Ein Erfolgsroman, in dem die Erzählerin genüsslich ihren Analverkehr schildert; eine Pop-Diva, die in einem Kleid aus Rindfleisch ins Rampenlicht tritt; eine knapp dem Tod entronnene Moderatorin, die vor laufender Kamera einen Heiratsantrag stammelt: Leben wir in einer Kultur der Schamlosigkeit? Der Vorwurf moralischer Verwahrlosung gehört zum Repertoire jeglicher Kulturkritik. Aber hat sich nicht doch etwas verändert? Mit klarem Blick spürt Ulrich Greiner Scham- und Peinlichkeitsgefühlen nach, wie sie uns im Alltag und in literarischen Texten begegnen. Denn die Literatur ist ein einzigartiges Archiv der Schamgeschichte. So öffnet dieses elegant geschriebene Buch den Blick für den Wandel der Zeit und die Gesellschaft, in der wir leben.
«GREINER IST EIN GLÄNZENDER NACHERZÄHLER.» Der Tagesspiegel
«GREINER IST EIN GLÄNZENDER NACHERZÄHLER.» Der Tagesspiegel
"Greiners kluger Leitfaden bleibt kaum eine Antwort schuldig." -- Die Welt über "Ulrich Greiners Leseverführer"
"Greiner ist ein glänzender Nacherzähler." -- Der Tagesspiegel über "Ulrich Greiners Leseverführer"
"Greiner ist ein glänzender Nacherzähler." -- Der Tagesspiegel über "Ulrich Greiners Leseverführer"
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2014Früher hätte man das nicht austrompetet
Wie schamlos sind wir geworden? – Der Literaturkritiker Ulrich Greiner erzählt vom „Wandel der Gefühlskultur“ und vermeidet dabei das Predigen
Leben wir in einer Zeit des Schamverlustes? Jeder weiß zumindest, was damit gemeint ist oder hat doch im Kopf, was er selbst so bezeichnen würde. Vor Wochen in der Straßenbahn hörte der Rezensent jemanden in sein Mobiltelefon rufen, dass er pleite sei, er bekomme nirgends Geld mehr, bei der Schufa stehe er „rabenschwarz“ da – schwer, den Eindruck von Schamverlust abzuwehren. Früher hätte man das nicht austrompetet.
Ulrich Greiner, einer der feinsten deutschen Literaturkritiker und langjähriger Feuilletonchef der Zeit , hat sein jüngstes Buch „Schamverlust“ betitelt. Aber ins Genre der Zeit- und Kulturkritik fügt es sich nicht, nicht ohne weiteres. Dabei gehört Greiner zum Jahrgang 1945, damit sitzt er auf einem Logenplatz der Zeitdiagnostik. Von dort hat er die Studentenbewegung miterlebt, die die Normen der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch das davon bestimmte Schamgefühl attackierte. Er weiß davon sehr gut zu erzählen; Oswald Kolles Sexualaufklärung als „sozialpflegerisch“ zu bezeichnen, öffnet ein Fenster, das im Kampf gegen den Muff der Adenauer-Zeit – einen Kampf, der kein Ende kennt – gern verriegelt gehalten wird. Aber Greiner weiß als Leser, dass Normbruch und Schamverletzung keine neuen Beobachtungen sind. Er erinnert an Peter Walsh, der in Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ 1923 aus dem Kolonialdienst nach London zurückkehrt und darüber staunt, wie vieles öffentlich ist, was zehn Jahren zuvor noch durch Schamempfinden verdeckt wurde. Schon immer, so Greiner, war es das „zweifelhafte Privileg der Älteren“, Sittenverfall wahrzunehmen. Die Entstehung neuer Sitten ist dagegen schwerer zu diagnostizieren, zu diesem Zweck wird man sich auch nicht an die Alten wenden.
Auch das Feld der Körper- oder Sexualscham ist nicht leicht beurteilt. Wohl sieht man heute Lehrer im Muscle-Shirt und Schülerinnen, deren Dekolleté „einstmals selbst auf einer Silvesterparty aufgefallen wäre“. Aber Greiner weist auf Norbert Elias hin, der die Lockerung der Kleidungssitten mit einem erhöhten „Standard der Triebgebundenheit“ erklärte. Und die merkwürdige Karriere, die das Wort „Schlampe“ in den letzten Jahren machte, deutet ja wohl auf ein Normbewusstsein, wenn auch in ironischer Verkleidung.
