Sage niemand, in der Provinz wäre nichts los!
In Scharnow, einem Dorf nördlich von Berlin, ist der Hund begraben. Scheinbar. Tatsächlich wird hier gerade die Welt gewendet: Schützen liegen auf der Lauer, um die Agenten einer Universalmacht zu vernichten, mordlustige Bücher richten blutige Verheerung an, und mittendrin hat ein Pakt der Glücklichen plötzlich kein Bier mehr. Wenn sich dann ein syrischer Praktikant für ein Mangamädchen stark macht, ist auch die Liebe nicht weit.
In Scharnow, einem Dorf nördlich von Berlin, ist der Hund begraben. Scheinbar. Tatsächlich wird hier gerade die Welt gewendet: Schützen liegen auf der Lauer, um die Agenten einer Universalmacht zu vernichten, mordlustige Bücher richten blutige Verheerung an, und mittendrin hat ein Pakt der Glücklichen plötzlich kein Bier mehr. Wenn sich dann ein syrischer Praktikant für ein Mangamädchen stark macht, ist auch die Liebe nicht weit.
»Hier spricht ein selbstbewusster und scharfsinniger Erzähler in bester Laune - mit unbestreitbarer Kompetenz fürs Genre.« Jan-Paul Koopmann, Spiegel online
Was reimt sich bloß auf Scharnow?
Tourette-Roman: Bela B Felsenheimer, Schlagzeuger der Band Die Ärzte, hat sein literarisches Debüt verfasst
Wer einen Dorf-Roman zur Hand nimmt, hat bestimmte Erwartungen. Die Schauplätze sollten heimelig, die Figuren nachdenklich und die Ereignisse dazu passend sein. Nun die Probe aufs Exempel: Zwei Brüder stehen im Flur eines Wohnhauses. Sie zielen aufeinander. Der eine ist mit einer herkömmlichen Pistole bewaffnet, der andere mit einem Gasrevolver. Beide drücken ab. Während sich das Hirn des einen wie in einer Erzählung Heinrich von Kleists an der Wand verteilt, wird der andere von der Leuchtspurmunition am Hals getroffen: "Das Letzte, was er in seinem Leben schmeckte, waren Phosphor und sein eigenes geröstetes Fleisch."
Gefilmt wird die Szene von einer am Tourette-Syndrom leidenden Nachbarin, die ständig nicht zitierfähige Unflätigkeiten herausschleudert. Wo passiert so etwas? Im fiktiven, nördlich von Berlin gelegenen Dorf Scharnow, das dem Roman seinen Namen gibt. Wer denkt sich derartiges aus? Bela B Felsenheimer, Schauspieler, Synchronsprecher und Schlagzeuger der Band Die Ärzte.
Da die Brüder nicht die einzigen Todesopfer sind, braucht es ausreichend Personal, um die Story am Laufen zu halten. So werden alle mitwirkenden Figuren gleich zu Beginn dieses Debüts in einem sechsseitigen Verzeichnis vorgestellt. Wobei Figur hier ein sehr weit gefasster Begriff ist, denn auf der Liste stehen unter anderem der örtliche Supermarkt und der portugiesische Wasserhund Cloudy - übrigens die Schwester von Bo, dem Haustier der Familie Obama. Einen Vorgeschmack auf das Ideen-Kaleidoskop, mit dem es der Leser zu tun bekommt, geben die Berufe, Eigenheiten und Vorlieben der Charaktere. Felix Pathé etwa war früher Gülleproduzent und arbeitet momentan als Zirkusdirektor. Marlies Maria Henkel leitet den Billkauf (Slogan: "Bei uns ist billig immer auch gut!") und hat, das scheint nicht unwesentlich zu sein, Mundgeruch. Sieben, ehemaliger Hertha-BSC-Hooligan, fungiert als "Mann fürs Grobe", kämpft jedoch mit zahllosen Phobien. Polizeihauptmeister Dietmar Senger begeistert sich für Döner und Genrefilme. Auch Bela B ist, von Fantasy einmal abgesehen, bekennender Genre-Apologet.
Das merkt man seinem Roman an. Hier ein wenig Thriller und Action, dort ein Schuss Science-Fiction und Horror. Und insgesamt viel Komik. Dabei entsteht allerdings kein lückenloser Wirkungs- und Überrumpelungszusammenhang. Der Autor achtet darauf, nicht all jene Aspekte zu verramschen, die von Kulturkritikern als Ausweis ernstzunehmender Literatur betrachtet werden. "Scharnow" profitiert zum Beispiel von einer personalen Erzählweise, die den Leser ganz unmittelbar an die Figuren heranführt. Die daraus resultierende Vielstimmigkeit steigert die Komplexität und Ambivalenz der Geschichte. Ein Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass am Ende nicht plötzlich - wie in vielen Krimis - von Effekt auf Erklärung umgeschaltet werden muss. Manches bleibt in "Scharnow" unmotiviert, etliches wird lediglich angerissen. Liebesgeschichten und gesellschaftskritische Beobachtungen präsentiert Bela B in grober Schraffur, nicht als haarklein koloriertes und belehrendes Sittenbild.
