Dieser Roman erzählt die Geschichte der Familie Compson über drei Jahrzehnte, beginnend mit Benjy, dem geistig behinderten Sohn des Hauses. Er kennt kein Gestern, Heute und Morgen, ist so auf ewig in der Gegenwart gefangen.
Für Quentin, den Ältesten, bricht 1910 der letzte Tag in Harvard an. Er prüft sein geistiges Erbe, ordnet den spärlichen Nachlass und findet kaum Gründe, die ihn noch ans Leben binden. Und so fällt Jason, dem Jüngsten, die Rolle des Familienvorstands zu - eine Rolle, die er kaum ausfüllen kann.
«Schall und Wahn»: ein ungeheuerlicher Familienroman voller Wut, Eigensinn und auch Humor.
Ein Klassiker der Weltliteratur - neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Frank Heibert.
Für Quentin, den Ältesten, bricht 1910 der letzte Tag in Harvard an. Er prüft sein geistiges Erbe, ordnet den spärlichen Nachlass und findet kaum Gründe, die ihn noch ans Leben binden. Und so fällt Jason, dem Jüngsten, die Rolle des Familienvorstands zu - eine Rolle, die er kaum ausfüllen kann.
«Schall und Wahn»: ein ungeheuerlicher Familienroman voller Wut, Eigensinn und auch Humor.
Ein Klassiker der Weltliteratur - neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Frank Heibert.
Wenn William Faulkner der amerikanische Joyce ist, dann ist «Schall und Wahn» sein Ulysses ... und Frank Heiberts Neuübersetzung ein echter Quantensprung. Neue Zürcher Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2014Der amerikanische Kirschgarten
William Faulkners großer Familienroman „Schall und Wahn“ über den Niedergang
der Südstaaten in der ersten deutschen Übersetzung, die dem Original standhält
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Anton Tschechows Drama „Der Kirschgarten“ aus dem Jahr 1900 endet mit dem Geräusch fallender Kirschbäume – das Landgut ist verkauft, der Kirschgarten muss einer Feriensiedlung weichen, und die Axthiebe am Schluss, sie geben den Takt einer neuen Zeit vor. Ganz ähnlich beginnt William Faulkners 1929 erstmals erschienener Roman „Schall und Wahn“, nur dass es hier keine Äxte sind, sondern Golfschläger, deren Klang anzeigt, was die Stunde geschlagen hat. Um ihrem ältesten Sohn Quentin ein Studienjahr in Harvard zu finanzieren und der einzigen Tochter Candace, genannt Caddy, eine glanzvolle Hochzeit – die Scharte ihres unehelichen Kindes muss durch eine Zweckehe ausgewetzt werden –, haben die Compsons 1910 ihr letztes Stück Land verkauft; geblieben ist ihnen nur das verfallende Herrenhaus, das nun direkt an einen Golfplatz grenzt.
Wie Tschechow für die russische Aristokratie im vorrevolutionären Russland schildert Faulkner (1897–1962) für seine Zeit den Verfall einer Familie aus altem Südstaaten-Adel – stellvertretend für eine postfeudale Stillstandsgesellschaft, die nur noch den eigenen Mythos verwaltet und mit ihrer Lebenslähmung ihre Auslöschung vorantreibt. Und so ist die Zeit selbst die eigentliche Protagonistin des Romans; wie ein feines Kapillarnetz zieht sich die Uhren-Symbolik durch das Buch, beginnend eben mit den Schlägen vom Golfplatz, endend mit den Kirchenglocken der Ostermesse. Nicht zufällig hat die alte Standuhr im Haus nur einen Zeiger, und auch die Taschenuhr des Großvaters, die Quentin geerbt hat, ist kaputt. Ein „Mausoleum jeglicher Hoffnung und jeglichen Begehrens“ hatte sein Vater sie genannt. Für ihn, der sich zu Tode soff, blieb die Uhr vor der Zeit stehen.
