Willy Brandt, der wirkmächtigste deutsche Außenminister nach Gustav Stresemann, war vor allem Realist und Pragmatiker. In seiner Zeit als Außenminister der Großen Koalition (1966-1969) vollzog sich die entscheidende Metamorphose seiner ost- und deutschlandpolitischen Konzeption. Dabei hielt er stets am Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit fest.Maak Flatten beleuchtet kontrovers diskutierte Fragen zur deutschen Außenpolitik und Biographie Willy Brandts neu und zeigt, wie tief die Differenzen zwischen Brandt und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger waren. Die Grundlage für die Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung, also für die Moskauer und Warschauer Verträge sowie den Grundlagenvertrag mit der DDR, war der konkrete Gewaltverzicht. Dieser nahm bereits in Brandts Außenministerzeit Gestalt an, seine Umsetzung aber wurde damals noch von der CDU/CSU vereitelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Der Suchende und Tastende
Eine Studie über Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition
Obwohl es eine Reihe von Willy-Brandt-Biographien gibt, steht ein großes wissenschaftliches Opus über die "sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" noch aus. Maak Flatten erhebt den Anspruch, mit seiner Studie über Brandt als Außenminister in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 "einen Markstein auf dem schwierigen Weg zu einer wissenschaftlich fundierten Biographie [. . .] zu setzen". Auf den Außenminister fokussiert er sich, weil dieser bisher vom späteren Bundeskanzler und der "Ikone der deutschen Einheit" "überstrahlt" worden sei.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Buches zeugt allerdings davon, dass bereits eine dichte Forschungsliteratur über die Außenpolitik der Großen Koalition und die Entstehung der Ost- und Deutschlandpolitik vorhanden ist. Der Autor meint jedoch, dass in diesen Arbeiten eine "Reihe von Fragen" unbeantwortet geblieben sei. Einen neuen innovativen Ansatz verfolgt er jedoch nicht. Er bewegt sich in einem traditionellen Interpretationsrahmen, wenn er Brandts Agieren im Außenministerium als eine "Scharnierzeit" für die Ost- und Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers der sozialliberalen Koalition begreift.
Dies ist nicht zuletzt der Quellenauswahl geschuldet. Während er vor allem die Edition "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland", die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts und den Nachlass Egon Bahrs, mit dem er auch mehrere Gespräche geführt hat, akribisch auswertet, zieht er Quellen aus ausländischen Archiven nicht zurate. Die Bewertung von Brandts Persönlichkeit und Politik durch ausländische Politiker kommt so vielfach zu kurz, seine Wahrnehmung im Ausland als der "andere Deutsche" wird nicht thematisiert, obwohl sich ihm dadurch Handlungsmöglichkeiten eröffneten.
Flatten konzentriert sich auf die Ost- und Deutschlandpolitik Brandts, während er die Europapolitik kursorisch behandelt. Brandts Politik innerhalb der NATO und Westeuropäischen Union wird insbesondere unter der Perspektive "Versöhnung von Entspannungs- und Bündnispolitik", die im Harmel-Bericht ihren Niederschlag fand, in den Blick genommen.
Das Ergebnis von Flattens Studie, dass aufgrund der "intransigenten Haltung des Ostens" sowie der "Uneinigkeit der Koalitionspartner" der "erwünschte Erfolg" in der Ost- und Deutschlandpolitik ausblieb, ist in der Forschung weitgehend unumstritten. Minutiöser als die bisherige Literatur arbeitet er heraus, dass für Brandt seine Zeit als Außenminister eine Phase des "Suchens, des Tastens und des Tarierens" war, in der er seine ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen entwickelte, die "sich nicht nur in Nuancen und Details, sondern grundlegend von den Positionen" unterschieden, die er noch 1966 auf dem Dortmunder Parteitag der SPD eingenommen hatte. Eingehender als andere Studien betont er die Differenzen zwischen CDU/CSU und SPD sowie Brandt und Kiesinger und widerlegt so überzeugend eine Forschungsmeinung, die in Brandt einen Vollstrecker der von Kiesinger eingeleiteten Ostpolitik sieht. Dass der Konsens der Koalitionsparteien nicht erst nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" zerbrach, zeichnet Flatten ebenfalls detailgenau nach.
