustigen rührenden Geschichten, ist dieser Sohn oder doch sein Nachfahre.

Dzevad Karahasan bringt in seinem Roman "Schahrijars Ring" vielerlei zusammen: Liebesgeschichte und theologischen Traktat, jugoslawischen Bürgerkrieg und islamische Mystik, zarte Poesie und Szenen der Folter, dichte Erzählprosa und kulturkritische Essayistik. Als wäre es nicht genug, ist dem Buch noch ein Anhang aus dem Geist eines Jorge Luis Borges beigefügt, der auf zehn gelehrten wie hochironischen Seiten alles Wissenswerte über sufistische Theologie und sumerische Fabelwesen ineinanderwirbelt.

Am Ende sehen wir Azra, zu Tode abgemagert, in einem eisigen Zimmer des zerstörten Sarajevo verdämmern, ganz hingegeben der Erinnerung an ihren Geliebten; Faruk irrt unterdessen ruhelos als bosnischer Ahasver durch rauchende Dörfer, über verheertes Land. Die Liebe kommt immer zu spät, und erst die Erinnerung ist weise. Was den Gestalten des Romans nach und nach bewußt wird, daß sie einander verloren haben und nur mehr in der Erinnerung besitzen werden, gilt auch für ihre Stadt, für Sarajevo, von dem heute schon alle, die es gestern zerstört haben, wissen, daß sie es sich unwiederbringlich selbst geraubt haben.

Mit dem Untertitel "Roman einer Liebe" (er fehlt in der bosnischen Originalausgabe!) versucht der Verlag, "Schahrijars Ring" in die Tradition osmanischer Liebesromane zu zwingen, ein ungebührliches Unterfangen nicht allein, weil im ganzen Mittelteil die Liebe gar keine Rolle spielt. Nein, dies ist kein bunter Erzählteppich, der aus dem Morgenland geflogen kommt, sondern ein verwegener Versuch, orientalische Traditionen mit europäischen Kritizismus zu verbinden: als hätte sich Robert Musil darangemacht, uns mit hellwachem Verstand von Tausendundeiner Nacht zu erzählen.

Dzevad Karahasan: "Schahrijars Ring". Roman einer Liebe. Aus dem Bosnischen übersetzt von Klaus Detlef Olof. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1997. 473 S., geb., 45,-DM.

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