Was dem Vater der Alkohol, ist für Mutter Compson, eine zweite Tschechowsche Ranjewskaja, ihr verdunkeltes, kampfergeschwängertes Zimmer, in dem sie vor sich hin dämmert: Flucht vor der Wirklichkeit. Die Grand Old Lady spielt sie nur noch, und Teil dieser Inszenierung ist es, mit großer Geste den Unterhaltsscheck zu verbrennen, den Caddy geschickt hat für ihre Tochter, die Quentin heißt wie ihr Onkel, ihr Großvater und Urgroßvater. Allerdings sind Mutters Augen nicht mehr besonders gut, weshalb sie nicht erkennt, dass es sich bei den Schecks um Fälschungen ihres mittleren Sohnes, des ewig zu kurz gekommenen Jason, handelt. Die echten Schecks löst er seit Jahren selbst ein. Doch eines Tages ist die Schreibtischschublade aufgebrochen, Quentin verschwunden, zusammen mit den 4000 Dollar Unterhalt und weiteren 3000, die Jason mühsam zusammengespart hat – durchgebrannt mit einem Mann vom Jahrmarkt. Und weil Jason den größten Teil dieser Summe eben unterschlagen hat, kann er den Diebstahl nicht einmal zur Anzeige bringen.
Diese grimmige Pointe ist der Höhepunkt der Handlung im Roman „Schall und Wahn“, der im Wesentlichen an drei aufeinanderfolgenden, aber nicht chronologisch wiedergegebenen Tagen am Osterwochenende 1928 spielt. Eingeschaltet ist ein Rückblick auf das Jahr 1910, als der Erstgeborene Quentin sich, gequält von Schuldgefühlen ob seiner Inzestgedanken, die sich auf seine geliebte Schwester Caddy richten, im Fluss ertränkt; der Fluss ist im Buch die Übermetapher für das Vergehen der Zeit.
Der mittlere Bruder Jason kann Quentins Selbstmord genauso wenig verwinden wie die Tatsache, dass Caddys Ehe alsbald wieder aufgelöst wurde. Denn das hat ihn um den lukrativen Job bei einer Bank gebracht, den ihm Caddys Bräutigam in Aussicht gestellt hatte. Stattdessen arbeitet Jason in einem Laden für Landwirtschaftsbedarf und verliert das letzte Geld der Familie an der Börse. Der amerikanische Süden, er ist eine einzige Luftbuchung geworden, eine Blase aus Spekulationen und Illusionen.
Dargetan wird das alles in vier Kapiteln, von denen die ersten drei jeweils die Perspektive eines der Brüder einnehmen – erst im vierten und letzten führt ein allwissender Erzähler die Fäden zusammen. Den Anfang macht der Jüngste, Benjamin „Benjy“, der gerade 33 Jahre alt geworden und trotzdem ein Kind geblieben ist, denn er ist geistig behindert. Unfähig, seine Wahrnehmungen einzuordnen und auszuwerten, besteht sein Bewusstseinsstrom allein aus Sinnesdaten und einem so unmittelbaren wie passiven Erleben, für das beispielsweise die Scheune „da ist“, wenn man auf sie zugeht, und man darauf warten muss, dass sie wiederkommt, sobald man sich von ihr entfernt.
Dieses erste ist das schwierigste Kapitel des Romans, unzugänglich bis zur Hermetik, ein wahres Sperrfeuer, durch das sich der Leser kämpfen muss, zumal in Benjys Kopf Erlebtes und Erinnertes, Vergangenheit und Gegenwart, ununterscheidbar ineinanderfließen. Zehn verschiedene Zeitebenen, die in diesem Teil des Buches amalgamiert sind, haben Faulknerologen ausgemacht, und das ist ein Grund, weshalb der Roman unter ihnen den Beinamen „das Monster“ trägt.
Aber Faulkners avancierte Erzähltechnik ist kein Selbstzweck oder verspielter Intellektualismus, der darauf zielt, den verwöhnten Gaumen professioneller Leser zu kitzeln. Ebenso wenig ging es ihm um den Versuch einer perfekten Mimikry an seine Figuren. Faulkner war weit davon entfernt, das Bewusstsein eines Geistesschwachen mimetisch akkurat abbilden zu wollen. Vielmehr bedient er sich eines Kunstgriffs und beschränkt sich auf exemplarische Schlüsselmomente dieses magischen Denkens, so wie ein Schauspieler, der einen Betrunkenen spielt, glaubwürdiger wirkt, wenn er nicht permanent lallt, sondern nur ab und zu.