Auch solche Punkte steuert Greiner an, aber eher nebenbei. Ihn interessieren weniger Kleidungskonventionen oder die Aufregungen des Fernsehens – auch wenn die Casting-Shows mit ihrer Darstellung von Missgeschick und Versagen eine eigene Form von Schamverletzung bedeuten. Greiner beschäftigt das Schamgefühl als eine elementare ethische und ästhetische Kategorie. Wer Scham empfindet, sieht sich mit den Augen andrer, er überschreitet die Grenzen seines Ichs. Insofern ist Schamgefühl auch nichts Kleinbürgerliches, Beengtes, es entsteht aus einem erweiterten Blick. Und es ist reflexiv. Wer sich schämt, nimmt ein Verhältnis zu sich selbst ein. Scham, so Greiner, ist nicht „eine anerzogene Unart, die man sich abgewöhnen sollte, sondern die Bedingung von Moral schlechthin“. Davon setzt er die Peinlichkeit als schwächere Variante ab. Peinlichkeit setzt die Beobachtung durch Dritte voraus, peinlich ist, was in die soziale Situation nicht passt. Scham aber empfinde ich auch allein mit mir, ohne dass jemand von meiner Schwäche hätte erfahren müssen. Scham ist dem Gewissen verschwistert, es hat mit dem Gefühl von Schuld zu tun. Greiner weist auf die Opposition von Scham- und Schuldkultur hin, von der nach 1945 viel gesprochen wurde. Ruth Benedict, eine amerikanische Anthropologin, hatte die japanische Welt als Schamkultur bezeichnet, durch externe Sanktionen gesteuert. Die Schamkultur legt größten Wert auf Gesichtswahrung. Schuld dagegen ist eine interne Tatsache, sie wird empfunden, ohne dass es der Öffentlichkeit bedurfte.
Wie genau Japan hier erfasst ist oder nicht, für die westliche Welt liegen Schuld und Scham eng beieinander. Das macht sie so wichtig, gerade für die Literatur. Scham ist ein ästhetisches Phänomen, nicht allein, weil sie oft Körperliches betrifft. Sie ist der geborene Gegenstand der Literatur. „Jeder gute Schriftsteller empfindet Scham“, heißt es bei Jonathan Franzen, denn, so Greiner, „im Schamgefühl begegne ich mir selber, und Selbstbegegnung ist die Bedingung von Literatur“. Hier hat Greiners Buch seine schönsten Vorzüge. Im Zusammenhang der Scham auf Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ zu kommen, das würde vielen gelingen. Aber Greiner weiß über Rudolf Borchardts „Der unwürdige Liebhaber“, eine Geschichte der Schamverletzung und Selbsthinrichtung so zu sprechen, dass jeder, der die Erzählung nicht kennt, sich vornimmt, sie und nichts anderes als nächstes zu lesen.
Mit Borchardt, Bernanos und auch mit Dostojewski ruft Greiner Zeugen auf, die man nicht einer liberal gesinnten Fortschrittspartei zurechnen wird. Aber er sieht Scham als Gewissensäußerung, und das Gewissen gehe letztlich auf religiöse Überzeugungen zurück. So liest er auch Kafka, als den Autor neuer Erzählungen einer Urschuld, wie wir sie aus dem 1. Buch Moses als die Geschichte vom Sündenfall kennen. Aus dieser Schuld kommt die Scham. Mit dem Genuss der verbotenen Äpfel sehen sich Adam und Eva mit den Augen des je anderen, jetzt erst erkennen sie, dass sie nackt sind.
Das Christentum ist eine zur Introspektion neigende Religion, vor allem in den protestantischen Formen. Was immer geschah, es wird offenbar, nichts bleibt ungerichtet, wie es in der lateinischen Totenliturgie heißt. Deshalb ist für den Gläubigen die soziale Anerkennung oder Missachtung zweitrangig. (Ergiebig wäre es wohl, der von Greiner geschulten Blick auf die antike Dichtung zu werfen. Scham, Trauer, Entzweiung sind dort vermutlich viel stärker objektive Größen, unser Elend kommt nicht aus uns, sondern, wie im letzten Gesang der Ilias ausgesprochen, aus der Willkür der Götter.) Greiners Verdacht – er neigt nicht zur Predigt – ist, dass mit der religiösen Abschwächung unseres Lebens diese Scham sich verliert. Darin liegt eine Entdramatisierung, die Entlastung bedeutet. Aber das Gewissen mit seiner steuernden, auch bedrückenden Kraft verschwindet nicht ersatzlos. Es macht den Platz frei für die „Rituale der Peinlichkeit“. Die Peinlichkeit, richtiger: der Wunsch, Peinlichkeiten zu vermeiden, steuert die Anpassung an die „schnell wechselnden Anforderungen im beschleunigten Kapitalismus“. Man muss schon sehr fest an den Segen des Immanentismus glauben, um das für den blanken Fortschritt zu halten.