Schon bei der Ausformulierung des außen- und deutschlandpolitischen Teils des Koalitionsvertrags, bei der die Union der SPD weit entgegengekommen war, wurden strittige Punkte durch Formelkompromisse überdeckt. Während der Kanzler den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Rumänien Anfang 1967 bekräftigte, schloss sein Außenminister den Anspruch Ostberlins auf "Selbstvertretung" nicht aus. Als Brandt während eines Aufenthalts in Bukarest im August 1967 davon sprach, dass bei den "Bemühungen um eine europäische Friedensordnung von den gegebenen Realitäten auszugehen" sei, und diese Feststellung auch auf die "beiden politischen Ordnungen, die gegenwärtig auf deutschem Boden bestehen", bezogen wissen wollte, stieß er sowohl bei Kiesinger als auch der CDU/CSU-Fraktion auf heftige Kritik.
Im Frühjahr 1968 war der Vorrat an Gemeinsamkeiten weitgehend aufgebraucht. Brandt überschritt die rote Linie abermals, als er auf dem Parteitag der SPD die "Anerkennung bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung" zu einem zentralen Baustein sozialdemokratischer Ostpolitik erklärte. Schon wenige Monate später drohte der Koalitionsbruch, weil Brandt auf die Unterzeichnung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen drang, während Franz Josef Strauß dies strikt ablehnte und Kiesinger, um den Zusammenhalt der Unionsfraktion nicht zu gefährden, die Entscheidung verzögerte. Das militärische Eingreifen Moskaus in der Tschechoslowakei, durch das Brandt in die Defensive geriet, verhinderte ein frühes Scheitern der Großen Koalition.
Im September 1968 erwog Brandt, die Koalition platzen zu lassen, weil der Bundeskanzler eine Umformulierung seiner bereits an die Presse verteilten Rede auf der Konferenz der Nichtnuklearwaffenstaaten in Genf verlangte. "Wie komme ich dazu, mir von diesem alten Nazi Vorschriften machen zu lassen?", brach es aus ihm hervor. In seinem viel Beifall findenden Vortrag trug er nur einem Teil der Einwände Kiesingers Rechnung.
Anfang 1969 ließ der Bundeskanzler Vorschläge Brandts für einen Gewaltverzichtsdialog mit Moskau auf seinem Schreibtisch liegen. Begriff der Außenminister den Budapester Appell der Warschauer-Pakt-Staaten vom März 1969, in dem erstmals auf Revanchismusvorwürfe gegenüber der Bundesrepublik und die Forderung nach einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verzichtet wurde, als eine Chane für die Aufnahme von Gewaltverzichtsverhandlungen mit Moskau, so sah der Bundeskanzler in ihm eine Gefahr, weil in ihm der "harte Kern der Anerkennung des Status quo" stecke. Die bekannten Auseinandersetzungen über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Kambodscha ließen bei Brandt endgültig den Entschluss reifen, seine Politik nach der Wahl mit der FDP als Koalitionspartner durchzusetzen.
Flatten bestätigt das verbreitete Narrativ, dass Kiesinger und die CDU/CSU in der Koalition eine Bremser-, Brandt und die SPD eine Vorreiterrolle spielten, was zwangsläufig nach der Bundestagswahl zu einem Koalitionswechsel führte, da sich die ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen von SPD und FDP weitgehend deckten und daher in kürzester Zeit umgesetzt werden konnten. Die Detailgenauigkeit ist die große Stärke, aber auch die große Schwäche dieser voluminösen Dissertation, die auf vielen Seiten einem langatmigen Aktenreferat gleicht. Eine wissenschaftliche Brandt-Biographie wird man in dieser Form nicht schreiben können. PETRA WEBER
Maak Flatten: Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966 -1969).