William Faulkner hielt sehr wenig von Erzähltheorie, mit seiner an der Lektüre von James Joyce und Virginia Woolf geschulten Verwendung des stream of consciousness verfolgte er nicht den Zweck der Subjektivierung, sondern beabsichtigte das Gegenteil: höchste Objektivität. Diese wollte er erreichen, indem er die Wirklichkeit auffächert und verschiedene Perspektiven miteinander verschränkt, ähnlich wie es in der Malerei die Kubisten gemacht haben. Darüber hinaus war Faulkner ein übermächtiger Erzähler, einer, dem so viele Register zu Gebote standen, dass ihm ein einziger durchgängiger Stil nicht genügen konnte. Dieser Proteus und Gestaltwandler hat sich fortwährend neu erfunden, manchmal mehrmals in einem einzigen Buch. Allzu leicht ging ihm das Schreiben von der Hand. „Ich schreibe, wenn mir der Sinn danach steht“, sagte er einmal, „und der Sinn steht mir jeden Tag danach.“ Ob Faulkner, der sich immer wieder Entziehungskuren unterziehen musste, auch bei der Arbeit trank oder nur danach, ist umstritten. Was er jedoch brauchte, um zu schreiben, war Ungestörtheit. Wenn er sich in die Bibliothek seines Anwesens in Oxford, Mississippi, das er mit eigenen Händen wieder in Schuss gebracht hatte, zurückzog, schraubte er den Türgriff ab, da sich die Tür nicht abschließen ließ.
Faulkner dringt mit seinem multiperspektivischen Erzählen so tief ein in die Wirklichkeit, dass ihre Darstellung eine fast schmerzhafte Nähe und Intensität gewinnt. Zunächst dient Benjys Wahrnehmung als eine Art Sonde, welche die emotionalen Kraftströme der Familie sichtbar macht. Und die Hierarchie auf den Kopf stellt – ist doch neben der schwarzen Haushälterin Dilsey die Schwester Caddy das Gefühlszentrum der Compsons, deren Wärmebild Benjys Blick festhält wie eine Infrarotkamera. Sie, die als Einzige ihre Sexualität auslebt – Quentin geht an seinem Puritanismus zugrunde, Benjy wird nach einer übergriffigen Aktion kastriert, Jason ist impotent –, bildet zugleich das leere Zentrum, um das der Roman gebaut ist, da Caddy selbst nicht auftritt.
Im Quentin-Kapitel, das als Virtuosenstück beginnt, variiert Faulkner den Bewusstseinsstrom dergestalt, dass er Quentins Sprache analog zu dessen zunehmender Zerrüttung verfallen lässt, bis hinein in den Satzbau und die Orthografie, um auf diese Weise die Persönlichkeitsauflösung nachzubilden. Im Fortgang der Erzählung lockert Faulkner seine stilistischen Foltermethoden; so ist die Jason-Partie ein Stück derber Rollenprosa eines mit rassistischen und antisemitischen Vorurteilen vollgestopften Underdog. Insgesamt stellt dieses bis zur Hypertrophie komplexe Sprachkunstwerk jeden Übersetzer vor eine gewaltige Aufgabe. Bislang gab es nur eine einzige deutsche Fassung des Romans, die mittlerweile ein halbes Jahrhundert alt ist. Ein Beispiel nur, um Faulkners Kunst anzudeuten: Zu Beginn sucht der 14-jährige Luster nach einem verlorenen Quarter, seinem Budget für den Jahrmarktsbesuch. Am Ende hat er ihn noch immer nicht gefunden, sodass sich das biblische Motiv des verlorenen Geldstücks durch den ganzen Roman zieht und immer wieder an zwei Schmerzpunkte rührt: das fehlende Geld und die Sehnsucht nach einem anderen Leben, für das der Jahrmarkt steht.
Frank Heiberts titanische Neuübersetzung ist dem Original treuer als die ältere von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser, deren etwas didakischer Gestus an einen Avantgardismus für die reformierte Oberstufe denken ließ. Zudem verzichtet Heibert bei der Wiedergabe des Black American English auf direkte Anleihen bei Dialekten. Schließlich klingt es unfreiwillig komisch, wenn Amerikaner reden, als lebten sie im Ruhrgebiet. Schon vor dem Titel, einem abgewandelten Zitat aus Shakespeares „Macbeth“, demzufolge das Leben nichts sei als „eines Toren Fabel“, muss die deutsche Sprache kapitulieren. Es gibt kein Äquivalent für die semantische Polyvalenz von „The Sound and the Fury“.