STEPHAN SPEICHER
Das Gewissen wird schwächer,
macht Platz für
„Rituale der Peinlichkeit“
Ulrich Greiner:
Schamverlust. Vom
Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014.
352 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie schamlos sind wir geworden? – Der Literaturkritiker Ulrich Greiner erzählt vom „Wandel der Gefühlskultur“ und vermeidet dabei das Predigen
Leben wir in einer Zeit des Schamverlustes? Jeder weiß zumindest, was damit gemeint ist oder hat doch im Kopf, was er selbst so bezeichnen würde. Vor Wochen in der Straßenbahn hörte der Rezensent jemanden in sein Mobiltelefon rufen, dass er pleite sei, er bekomme nirgends Geld mehr, bei der Schufa stehe er „rabenschwarz“ da – schwer, den Eindruck von Schamverlust abzuwehren. Früher hätte man das nicht austrompetet.
Ulrich Greiner, einer der feinsten deutschen Literaturkritiker und langjähriger Feuilletonchef der Zeit , hat sein jüngstes Buch „Schamverlust“ betitelt. Aber ins Genre der Zeit- und Kulturkritik fügt es sich nicht, nicht ohne weiteres. Dabei gehört Greiner zum Jahrgang 1945, damit sitzt er auf einem Logenplatz der Zeitdiagnostik. Von dort hat er die Studentenbewegung miterlebt, die die Normen der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch das davon bestimmte Schamgefühl attackierte. Er weiß davon sehr gut zu erzählen; Oswald Kolles Sexualaufklärung als „sozialpflegerisch“ zu bezeichnen, öffnet ein Fenster, das im Kampf gegen den Muff der Adenauer-Zeit – einen Kampf, der kein Ende kennt – gern verriegelt gehalten wird. Aber Greiner weiß als Leser, dass Normbruch und Schamverletzung keine neuen Beobachtungen sind. Er erinnert an Peter Walsh, der in Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ 1923 aus dem Kolonialdienst nach London zurückkehrt und darüber staunt, wie vieles öffentlich ist, was zehn Jahren zuvor noch durch Schamempfinden verdeckt wurde. Schon immer, so Greiner, war es das „zweifelhafte Privileg der Älteren“, Sittenverfall wahrzunehmen. Die Entstehung neuer Sitten ist dagegen schwerer zu diagnostizieren, zu diesem Zweck wird man sich auch nicht an die Alten wenden.
Auch das Feld der Körper- oder Sexualscham ist nicht leicht beurteilt. Wohl sieht man heute Lehrer im Muscle-Shirt und Schülerinnen, deren Dekolleté „einstmals selbst auf einer Silvesterparty aufgefallen wäre“. Aber Greiner weist auf Norbert Elias hin, der die Lockerung der Kleidungssitten mit einem erhöhten „Standard der Triebgebundenheit“ erklärte. Und die merkwürdige Karriere, die das Wort „Schlampe“ in den letzten Jahren machte, deutet ja wohl auf ein Normbewusstsein, wenn auch in ironischer Verkleidung.