Verlag J.HW. Dietz, Bonn 2021. 760 S., 64,-Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Studie über Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition
Obwohl es eine Reihe von Willy-Brandt-Biographien gibt, steht ein großes wissenschaftliches Opus über die "sozialdemokratische Jahrhundertgestalt" noch aus. Maak Flatten erhebt den Anspruch, mit seiner Studie über Brandt als Außenminister in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 "einen Markstein auf dem schwierigen Weg zu einer wissenschaftlich fundierten Biographie [. . .] zu setzen". Auf den Außenminister fokussiert er sich, weil dieser bisher vom späteren Bundeskanzler und der "Ikone der deutschen Einheit" "überstrahlt" worden sei.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Buches zeugt allerdings davon, dass bereits eine dichte Forschungsliteratur über die Außenpolitik der Großen Koalition und die Entstehung der Ost- und Deutschlandpolitik vorhanden ist. Der Autor meint jedoch, dass in diesen Arbeiten eine "Reihe von Fragen" unbeantwortet geblieben sei. Einen neuen innovativen Ansatz verfolgt er jedoch nicht. Er bewegt sich in einem traditionellen Interpretationsrahmen, wenn er Brandts Agieren im Außenministerium als eine "Scharnierzeit" für die Ost- und Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers der sozialliberalen Koalition begreift.
Dies ist nicht zuletzt der Quellenauswahl geschuldet. Während er vor allem die Edition "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland", die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts und den Nachlass Egon Bahrs, mit dem er auch mehrere Gespräche geführt hat, akribisch auswertet, zieht er Quellen aus ausländischen Archiven nicht zurate. Die Bewertung von Brandts Persönlichkeit und Politik durch ausländische Politiker kommt so vielfach zu kurz, seine Wahrnehmung im Ausland als der "andere Deutsche" wird nicht thematisiert, obwohl sich ihm dadurch Handlungsmöglichkeiten eröffneten.
Flatten konzentriert sich auf die Ost- und Deutschlandpolitik Brandts, während er die Europapolitik kursorisch behandelt. Brandts Politik innerhalb der NATO und Westeuropäischen Union wird insbesondere unter der Perspektive "Versöhnung von Entspannungs- und Bündnispolitik", die im Harmel-Bericht ihren Niederschlag fand, in den Blick genommen.
Das Ergebnis von Flattens Studie, dass aufgrund der "intransigenten Haltung des Ostens" sowie der "Uneinigkeit der Koalitionspartner" der "erwünschte Erfolg" in der Ost- und Deutschlandpolitik ausblieb, ist in der Forschung weitgehend unumstritten. Minutiöser als die bisherige Literatur arbeitet er heraus, dass für Brandt seine Zeit als Außenminister eine Phase des "Suchens, des Tastens und des Tarierens" war, in der er seine ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen entwickelte, die "sich nicht nur in Nuancen und Details, sondern grundlegend von den Positionen" unterschieden, die er noch 1966 auf dem Dortmunder Parteitag der SPD eingenommen hatte. Eingehender als andere Studien betont er die Differenzen zwischen CDU/CSU und SPD sowie Brandt und Kiesinger und widerlegt so überzeugend eine Forschungsmeinung, die in Brandt einen Vollstrecker der von Kiesinger eingeleiteten Ostpolitik sieht. Dass der Konsens der Koalitionsparteien nicht erst nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" zerbrach, zeichnet Flatten ebenfalls detailgenau nach.
Schon bei der Ausformulierung des außen- und deutschlandpolitischen Teils des Koalitionsvertrags, bei der die Union der SPD weit entgegengekommen war, wurden strittige Punkte durch Formelkompromisse überdeckt. Während der Kanzler den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Rumänien Anfang 1967 bekräftigte, schloss sein Außenminister den Anspruch Ostberlins auf "Selbstvertretung" nicht aus. Als Brandt während eines Aufenthalts in Bukarest im August 1967 davon sprach, dass bei den "Bemühungen um eine europäische Friedensordnung von den gegebenen Realitäten auszugehen" sei, und diese Feststellung auch auf die "beiden politischen Ordnungen, die gegenwärtig auf deutschem Boden bestehen", bezogen wissen wollte, stieß er sowohl bei Kiesinger als auch der CDU/CSU-Fraktion auf heftige Kritik.