Shakespeares Tor, das ist im Buch natürlich Benjy, und der „Sound“, das ist der kreatürliche Klagelaut, den er von sich gibt, als der moralische Bankrott der Familie besiegelt und für ihn absehbar ist, dass er nach Jackson, in die Irrenanstalt abgeschoben werden wird. „Nur ein Tönen“, heißt es. „Als wären alle Zeitläufte, alle Ungerechtigkeit, alles Leid mit einem Mal Stimme geworden durch das Zusammenspiel der Planeten.“ Noch einmal, ganz am Ende, stimmt Ben seine Klage an, diese Tonspur des Lebens, und zwar als Luster das Pferdefuhrwerk im wilden Galopp um den Platz peitscht, unter den „leeren Augen“ der Marmorstatue eines Konföderierten. Die Figur personifiziert den abgelebten Mythos, um den die Gesellschaft immer noch kreist, in verzweifelter Agonie.
Lesern, die meinten, sie hätten den Roman auch nach der dritten Lektüre nicht verstanden, entgegnete Faulkner trocken: „Read it four times“ (Lesen Sie ihn vier Mal). „Schall und Wahn“, dieses große, eigensinnige Requiem auf die Südstaaten, ist der beste Grund, einer digitalen Zukunft zu misstrauen, in der die Auswertung des Leseverhaltens in die Art eingeht, wie Bücher geschrieben werden. Schöpferisches Genie, das lehrt Faulkner, ist nicht planbar, sondern es ist das, was frei wird, wenn einer die Tür hinter sich schließt und die Klinke abschraubt.
Vom hermetischen Stil
des Buches sollte sich kein
Leser abschrecken lassen
Die vergehende Zeit,
sie ist selbst die Protagonistin
dieses Romans
Faulkner lehrt uns,
dass Weltliteratur sich nicht
am Reißbrett planen lässt
William Faulkner 1946 in seinem Haus in Oxford, Mississippi, fotografiert von Henri Cartier-Bresson.
Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos / Agentur Focus
William Faulkner: Schall und Wahn. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
384 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
William Faulkners großer Familienroman „Schall und Wahn“ über den Niedergang
der Südstaaten in der ersten deutschen Übersetzung, die dem Original standhält
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Anton Tschechows Drama „Der Kirschgarten“ aus dem Jahr 1900 endet mit dem Geräusch fallender Kirschbäume – das Landgut ist verkauft, der Kirschgarten muss einer Feriensiedlung weichen, und die Axthiebe am Schluss, sie geben den Takt einer neuen Zeit vor. Ganz ähnlich beginnt William Faulkners 1929 erstmals erschienener Roman „Schall und Wahn“, nur dass es hier keine Äxte sind, sondern Golfschläger, deren Klang anzeigt, was die Stunde geschlagen hat. Um ihrem ältesten Sohn Quentin ein Studienjahr in Harvard zu finanzieren und der einzigen Tochter Candace, genannt Caddy, eine glanzvolle Hochzeit – die Scharte ihres unehelichen Kindes muss durch eine Zweckehe ausgewetzt werden –, haben die Compsons 1910 ihr letztes Stück Land verkauft; geblieben ist ihnen nur das verfallende Herrenhaus, das nun direkt an einen Golfplatz grenzt.
Wie Tschechow für die russische Aristokratie im vorrevolutionären Russland schildert Faulkner (1897–1962) für seine Zeit den Verfall einer Familie aus altem Südstaaten-Adel – stellvertretend für eine postfeudale Stillstandsgesellschaft, die nur noch den eigenen Mythos verwaltet und mit ihrer Lebenslähmung ihre Auslöschung vorantreibt. Und so ist die Zeit selbst die eigentliche Protagonistin des Romans; wie ein feines Kapillarnetz zieht sich die Uhren-Symbolik durch das Buch, beginnend eben mit den Schlägen vom Golfplatz, endend mit den Kirchenglocken der Ostermesse. Nicht zufällig hat die alte Standuhr im Haus nur einen Zeiger, und auch die Taschenuhr des Großvaters, die Quentin geerbt hat, ist kaputt. Ein „Mausoleum jeglicher Hoffnung und jeglichen Begehrens“ hatte sein Vater sie genannt. Für ihn, der sich zu Tode soff, blieb die Uhr vor der Zeit stehen.
