Elias Rukla, seit 25 Jahren Studienrat für Norwegisch, macht im Unterricht eine äußerst aufregende Entdeckung. Die Nebenfigur Dr. Relling in Ibsens Wildente hat eine ganz zentrale Funktion! Innerlich erregt von dieser spontanen Eingebung bittet er einen Schüler, die wenigen Einsätze Rellings laut zu lesen. Genervt blättern alle vor und zurück, und der Schüler liest demonstrativ gelangweilt vor. Der
Unterricht wird zur Qual. Das erlösende Klingeln ertönt, Rukla atmet erleichtert auf. Als sich auf dem Pausenhof sein Regenschirm nicht öffnen läßt, verliert er die Haltung, er trampelt darauf herum, beschimpft dabei die gaffenden Schüler aufs Wüsteste. Und er weiß, er will nicht mehr in sein altes Leben zurückkehren, seine Scham über den Verlust der Würde ist zu groß.
Unterricht wird zur Qual. Das erlösende Klingeln ertönt, Rukla atmet erleichtert auf. Als sich auf dem Pausenhof sein Regenschirm nicht öffnen läßt, verliert er die Haltung, er trampelt darauf herum, beschimpft dabei die gaffenden Schüler aufs Wüsteste. Und er weiß, er will nicht mehr in sein altes Leben zurückkehren, seine Scham über den Verlust der Würde ist zu groß.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2007Das Grübelmonster
Kritik und Konsum: Dag Solstads Lehrertragödie
Dag Solstad, ehemaliger Maoist und bekennender Ibsenist, hat bisher mehr als dreißig Bücher geschrieben, fünf davon allein über Fußball. Der große Rest scheint, nach den drei bisher ins Deutsche übersetzten Romanen aus den neunziger Jahren zu urteilen, vor allem um ein Thema zu kreisen: die große Klage des linken Idealisten über Konformismus und Opportunismus, die Einsamkeit des Denkenden im norwegischen Verblendungszusammenhang. In "Elfter Roman. Achtzehntes Buch" (1992) setzte sich ein von Frau, Geliebter und Sohn enttäuschter Kierkegaard-Leser am Ende in den Rollstuhl; in dem Ibsen-Krimi "Professor Andersens Nacht" (1996) haderte ein älterer Literaturprofessor mit seinen verbürgerlichten Freunden, "Scham und Würde" (1994) steht nach Entstehungszeit und Stoff ungefähr in der Mitte.
Auch Elias Rukla ist ein Mittfünfziger, der Ibsen und dem Alkohol zuspricht und sich als kritischer Intellektueller an den Rand gedrückt fühlt. Nach fünfundzwanzig Jahren im Fagerborg-Gymnasium wird der Studienrat jäh mit seiner Unzeitgemäßheit konfrontiert: Rukla glaubt in Doktor Relling (einer Nebenfigur aus der "Wildente", die gemeinhin als Sprachrohr Ibsens interpretiert wird) den "Feind des Stücks", ja, den heimlichen Widersacher des Autors entdeckt zu haben. Dass die Schüler seine Einsicht gelangweilt, überfordert und verständnislos wie alles hinnehmen, was er doziert, gibt dem ohnehin ausgebrannten Pädagogen den Rest: Er beschimpft eine Schülerin, zertrampelt seinen Regenschirm und quittiert spontan den Schuldienst.
Der Anfang ist vielversprechend. Mit boshaftem Witz und labyrinthisch verschachtelten Sätzen entwickelt Solstad aus einem Nebensatz Ibsens die Tragikomödie eines verbitterten Lehrers: Erst hadert Rukla nur mit sich und seiner "hoffnungslos altmodischen" Pädagogik, dann mit dem norwegischen Schulsystem, schließlich mit der ganzen Gesellschaft, die "Meister Ibsen" und das nationale Kulturerbe ohne Scham und Würde verschleudert. Rukla scheint in seiner stillen Wut zu allem fähig; aber bevor er sich in einen Amoklauf hineinschwadronieren kann, bricht Solstad den monomanischen Rundumschlag ab und blendet für den Rest des Romans in bessere Zeiten zurück.