Im Frühjahr 1968 war der Vorrat an Gemeinsamkeiten weitgehend aufgebraucht. Brandt überschritt die rote Linie abermals, als er auf dem Parteitag der SPD die "Anerkennung bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung" zu einem zentralen Baustein sozialdemokratischer Ostpolitik erklärte. Schon wenige Monate später drohte der Koalitionsbruch, weil Brandt auf die Unterzeichnung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen drang, während Franz Josef Strauß dies strikt ablehnte und Kiesinger, um den Zusammenhalt der Unionsfraktion nicht zu gefährden, die Entscheidung verzögerte. Das militärische Eingreifen Moskaus in der Tschechoslowakei, durch das Brandt in die Defensive geriet, verhinderte ein frühes Scheitern der Großen Koalition.
Im September 1968 erwog Brandt, die Koalition platzen zu lassen, weil der Bundeskanzler eine Umformulierung seiner bereits an die Presse verteilten Rede auf der Konferenz der Nichtnuklearwaffenstaaten in Genf verlangte. "Wie komme ich dazu, mir von diesem alten Nazi Vorschriften machen zu lassen?", brach es aus ihm hervor. In seinem viel Beifall findenden Vortrag trug er nur einem Teil der Einwände Kiesingers Rechnung.
Anfang 1969 ließ der Bundeskanzler Vorschläge Brandts für einen Gewaltverzichtsdialog mit Moskau auf seinem Schreibtisch liegen. Begriff der Außenminister den Budapester Appell der Warschauer-Pakt-Staaten vom März 1969, in dem erstmals auf Revanchismusvorwürfe gegenüber der Bundesrepublik und die Forderung nach einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verzichtet wurde, als eine Chane für die Aufnahme von Gewaltverzichtsverhandlungen mit Moskau, so sah der Bundeskanzler in ihm eine Gefahr, weil in ihm der "harte Kern der Anerkennung des Status quo" stecke. Die bekannten Auseinandersetzungen über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Kambodscha ließen bei Brandt endgültig den Entschluss reifen, seine Politik nach der Wahl mit der FDP als Koalitionspartner durchzusetzen.
Flatten bestätigt das verbreitete Narrativ, dass Kiesinger und die CDU/CSU in der Koalition eine Bremser-, Brandt und die SPD eine Vorreiterrolle spielten, was zwangsläufig nach der Bundestagswahl zu einem Koalitionswechsel führte, da sich die ost- und deutschlandpolitischen Konzeptionen von SPD und FDP weitgehend deckten und daher in kürzester Zeit umgesetzt werden konnten. Die Detailgenauigkeit ist die große Stärke, aber auch die große Schwäche dieser voluminösen Dissertation, die auf vielen Seiten einem langatmigen Aktenreferat gleicht. Eine wissenschaftliche Brandt-Biographie wird man in dieser Form nicht schreiben können. PETRA WEBER
Maak Flatten: Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966 -1969).
Verlag J.HW. Dietz, Bonn 2021. 760 S., 64,-Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Petra Weber zufolge hätte Maak Flattens umfangreiche wie "langatmige" Dissertation eine gründliche Straffung nötig, um als wissenschaftliche Brandt-Biografie durchzugehen. Auch müsste der Autor internationale Quellen berücksichtigen. Brandts Zeit als Außenminister 1966-1969 schildert der Autor laut Weber auf eher traditionelle Weise, ohne innovativen Ansatz anhand des Nachlasses von Egon Bahr und der Akten aus dem Auswärtigen Amt. Allerdings zeigt der Autor deutlicher als andere Arbeiten, die Differenzen zwischen Brandt und Kiesinger auf, lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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