Was dem Vater der Alkohol, ist für Mutter Compson, eine zweite Tschechowsche Ranjewskaja, ihr verdunkeltes, kampfergeschwängertes Zimmer, in dem sie vor sich hin dämmert: Flucht vor der Wirklichkeit. Die Grand Old Lady spielt sie nur noch, und Teil dieser Inszenierung ist es, mit großer Geste den Unterhaltsscheck zu verbrennen, den Caddy geschickt hat für ihre Tochter, die Quentin heißt wie ihr Onkel, ihr Großvater und Urgroßvater. Allerdings sind Mutters Augen nicht mehr besonders gut, weshalb sie nicht erkennt, dass es sich bei den Schecks um Fälschungen ihres mittleren Sohnes, des ewig zu kurz gekommenen Jason, handelt. Die echten Schecks löst er seit Jahren selbst ein. Doch eines Tages ist die Schreibtischschublade aufgebrochen, Quentin verschwunden, zusammen mit den 4000 Dollar Unterhalt und weiteren 3000, die Jason mühsam zusammengespart hat – durchgebrannt mit einem Mann vom Jahrmarkt. Und weil Jason den größten Teil dieser Summe eben unterschlagen hat, kann er den Diebstahl nicht einmal zur Anzeige bringen.
Diese grimmige Pointe ist der Höhepunkt der Handlung im Roman „Schall und Wahn“, der im Wesentlichen an drei aufeinanderfolgenden, aber nicht chronologisch wiedergegebenen Tagen am Osterwochenende 1928 spielt. Eingeschaltet ist ein Rückblick auf das Jahr 1910, als der Erstgeborene Quentin sich, gequält von Schuldgefühlen ob seiner Inzestgedanken, die sich auf seine geliebte Schwester Caddy richten, im Fluss ertränkt; der Fluss ist im Buch die Übermetapher für das Vergehen der Zeit.
Der mittlere Bruder Jason kann Quentins Selbstmord genauso wenig verwinden wie die Tatsache, dass Caddys Ehe alsbald wieder aufgelöst wurde. Denn das hat ihn um den lukrativen Job bei einer Bank gebracht, den ihm Caddys Bräutigam in Aussicht gestellt hatte. Stattdessen arbeitet Jason in einem Laden für Landwirtschaftsbedarf und verliert das letzte Geld der Familie an der Börse. Der amerikanische Süden, er ist eine einzige Luftbuchung geworden, eine Blase aus Spekulationen und Illusionen.
Dargetan wird das alles in vier Kapiteln, von denen die ersten drei jeweils die Perspektive eines der Brüder einnehmen – erst im vierten und letzten führt ein allwissender Erzähler die Fäden zusammen. Den Anfang macht der Jüngste, Benjamin „Benjy“, der gerade 33 Jahre alt geworden und trotzdem ein Kind geblieben ist, denn er ist geistig behindert. Unfähig, seine Wahrnehmungen einzuordnen und auszuwerten, besteht sein Bewusstseinsstrom allein aus Sinnesdaten und einem so unmittelbaren wie passiven Erleben, für das beispielsweise die Scheune „da ist“, wenn man auf sie zugeht, und man darauf warten muss, dass sie wiederkommt, sobald man sich von ihr entfernt.
Dieses erste ist das schwierigste Kapitel des Romans, unzugänglich bis zur Hermetik, ein wahres Sperrfeuer, durch das sich der Leser kämpfen muss, zumal in Benjys Kopf Erlebtes und Erinnertes, Vergangenheit und Gegenwart, ununterscheidbar ineinanderfließen. Zehn verschiedene Zeitebenen, die in diesem Teil des Buches amalgamiert sind, haben Faulknerologen ausgemacht, und das ist ein Grund, weshalb der Roman unter ihnen den Beinamen „das Monster“ trägt.
Aber Faulkners avancierte Erzähltechnik ist kein Selbstzweck oder verspielter Intellektualismus, der darauf zielt, den verwöhnten Gaumen professioneller Leser zu kitzeln. Ebenso wenig ging es ihm um den Versuch einer perfekten Mimikry an seine Figuren. Faulkner war weit davon entfernt, das Bewusstsein eines Geistesschwachen mimetisch akkurat abbilden zu wollen. Vielmehr bedient er sich eines Kunstgriffs und beschränkt sich auf exemplarische Schlüsselmomente dieses magischen Denkens, so wie ein Schauspieler, der einen Betrunkenen spielt, glaubwürdiger wirkt, wenn er nicht permanent lallt, sondern nur ab und zu.