Auch solche Punkte steuert Greiner an, aber eher nebenbei. Ihn interessieren weniger Kleidungskonventionen oder die Aufregungen des Fernsehens – auch wenn die Casting-Shows mit ihrer Darstellung von Missgeschick und Versagen eine eigene Form von Schamverletzung bedeuten. Greiner beschäftigt das Schamgefühl als eine elementare ethische und ästhetische Kategorie. Wer Scham empfindet, sieht sich mit den Augen andrer, er überschreitet die Grenzen seines Ichs. Insofern ist Schamgefühl auch nichts Kleinbürgerliches, Beengtes, es entsteht aus einem erweiterten Blick. Und es ist reflexiv. Wer sich schämt, nimmt ein Verhältnis zu sich selbst ein. Scham, so Greiner, ist nicht „eine anerzogene Unart, die man sich abgewöhnen sollte, sondern die Bedingung von Moral schlechthin“. Davon setzt er die Peinlichkeit als schwächere Variante ab. Peinlichkeit setzt die Beobachtung durch Dritte voraus, peinlich ist, was in die soziale Situation nicht passt. Scham aber empfinde ich auch allein mit mir, ohne dass jemand von meiner Schwäche hätte erfahren müssen. Scham ist dem Gewissen verschwistert, es hat mit dem Gefühl von Schuld zu tun. Greiner weist auf die Opposition von Scham- und Schuldkultur hin, von der nach 1945 viel gesprochen wurde. Ruth Benedict, eine amerikanische Anthropologin, hatte die japanische Welt als Schamkultur bezeichnet, durch externe Sanktionen gesteuert. Die Schamkultur legt größten Wert auf Gesichtswahrung. Schuld dagegen ist eine interne Tatsache, sie wird empfunden, ohne dass es der Öffentlichkeit bedurfte.
Wie genau Japan hier erfasst ist oder nicht, für die westliche Welt liegen Schuld und Scham eng beieinander. Das macht sie so wichtig, gerade für die Literatur. Scham ist ein ästhetisches Phänomen, nicht allein, weil sie oft Körperliches betrifft. Sie ist der geborene Gegenstand der Literatur. „Jeder gute Schriftsteller empfindet Scham“, heißt es bei Jonathan Franzen, denn, so Greiner, „im Schamgefühl begegne ich mir selber, und Selbstbegegnung ist die Bedingung von Literatur“. Hier hat Greiners Buch seine schönsten Vorzüge. Im Zusammenhang der Scham auf Arthur Schnitzlers „Fräulein Else“ zu kommen, das würde vielen gelingen. Aber Greiner weiß über Rudolf Borchardts „Der unwürdige Liebhaber“, eine Geschichte der Schamverletzung und Selbsthinrichtung so zu sprechen, dass jeder, der die Erzählung nicht kennt, sich vornimmt, sie und nichts anderes als nächstes zu lesen.
Mit Borchardt, Bernanos und auch mit Dostojewski ruft Greiner Zeugen auf, die man nicht einer liberal gesinnten Fortschrittspartei zurechnen wird. Aber er sieht Scham als Gewissensäußerung, und das Gewissen gehe letztlich auf religiöse Überzeugungen zurück. So liest er auch Kafka, als den Autor neuer Erzählungen einer Urschuld, wie wir sie aus dem 1. Buch Moses als die Geschichte vom Sündenfall kennen. Aus dieser Schuld kommt die Scham. Mit dem Genuss der verbotenen Äpfel sehen sich Adam und Eva mit den Augen des je anderen, jetzt erst erkennen sie, dass sie nackt sind.
Das Christentum ist eine zur Introspektion neigende Religion, vor allem in den protestantischen Formen. Was immer geschah, es wird offenbar, nichts bleibt ungerichtet, wie es in der lateinischen Totenliturgie heißt. Deshalb ist für den Gläubigen die soziale Anerkennung oder Missachtung zweitrangig. (Ergiebig wäre es wohl, der von Greiner geschulten Blick auf die antike Dichtung zu werfen. Scham, Trauer, Entzweiung sind dort vermutlich viel stärker objektive Größen, unser Elend kommt nicht aus uns, sondern, wie im letzten Gesang der Ilias ausgesprochen, aus der Willkür der Götter.) Greiners Verdacht – er neigt nicht zur Predigt – ist, dass mit der religiösen Abschwächung unseres Lebens diese Scham sich verliert. Darin liegt eine Entdramatisierung, die Entlastung bedeutet. Aber das Gewissen mit seiner steuernden, auch bedrückenden Kraft verschwindet nicht ersatzlos. Es macht den Platz frei für die „Rituale der Peinlichkeit“. Die Peinlichkeit, richtiger: der Wunsch, Peinlichkeiten zu vermeiden, steuert die Anpassung an die „schnell wechselnden Anforderungen im beschleunigten Kapitalismus“. Man muss schon sehr fest an den Segen des Immanentismus glauben, um das für den blanken Fortschritt zu halten.
STEPHAN SPEICHER
Das Gewissen wird schwächer,
macht Platz für
„Rituale der Peinlichkeit“
Ulrich Greiner:
Schamverlust. Vom
Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014.
