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Was macht aus Menschen moralische Personen? Wie entstehen die spezifischen Verhältnisse, in denen Phänomene wie Schuld, Scham, Verantwortung und Respekt auftreten? Und warum fühlen wir uns oft so fremd in unserem Selbstverständnis - warum ist es so schwierig, unsere eigenen Verhältnisse mit unseren moralischen Begriffen und philosophischen Theorien zu verstehen? Auf den ersten Blick sind das aussichtslose Fragen, denn das moralische Leben gründet nicht auf moralphilosophischen Argumenten. Es entwickelt sich vielmehr in sozialen Praktiken und kulturellen Lebensformen, die nicht auf Theorien…mehr

Produktbeschreibung
Was macht aus Menschen moralische Personen? Wie entstehen die spezifischen Verhältnisse, in denen Phänomene wie Schuld, Scham, Verantwortung und Respekt auftreten? Und warum fühlen wir uns oft so fremd in unserem Selbstverständnis - warum ist es so schwierig, unsere eigenen Verhältnisse mit unseren moralischen Begriffen und philosophischen Theorien zu verstehen? Auf den ersten Blick sind das aussichtslose Fragen, denn das moralische Leben gründet nicht auf moralphilosophischen Argumenten. Es entwickelt sich vielmehr in sozialen Praktiken und kulturellen Lebensformen, die nicht auf Theorien reduziert werden können. Maria-Sibylla Lotter greift auf einschlägige ethnologische Forschungen unterschiedlicher Lebensformen zurück und bringt sie mit dem moralphilosophischen Diskurs ins Gespräch. So eröffnet sich ein innovativer Zugang zu ethischen Fragen.
Autorenporträt
Maria-Sibylla Lotter lehrt als Privatdozentin an der Universität Zürich.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Geschickt, wie die Autorin das macht, findet Andreas Cremonini, der sich beim Lesen des Buches unversehens von Maria-Sibylla Lotters synkretistischer Methodik mit fremder Moral konfrontiert sieht und daraufhin seine eigenen, möglicherweise utilitaristisch bzw. Kantisch geprägten Moralvorstellungen überprüfen muss. Das gefällt dem Rezensenten, zumal Lotter nicht nur auf die Verzerrung der Wahrnehmung fremder moralischer Begriffe und Praktiken hinweist, sondern auch unsere eigenen Moralkonzepte als oft bloß gedachte überführt, die sich praktisch schlecht umsetzen lassen. Die konkreten Fallbeispiele fremder Moral, anhand derer Lotter den Rezensenten durch die Themenkomplexe Scham, Schuld, Verantwortung führt, eröffnen Cremonini hingegen eine irritierende Vielfalt moralischer Praxis.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2013

Dem Blick der anderen ist nicht auszuweichen
Scham kommt vor Schuld: Maria-Sybilla Lotter über Konzepte von Verantwortung in verschiedenen Kulturen

Über kaum etwas streiten und verhandeln wir in unserem alltäglichen Zusammenleben häufiger als über die Frage, wer wofür in welchem Maße verantwortlich ist. Gestritten wird zumeist darum, mit welchem Recht und nach welchen Kriterien wir einander verantwortlich machen und die Haftung für schädliche Folgen verteilen. Maria-Sybilla Lotter hat in ihrem Buch die sozialen und normativen Kontexte solcher Zuschreibungen von Verantwortung zum Thema gemacht. Statt der stetig anwachsenden Literatur eine weitere Spezialuntersuchung hinzuzufügen, nimmt sie das vorhandene Material auf, um es neu zu sortieren und dabei unterschiedliche soziale Praktiken, Kulturen und Epochen in den Blick zu nehmen. Das führt weder zu einem Relativismus, demzufolge jede Kultur und jede Zeit ihr jeweils eigenes inkommensurables Konzept der verantwortlichen Person hat, noch zu einem naiven Universalismus, der unsere eigene Kultur als Endzweck einer vernünftigen Entwicklung auszeichnet.

In Anlehnung an Clifford Geertz strebt Maria-Sybilla Lotter ein "dünnes Verständnis" an, das kulturelle und historische Verschiedenheiten anerkennt, aber nicht beziehungslos nebeneinanderstellt, sondern auf Überschneidungen achtet. Daraus lassen sich einige wenige schwache Voraussetzungen universeller Art erschließen. Der methodische Vorzug eines solchen Verfahrens liegt darin, dass man die dünne Beschreibung nicht auf eine zu schmale Diät von Beispielen oder die Verabsolutierung eines Aspekts allein gründet. Das Buch wartet denn auch mit einer Fülle von Beispielen auf, die zeigen, wie heterogen und vielfältig die Praxis der Verantwortlichkeit ist.

Der Argumentationsgang wird mit einem Beispiel aus der Ethnologie eröffnet. In Bourdieus Untersuchungen zum Berbervolk der Kabylen in Nordosten Algeriens findet sich die Figur des Amahbul, jemand, der sich gegenüber anderen unausgesetzt scham- und rücksichtslos benimmt, ohne auf Vorwürfe zu reagieren. An einem solchen Individuum und den Reaktionen der Betroffenen lässt sich gleichsam im Negativ beobachten, über welche Eigenschaften jemand verfügen muss, um sich selbst und anderen gegenüber als moralisch ansprechbare Person gelten zu können. Die für westliche Augen hervorstechende Fremdheit des Falles verhindert voreilige Vermutungen über einen im Inneren des Individuums liegenden freien Willen und seine moralische Schuld. Viel eher kommt es auf die Ausbildung eines ethischen Selbstverständnisses an, die jemanden dazu befähigt, sein Tun und Lassen an eine Vorstellung davon zu binden, was er oder sie sein möchte. Aus dieser Quelle speist sich primär das Motiv, sich moralisch ansprechen zu lassen, und weniger oder nur sekundär aus den Quellen, auf die unsere Kultur verweist - das Nutzenkalkül angesichts einer drohenden Sanktion für moralisches Fehlverhalten oder eine nur durch Vernunft erzielbare autonome moralische Einsicht.