William Faulkner hielt sehr wenig von Erzähltheorie, mit seiner an der Lektüre von James Joyce und Virginia Woolf geschulten Verwendung des stream of consciousness verfolgte er nicht den Zweck der Subjektivierung, sondern beabsichtigte das Gegenteil: höchste Objektivität. Diese wollte er erreichen, indem er die Wirklichkeit auffächert und verschiedene Perspektiven miteinander verschränkt, ähnlich wie es in der Malerei die Kubisten gemacht haben. Darüber hinaus war Faulkner ein übermächtiger Erzähler, einer, dem so viele Register zu Gebote standen, dass ihm ein einziger durchgängiger Stil nicht genügen konnte. Dieser Proteus und Gestaltwandler hat sich fortwährend neu erfunden, manchmal mehrmals in einem einzigen Buch. Allzu leicht ging ihm das Schreiben von der Hand. „Ich schreibe, wenn mir der Sinn danach steht“, sagte er einmal, „und der Sinn steht mir jeden Tag danach.“ Ob Faulkner, der sich immer wieder Entziehungskuren unterziehen musste, auch bei der Arbeit trank oder nur danach, ist umstritten. Was er jedoch brauchte, um zu schreiben, war Ungestörtheit. Wenn er sich in die Bibliothek seines Anwesens in Oxford, Mississippi, das er mit eigenen Händen wieder in Schuss gebracht hatte, zurückzog, schraubte er den Türgriff ab, da sich die Tür nicht abschließen ließ.
Faulkner dringt mit seinem multiperspektivischen Erzählen so tief ein in die Wirklichkeit, dass ihre Darstellung eine fast schmerzhafte Nähe und Intensität gewinnt. Zunächst dient Benjys Wahrnehmung als eine Art Sonde, welche die emotionalen Kraftströme der Familie sichtbar macht. Und die Hierarchie auf den Kopf stellt – ist doch neben der schwarzen Haushälterin Dilsey die Schwester Caddy das Gefühlszentrum der Compsons, deren Wärmebild Benjys Blick festhält wie eine Infrarotkamera. Sie, die als Einzige ihre Sexualität auslebt – Quentin geht an seinem Puritanismus zugrunde, Benjy wird nach einer übergriffigen Aktion kastriert, Jason ist impotent –, bildet zugleich das leere Zentrum, um das der Roman gebaut ist, da Caddy selbst nicht auftritt.
Im Quentin-Kapitel, das als Virtuosenstück beginnt, variiert Faulkner den Bewusstseinsstrom dergestalt, dass er Quentins Sprache analog zu dessen zunehmender Zerrüttung verfallen lässt, bis hinein in den Satzbau und die Orthografie, um auf diese Weise die Persönlichkeitsauflösung nachzubilden. Im Fortgang der Erzählung lockert Faulkner seine stilistischen Foltermethoden; so ist die Jason-Partie ein Stück derber Rollenprosa eines mit rassistischen und antisemitischen Vorurteilen vollgestopften Underdog. Insgesamt stellt dieses bis zur Hypertrophie komplexe Sprachkunstwerk jeden Übersetzer vor eine gewaltige Aufgabe. Bislang gab es nur eine einzige deutsche Fassung des Romans, die mittlerweile ein halbes Jahrhundert alt ist. Ein Beispiel nur, um Faulkners Kunst anzudeuten: Zu Beginn sucht der 14-jährige Luster nach einem verlorenen Quarter, seinem Budget für den Jahrmarktsbesuch. Am Ende hat er ihn noch immer nicht gefunden, sodass sich das biblische Motiv des verlorenen Geldstücks durch den ganzen Roman zieht und immer wieder an zwei Schmerzpunkte rührt: das fehlende Geld und die Sehnsucht nach einem anderen Leben, für das der Jahrmarkt steht.