352 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lorenz Jäger hat Ulrich Greiners Buch über "Schamverlust" als eine "Studie zum öffentlichen Benehmen" gelesen. Er attestiert dem Literaturwissenschaftler treffende, wenn auch nicht unbedingt neue Beobachtungen über die Verschiebung der Schamgrenzen. Greiners kulturkritische Äußerungen bleiben für Jägers Geschmack dabei fast zu milde. Auch die Auseinandersetzung des Autors mit dem Schamverlust im Blick auf die Literatur- und Ideengeschichte, die auf eine "Galerie beschämter Helden" hinausläuft, scheint Jäger nicht ganz befriedigend. Ebenso kann ihn Greiners These, an die Stelle von alter Schuld- und noch älterer Schamkultur sei eine Peinlichkeitskultur ohne Gewissen und Tragik getreten, letztlich nicht recht überzeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2014Wem echt nichts mehr peinlich ist
Nie ohne Wasserflasche: Ulrich Greiners Studie zum öffentlichen Benehmen
Der bekannte Literaturkritiker beginnt mit einer Erinnerung. Er war einer der Zeugen des "Busen-Attentats" von drei jungen Frauen auf Theodor W. Adorno im Frühjahr 1969. Der Philosoph wurde, so berichtet Greiner, "von den Studentinnen umringt, die ihre Jacken öffneten und ihn mit ihren nackten Brüsten bedrängten. Adorno wehrte sich mit erhobener Aktentasche und floh aus dem Saal." Greiner war im Hörsaal. Bemerkenswert erscheint ihm im Rückblick, dass alle Beteiligten - manche sofort, andere später - sich schämten. Hannah Weitemeier, die mitgetan hatte, sagte in einem Interview 2003: "Wäre ich tot und würde Adorno begegnen, ich würde ihn bitten, dass er mir vergibt."
Inzwischen haben sich die Schamgrenzen weiter verschoben. Die radikalfeministische Gruppe "Femen" hat solche Aktionen fast veralltäglicht; im Februar dieses Jahres traten zwei Femen-Aktivistinnen in Dresden zum Jahrestag der Bombardierung auf, die Bezirksverordnete der Piraten für Neukölln hatte dabei "Thanks Bomber Harris" auf ihren Oberkörper geschrieben. Aber die Grenzen des Schicklichen wurden seit 1969 auch noch viel weiter ausgeleiert - so sehr, dass es nur die Älteren (zu denen Greiner, Jahrgang 1945, gehört) überhaupt noch bemerken. Das ständige öffentliche Trinken aus Wasserflaschen gehört zu diesem Symptomkreis, gerechtfertigt mit der Gefahr der Dehydrierung. Man fragt sich, wie die Menschen früher überhaupt leben konnten.
Nacktproteste sind also nicht der einzige Befund in Greiners Buch. Am Anfang standen die Achtundsechziger: "Ihr Ziel bestand darin, alle Schamgefühle und Intimitätsbedürfnisse als Relikte einer bürgerlichen Kultur zu begreifen, die es zu überwinden galt." Gleichzeitig unterlagen die Achtundsechziger ebenso wie ihre Kritiker aber einer Selbsttäuschung. Denn der Radikal-Hedonismus, den die Aktivisten für sozialistisch hielten, war nur der Beginn eines neuen moralischen Konsenses, der, so Greiners Vermutung, wie angegossen zum globalisierten Kapitalismus passt, der mit Traditionen aufräumen musste. Solche Beobachtungen sind triftig, aber man hat sie so ähnlich auch schon anderswo gelesen. Und als kulturkritischer Traktat genommen, ist das Buch zu moderat, ein paar Tiefschläge mehr, meinetwegen auch "fundamentalistische", hätte man sich schon gefallen lassen.
Greiners Anspruch reicht aber weiter. Er geht tief in die Literatur- und Ideengeschichte. Aber auch als literaturwissenschaftliche Abhandlung genommen, befriedigt das Buch, eine Galerie beschämter Helden, nicht gänzlich. Dabei hat Greiner doch eine These. Sie lautet, dass "an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit". Schuld und Scham setzten ein Gewissen voraus, Peinlichkeit aber nur eine Umgangsform - Tragik falle nun aus. Aber diese klare Grenze löst sich wieder auf, wenn es etwa von einer Szene in Dostojewskis "Doppelgänger" heißt, sie sei "der Anfang eines einzigen Schamexzesses, einer Kette von Peinlichkeiten, Beschämungen und vernichtenden Erlebnissen". Und ob die Tragik wirklich, wie Greiner glaubt, verschwindet? Die Selbstmorde nach Mobbing in sozialen Netzwerken legen einen anderen Schluss nahe.