Ende der Sechziger zog Rukla mit dem lebenslustigen Kantianer und späteren Marxisten Johan Corneliussen durch die Kneipen, bewunderte die tiefsinnigen Gedanken seines Freundes und dessen schmerzhaft schöne Freundin Eva. 1970 heirateten die beiden; sieben Jahre später, als seine philosophische Karriere stagnierte, brach Johan abrupt mit Frau und Freunden, um sich in New York als Werbedesigner und "Traumdeuter" der Warenästhetik ans Kapital zu verkaufen. In seinem Abschiedsbrief vermachte er Rukla Frau und Tochter, aber der wird nicht glücklich mit dem Geschenk. Eva, Ruklas "undenkbare Liebe", legt rasch an Gewicht und demütiger Verschlossenheit zu, und die Stieftochter bleibt Rukla so fremd wie das neue Norwegen überhaupt. Ein einsamer, griesgrämiger Sonderling, protestiert er mit nachlassender Verve und wachsender Verzweiflung gegen alles, was einen loyalen norwegischen Studienrat, einen "gesellschaftlich interessierten Menschen mit guter Ausbildung und einigermaßen gesundem Urteilsvermögen" auf die Palme bringen kann. Warum stellt das Fernsehen nicht mehr die grundlegenden Menschheitsfragen? Warum ist den verlotterten Medien die Affäre einer Fernsehansagerin wichtiger als der Tod eines bedeutenden Schriftstellers? Sind die "Kreditsklaven" und Konsumidioten so schamlos und verblödet, im Namen der Demokratie Anstand und Menschenwürde platt zu walzen? Und warum heißt das Schlafzimmer eigentlich Schlafzimmer? So dreht sich Rukla mit seinen Menschheitsfragen "gedankenversunken" und "gedankenvoll" im Kreis und variiert das ungute "Gefühl, als Mensch ausgedient zu haben, abgeschrieben zu sein".
Eine Zeitlang fasziniert die obsessive Beharrlichkeit, mit der er seine Gedanken bis zum bitteren Ende verfolgt; aber dann ermüden die Formlosigkeit und Redundanz seiner Suada doch. Zumal die beiden Männer ihre Ikonen Wittgenstein, Ibsen und Marx mehr von ferne anbeten und sich, je länger, desto mehr, in mysteriösen Exkursen über norwegisches Eishockey, die Literaturgeschichte der zwanziger Jahre oder die Straßennamen von Oslo verlieren. Solstads Kritik der Oberflächlichkeit geht selten in die Tiefe und nie ins Innere seiner Figuren. Was anfangs Wahn und Wut eines abgehängten Bildungsbürgers schien, ist am Ende nur noch das eintönige Klappern einer kulturkritischen Klagemühle. Einmal träumt Rukla, er dürfe bei Thomas Mann als Romanfigur vorsprechen. Aber ein inkonsistentes, inkontinentes Lehrerdrama ist noch kein Gesellschaftsroman, ein norwegisches Grübelmonster noch kein Hans Castorp.
MARTIN HALTER
Dag Solstad: "Scham und Würde". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2007. 207 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kritik und Konsum: Dag Solstads Lehrertragödie
Dag Solstad, ehemaliger Maoist und bekennender Ibsenist, hat bisher mehr als dreißig Bücher geschrieben, fünf davon allein über Fußball. Der große Rest scheint, nach den drei bisher ins Deutsche übersetzten Romanen aus den neunziger Jahren zu urteilen, vor allem um ein Thema zu kreisen: die große Klage des linken Idealisten über Konformismus und Opportunismus, die Einsamkeit des Denkenden im norwegischen Verblendungszusammenhang. In "Elfter Roman. Achtzehntes Buch" (1992) setzte sich ein von Frau, Geliebter und Sohn enttäuschter Kierkegaard-Leser am Ende in den Rollstuhl; in dem Ibsen-Krimi "Professor Andersens Nacht" (1996) haderte ein älterer Literaturprofessor mit seinen verbürgerlichten Freunden, "Scham und Würde" (1994) steht nach Entstehungszeit und Stoff ungefähr in der Mitte.
Auch Elias Rukla ist ein Mittfünfziger, der Ibsen und dem Alkohol zuspricht und sich als kritischer Intellektueller an den Rand gedrückt fühlt. Nach fünfundzwanzig Jahren im Fagerborg-Gymnasium wird der Studienrat jäh mit seiner Unzeitgemäßheit konfrontiert: Rukla glaubt in Doktor Relling (einer Nebenfigur aus der "Wildente", die gemeinhin als Sprachrohr Ibsens interpretiert wird) den "Feind des Stücks", ja, den heimlichen Widersacher des Autors entdeckt zu haben. Dass die Schüler seine Einsicht gelangweilt, überfordert und verständnislos wie alles hinnehmen, was er doziert, gibt dem ohnehin ausgebrannten Pädagogen den Rest: Er beschimpft eine Schülerin, zertrampelt seinen Regenschirm und quittiert spontan den Schuldienst.