Frank Heiberts titanische Neuübersetzung ist dem Original treuer als die ältere von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser, deren etwas didakischer Gestus an einen Avantgardismus für die reformierte Oberstufe denken ließ. Zudem verzichtet Heibert bei der Wiedergabe des Black American English auf direkte Anleihen bei Dialekten. Schließlich klingt es unfreiwillig komisch, wenn Amerikaner reden, als lebten sie im Ruhrgebiet. Schon vor dem Titel, einem abgewandelten Zitat aus Shakespeares „Macbeth“, demzufolge das Leben nichts sei als „eines Toren Fabel“, muss die deutsche Sprache kapitulieren. Es gibt kein Äquivalent für die semantische Polyvalenz von „The Sound and the Fury“.
Shakespeares Tor, das ist im Buch natürlich Benjy, und der „Sound“, das ist der kreatürliche Klagelaut, den er von sich gibt, als der moralische Bankrott der Familie besiegelt und für ihn absehbar ist, dass er nach Jackson, in die Irrenanstalt abgeschoben werden wird. „Nur ein Tönen“, heißt es. „Als wären alle Zeitläufte, alle Ungerechtigkeit, alles Leid mit einem Mal Stimme geworden durch das Zusammenspiel der Planeten.“ Noch einmal, ganz am Ende, stimmt Ben seine Klage an, diese Tonspur des Lebens, und zwar als Luster das Pferdefuhrwerk im wilden Galopp um den Platz peitscht, unter den „leeren Augen“ der Marmorstatue eines Konföderierten. Die Figur personifiziert den abgelebten Mythos, um den die Gesellschaft immer noch kreist, in verzweifelter Agonie.
Lesern, die meinten, sie hätten den Roman auch nach der dritten Lektüre nicht verstanden, entgegnete Faulkner trocken: „Read it four times“ (Lesen Sie ihn vier Mal). „Schall und Wahn“, dieses große, eigensinnige Requiem auf die Südstaaten, ist der beste Grund, einer digitalen Zukunft zu misstrauen, in der die Auswertung des Leseverhaltens in die Art eingeht, wie Bücher geschrieben werden. Schöpferisches Genie, das lehrt Faulkner, ist nicht planbar, sondern es ist das, was frei wird, wenn einer die Tür hinter sich schließt und die Klinke abschraubt.
Vom hermetischen Stil
des Buches sollte sich kein
Leser abschrecken lassen
Die vergehende Zeit,
sie ist selbst die Protagonistin
dieses Romans
Faulkner lehrt uns,
dass Weltliteratur sich nicht
am Reißbrett planen lässt
William Faulkner 1946 in seinem Haus in Oxford, Mississippi, fotografiert von Henri Cartier-Bresson.
Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos / Agentur Focus
William Faulkner: Schall und Wahn. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014.
384 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Faulkners Meisterwerk." (La Stampa)
"Schall und Wahn katapultierte Faulkner in die erste Reihe der literarischen Moderne." (Neue Zürcher Zeitung)
"Ein modernistischer Meilenstein. Zerstörte Handlungschronologie und figurentypische Sprech- und Denkweise werden mit der Technik des Bewußtseinsstroms, der fließenden Assoziationsfolge unbewußte strukturierter Bilder und Visionen, zu einer multiperspektivischen Famlienchronik montiert. Wohl nur Virginia Woolfs form-inhaltlich ähnlich gestalteter Roman Die Wellen hält den Vergleich mit diesem Prosamonument aus." (Basler Zeitung)
"Gilt als Faulkners Hauptwerk. Auf verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen, mit den Mitteln des Bewußtseinsstromes und in mythischen Parallelen erzählt Faulkner die Geschichte vom Niedergang der Großgrundbesitzerfamilie Compson." (Norddeutscher Rundfunk)
"Schall und Wahn katapultierte Faulkner in die erste Reihe der literarischen Moderne." (Neue Zürcher Zeitung)
"Ein modernistischer Meilenstein. Zerstörte Handlungschronologie und figurentypische Sprech- und Denkweise werden mit der Technik des Bewußtseinsstroms, der fließenden Assoziationsfolge unbewußte strukturierter Bilder und Visionen, zu einer multiperspektivischen Famlienchronik montiert. Wohl nur Virginia Woolfs form-inhaltlich ähnlich gestalteter Roman Die Wellen hält den Vergleich mit diesem Prosamonument aus." (Basler Zeitung)
"Gilt als Faulkners Hauptwerk. Auf verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen, mit den Mitteln des Bewußtseinsstromes und in mythischen Parallelen erzählt Faulkner die Geschichte vom Niedergang der Großgrundbesitzerfamilie Compson." (Norddeutscher Rundfunk)