LORENZ JÄGER
Ulrich Greiner: "Schamverlust". Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 352 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nie ohne Wasserflasche: Ulrich Greiners Studie zum öffentlichen Benehmen
Der bekannte Literaturkritiker beginnt mit einer Erinnerung. Er war einer der Zeugen des "Busen-Attentats" von drei jungen Frauen auf Theodor W. Adorno im Frühjahr 1969. Der Philosoph wurde, so berichtet Greiner, "von den Studentinnen umringt, die ihre Jacken öffneten und ihn mit ihren nackten Brüsten bedrängten. Adorno wehrte sich mit erhobener Aktentasche und floh aus dem Saal." Greiner war im Hörsaal. Bemerkenswert erscheint ihm im Rückblick, dass alle Beteiligten - manche sofort, andere später - sich schämten. Hannah Weitemeier, die mitgetan hatte, sagte in einem Interview 2003: "Wäre ich tot und würde Adorno begegnen, ich würde ihn bitten, dass er mir vergibt."
Inzwischen haben sich die Schamgrenzen weiter verschoben. Die radikalfeministische Gruppe "Femen" hat solche Aktionen fast veralltäglicht; im Februar dieses Jahres traten zwei Femen-Aktivistinnen in Dresden zum Jahrestag der Bombardierung auf, die Bezirksverordnete der Piraten für Neukölln hatte dabei "Thanks Bomber Harris" auf ihren Oberkörper geschrieben. Aber die Grenzen des Schicklichen wurden seit 1969 auch noch viel weiter ausgeleiert - so sehr, dass es nur die Älteren (zu denen Greiner, Jahrgang 1945, gehört) überhaupt noch bemerken. Das ständige öffentliche Trinken aus Wasserflaschen gehört zu diesem Symptomkreis, gerechtfertigt mit der Gefahr der Dehydrierung. Man fragt sich, wie die Menschen früher überhaupt leben konnten.
Nacktproteste sind also nicht der einzige Befund in Greiners Buch. Am Anfang standen die Achtundsechziger: "Ihr Ziel bestand darin, alle Schamgefühle und Intimitätsbedürfnisse als Relikte einer bürgerlichen Kultur zu begreifen, die es zu überwinden galt." Gleichzeitig unterlagen die Achtundsechziger ebenso wie ihre Kritiker aber einer Selbsttäuschung. Denn der Radikal-Hedonismus, den die Aktivisten für sozialistisch hielten, war nur der Beginn eines neuen moralischen Konsenses, der, so Greiners Vermutung, wie angegossen zum globalisierten Kapitalismus passt, der mit Traditionen aufräumen musste. Solche Beobachtungen sind triftig, aber man hat sie so ähnlich auch schon anderswo gelesen. Und als kulturkritischer Traktat genommen, ist das Buch zu moderat, ein paar Tiefschläge mehr, meinetwegen auch "fundamentalistische", hätte man sich schon gefallen lassen.
Greiners Anspruch reicht aber weiter. Er geht tief in die Literatur- und Ideengeschichte. Aber auch als literaturwissenschaftliche Abhandlung genommen, befriedigt das Buch, eine Galerie beschämter Helden, nicht gänzlich. Dabei hat Greiner doch eine These. Sie lautet, dass "an die Stelle der alten Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit". Schuld und Scham setzten ein Gewissen voraus, Peinlichkeit aber nur eine Umgangsform - Tragik falle nun aus. Aber diese klare Grenze löst sich wieder auf, wenn es etwa von einer Szene in Dostojewskis "Doppelgänger" heißt, sie sei "der Anfang eines einzigen Schamexzesses, einer Kette von Peinlichkeiten, Beschämungen und vernichtenden Erlebnissen". Und ob die Tragik wirklich, wie Greiner glaubt, verschwindet? Die Selbstmorde nach Mobbing in sozialen Netzwerken legen einen anderen Schluss nahe.
LORENZ JÄGER
Ulrich Greiner: "Schamverlust". Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 352 S., geb., 22,95 [Euro].
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Wie Greiner im Durchgang durch kanonische Gesellschaftsromane leichthändig Aspekte einer sich verändernden Schamkultur herausarbeitet, bringt soziologisch einigen Gewinn. taz