Der Anfang ist vielversprechend. Mit boshaftem Witz und labyrinthisch verschachtelten Sätzen entwickelt Solstad aus einem Nebensatz Ibsens die Tragikomödie eines verbitterten Lehrers: Erst hadert Rukla nur mit sich und seiner "hoffnungslos altmodischen" Pädagogik, dann mit dem norwegischen Schulsystem, schließlich mit der ganzen Gesellschaft, die "Meister Ibsen" und das nationale Kulturerbe ohne Scham und Würde verschleudert. Rukla scheint in seiner stillen Wut zu allem fähig; aber bevor er sich in einen Amoklauf hineinschwadronieren kann, bricht Solstad den monomanischen Rundumschlag ab und blendet für den Rest des Romans in bessere Zeiten zurück.
Ende der Sechziger zog Rukla mit dem lebenslustigen Kantianer und späteren Marxisten Johan Corneliussen durch die Kneipen, bewunderte die tiefsinnigen Gedanken seines Freundes und dessen schmerzhaft schöne Freundin Eva. 1970 heirateten die beiden; sieben Jahre später, als seine philosophische Karriere stagnierte, brach Johan abrupt mit Frau und Freunden, um sich in New York als Werbedesigner und "Traumdeuter" der Warenästhetik ans Kapital zu verkaufen. In seinem Abschiedsbrief vermachte er Rukla Frau und Tochter, aber der wird nicht glücklich mit dem Geschenk. Eva, Ruklas "undenkbare Liebe", legt rasch an Gewicht und demütiger Verschlossenheit zu, und die Stieftochter bleibt Rukla so fremd wie das neue Norwegen überhaupt. Ein einsamer, griesgrämiger Sonderling, protestiert er mit nachlassender Verve und wachsender Verzweiflung gegen alles, was einen loyalen norwegischen Studienrat, einen "gesellschaftlich interessierten Menschen mit guter Ausbildung und einigermaßen gesundem Urteilsvermögen" auf die Palme bringen kann. Warum stellt das Fernsehen nicht mehr die grundlegenden Menschheitsfragen? Warum ist den verlotterten Medien die Affäre einer Fernsehansagerin wichtiger als der Tod eines bedeutenden Schriftstellers? Sind die "Kreditsklaven" und Konsumidioten so schamlos und verblödet, im Namen der Demokratie Anstand und Menschenwürde platt zu walzen? Und warum heißt das Schlafzimmer eigentlich Schlafzimmer? So dreht sich Rukla mit seinen Menschheitsfragen "gedankenversunken" und "gedankenvoll" im Kreis und variiert das ungute "Gefühl, als Mensch ausgedient zu haben, abgeschrieben zu sein".
Eine Zeitlang fasziniert die obsessive Beharrlichkeit, mit der er seine Gedanken bis zum bitteren Ende verfolgt; aber dann ermüden die Formlosigkeit und Redundanz seiner Suada doch. Zumal die beiden Männer ihre Ikonen Wittgenstein, Ibsen und Marx mehr von ferne anbeten und sich, je länger, desto mehr, in mysteriösen Exkursen über norwegisches Eishockey, die Literaturgeschichte der zwanziger Jahre oder die Straßennamen von Oslo verlieren. Solstads Kritik der Oberflächlichkeit geht selten in die Tiefe und nie ins Innere seiner Figuren. Was anfangs Wahn und Wut eines abgehängten Bildungsbürgers schien, ist am Ende nur noch das eintönige Klappern einer kulturkritischen Klagemühle. Einmal träumt Rukla, er dürfe bei Thomas Mann als Romanfigur vorsprechen. Aber ein inkonsistentes, inkontinentes Lehrerdrama ist noch kein Gesellschaftsroman, ein norwegisches Grübelmonster noch kein Hans Castorp.
MARTIN HALTER
Dag Solstad: "Scham und Würde". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2007. 207 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Was Aldo Keel über diesen Roman erzählt, klingt ehrlich gesagt etwas durcheinander, scheint sich aber aus derart interessanten Elementen zusammenzusetzen, dass man versucht ist, eine Lektüre des Romans zu wagen. Keel verweist zunächst auf den Rang des Autors, der in Norwegen als Repräsentant der jüngeren Autorengeneration gelte und sich dabei auf Autoren wie Thomas Mann und Milan Kundera bezieht, deren ironisch verschachtelte Konstruktionen ihn zu inspirieren scheinen. In Rukla, einem Lehrer in Existenzkrise, der an der Vermittlung von Ibsens "Wildente" an eine agressiv desinteressierte Schülerschaft verzweifelt, erkennt Keel ebenfalls einen Repräsentanten - die Figur eines gescheiterten Intellektuellen der Nach-68er-Zeit, der auf seinen Anspruch längst verzichtet hat, wie so viele einigermaßen Begabte aus seiner Generation, die unter Zuhilfnahme fader Popironie der Rente entgegendämmern. In einer tragikomischen Szene mit Regenschirm beweist Rukla aber immerhin genug Statur, um mit seiner Situation zu brechen. Keel scheint sehr angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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