Vor allem aber zeigt sich, dass wir erst im Wege einer langwierigen Sozialisation moralisch ansprechbar werden. Erst wer gelernt hat, sich mit den Augen der anderen zu sehen, wem es nicht mehr gleichgültig ist, wie diese anderen ihn wahrnehmen, kann sich auch die normativen Erwartungen der anderen so zu eigen machen, dass er sich an ihnen wie an eigenen orientiert. Das elementare Gefühl, das mich um den fremden Blick auf mich sorgen lässt, ist das der Scham. Der Amahbul kennt diese Scham nicht und gilt deshalb bei den anderen als unverschämt. Die Scham ist, dem dünnen Verständnis zufolge, universell, auch wenn sie sich kulturell in höchst verschiedenen Weisen und Praktiken manifestiert.

Wenn die Scham in dieser Weise grundlegend für unsere praktische Identität und moralische Motivation ist, lösen sich althergebrachte Gegensätze zwischen einer (fremden, kollektiven, primitiven) Scham- und einer (eigenen, individualistischen, fortschrittlichen) Schuldkultur auf. Es geht dann eher um verschiedene Gewichtungen - um eine Scham, die um die eigene Wertschätzung und Selbstachtung besorgt ist, und eine Schuld, die sich auf die Bedürfnisse anderer richtet, zu denen auch das Bedürfnis gehört, nicht beschämt zu werden.

Die besondere Bedeutung, die viele Interpreten der Schuld zumessen, ist entsprechend zu relativieren. Schuld lenkt den Blick von der verwerflichen und schädigenden Handlung auf eine tiefsitzende innere Disposition der Person, welche die eigentliche Quelle vorwerfbaren Tuns sei. Es ist dieses immer wieder variierte Konzept einer in der Person allein fundierten Verantwortlichkeit, gegen das Lotter argumentiert. An einer Vielzahl von Autoren und Beispielen führt sie vor, dass für Verantwortlichkeit und Haftung situations-, beziehungs- und rollenspezifische soziale Erwartungen und Pflichten der Vor- und Rücksicht, der Grad der Verletzlichkeit des Opfers sowie Art und Höhe des Schadens mindestens ebenso relevant sind wie die freie innere Entscheidung eines autonomen Selbst.

In nämlicher Weise relativiert Lotter andere Aspekte der individualistischen Selbstdeutung unserer Verantwortungskultur. So stellt sie einer Konzeption der wechselseitigen Achtung, die sich allein auf die moralische Autonomie der Person bezieht, Lebensformen wie die des alten Ägypten entgegen, in denen ein starkes Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit vorherrschte, das mit einer extensiven Fürsorgepflicht einherging.

Auch gegenwärtig gibt es mehr soziale Normen, die positive Pflichten enthalten, als zu einer individualistischen, auf den Vorrang individueller Freiheiten und Abwehrrechte sich beschränkenden Selbstdeutung passen würden. Sie kommen erst in den Blick, wenn man andere Funktionen der Verantwortung einbezieht, wie die Verteilung von Risiken und Lasten, die Lösung von Konflikten, überhaupt die Fortsetzung der gesellschaftlichen Kooperation gemäß den Normen, die von den Beteiligten wiederum verantwortlich festgesetzt werden. Idealisierte Figuren wie die "vernünftige Person" umschreiben die Menge der sozialen Normen und Rollenerwartungen, denen wir in bestimmten Situationen und Beziehungen zu entsprechen haben. Dem müssten nach Lotter auch rechtliche Verfahren entsprechen, in denen weniger abstrakte Rechte nach formalen Regeln zugeteilt werden, sondern die Beteiligten nach einer individuell angemessenen Lösung ihres Konflikts streben (wie das heute schon in der außergerichtlichen Mediation praktiziert wird). Einbußen an Rechtssicherheit seien dafür in Kauf zu nehmen.

Mit dem Strafrecht greift Lotter abschließend das prominente Beispiel einer normativen Ordnung heraus, die Schuld als eine vermeintliche innere Tatsache begreift. Wittgenstein folgend, versteht sie die Freiheit des Anders-Handeln-Könnens dagegen als soziale Konstruktion. Was wir einander zumuten, wenn wir Fähigkeit zur Normbefolgung erwarten oder Verständnis für ein Versagen aufbringen, richtet sich dann nach dem normativen Selbstverständnis einer Lebensform. Der Strafrechtler Kohlrausch sprach in diesem Sinne schon im Jahre 1910 von einer "staatsnotwendigen Fiktion". Wie viel uns an dieser Fiktion tatsächlich liegt, hat die intensive öffentliche Diskussion um die Schuldfähigkeit des norwegischen Killers Anders Breivik während des jüngst abgeschlossenen Strafverfahrens eindrücklich vorgeführt.

KLAUS GÜNTHER.

Maria-Sibylla Lotter: "Scham, Schuld, Verantwortung". Über die kulturellen Grundlagen der Moral.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 344 S., br., 15,- [Euro].

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»Maria-Sibvlla Lotter beherrscht nicht nur das moralphilosophische Repertoire der europäischen Tradition vorbildlich, sie vermag es auch anzuwenden. Und zwar auch dort noch, wo sie sich nicht mehr auf Standardsituationen und eingespielte Denkroutinen verlassen kann.«