Schon seit einigen Jahren schlägt die Provinz in der deutschen Literatur zurück. Während Großstädte immer voller werden und Dörfer veröden, reagieren viele Autoren mit einer kompensatorischen Kollektivgeste: dem ästhetischen Rückzug ins Ländliche. Sie widmen sich schwelenden Kleinbürgerkonflikten und betreiben Balzac-sche Charakterstudien. Jedoch entfalten Bücher wie Juli Zehs "Unterleuten", Dörte Hansens "Altes Land" oder Kathrin Gerlofs "Nenn mich November" keine Breitwandidyllen mit einem verkitschten Landlust-Surplus aus Festtagsrezepten und Häkelkissenkuscheligkeit. Stattdessen: Tristesse und Strukturwandel, leise Töne, Abgesang. Das Gegenteil von Thomas Bernhards hasserfüllten Tiraden gegen die Provinz. Bela Bs Roman hat stilistisch wie thematisch weder mit dem einen noch mit dem anderen Fall etwas zu tun. Er ist eine Leistungsschau von Absurditäten, in der homosexuelle Eichhörnchen genauso Platz finden wie Außerirdische, durchgeknallte Verschwörungstheoretiker und ein fliegender Mann, dessen Gegner auf Namen wie Tormentor oder Screw hören.
Zwei Jahre hat die Arbeit an "Scharnow" gedauert. Aus einer losen Sammlung von Einfällen wurden Kurzgeschichten, die wiederum zum Roman heranwuchsen. Daher erscheint der Plot stellenweise wie eine Kette von Episoden, die aufeinander und nicht auseinander folgen. Das Lesevergnügen leidet nicht darunter, denn der Autor schreibt auf disziplinierte Weise undiszipliniert. Allenthalben schlägt die Handlung Haken, dauernd knarzt sie unter dem Gewicht der vielen Einfälle - und trotzdem gerät sie kaum aus der Form. Stephen King hebt in seinem Memoir "On Writing" hervor, man solle beim Schreiben Risiken eingehen und ausprobieren, was einem in den Sinn kommt. Diese Empfehlung hat bei Bela B, für den das Buch eine Art Beratungsfibel gewesen ist, Spuren hinterlassen. So bezieht er sich beispielsweise auf den Topos der gefährlichen Lektüre - im achtzehnten Jahrhundert zur "Lesewut" stilisiert -, indem er einen Folianten namens "Horror Vacui" mordend durch das Dorf ziehen lässt.
Solche Eskapaden haben freilich etwas Gewolltes, Spitzbübisch-Pubertäres. Zugleich lassen sie an den aus der antiken Tragödie bekannten Deus ex Machina denken, der zuverlässig dann erscheint, wenn der Konflikt in einer Sackgasse zu versumpfen droht. Dieser Kniff ist dem Genre nie fremd gewesen. Raymond Chandler soll gesagt haben, sobald er bei der Konstruktion einer Handlung nicht mehr weiterwisse, lasse er einfach jemanden mit einem Revolver zur Tür hereinspazieren. Der Reiz des nicht Absehbaren kitzelt auch Bela B, was immer schon an seinen Songtexten erkennbar war, in denen er "Alien" auf "bewerkstelljen" oder "Dixi-Klo" auf "Modern-Talking-Show" reimt. Nun ist "Scharnow" kein dreiminütiges Lied, sondern ein vierhundert Seiten starker Roman, in dem jeder noch so abwegige Firlefanz auf viel Raum gewürdigt wird. Da steigt die Landlust.
KAI SPANKE
Bela B Felsenheimer:
"Scharnow". Roman.
Heyne Verlag, München 2019. 416 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tourette-Roman: Bela B Felsenheimer, Schlagzeuger der Band Die Ärzte, hat sein literarisches Debüt verfasst
Wer einen Dorf-Roman zur Hand nimmt, hat bestimmte Erwartungen. Die Schauplätze sollten heimelig, die Figuren nachdenklich und die Ereignisse dazu passend sein. Nun die Probe aufs Exempel: Zwei Brüder stehen im Flur eines Wohnhauses. Sie zielen aufeinander. Der eine ist mit einer herkömmlichen Pistole bewaffnet, der andere mit einem Gasrevolver. Beide drücken ab. Während sich das Hirn des einen wie in einer Erzählung Heinrich von Kleists an der Wand verteilt, wird der andere von der Leuchtspurmunition am Hals getroffen: "Das Letzte, was er in seinem Leben schmeckte, waren Phosphor und sein eigenes geröstetes Fleisch."
Gefilmt wird die Szene von einer am Tourette-Syndrom leidenden Nachbarin, die ständig nicht zitierfähige Unflätigkeiten herausschleudert. Wo passiert so etwas? Im fiktiven, nördlich von Berlin gelegenen Dorf Scharnow, das dem Roman seinen Namen gibt. Wer denkt sich derartiges aus? Bela B Felsenheimer, Schauspieler, Synchronsprecher und Schlagzeuger der Band Die Ärzte.
Da die Brüder nicht die einzigen Todesopfer sind, braucht es ausreichend Personal, um die Story am Laufen zu halten. So werden alle mitwirkenden Figuren gleich zu Beginn dieses Debüts in einem sechsseitigen Verzeichnis vorgestellt. Wobei Figur hier ein sehr weit gefasster Begriff ist, denn auf der Liste stehen unter anderem der örtliche Supermarkt und der portugiesische Wasserhund Cloudy - übrigens die Schwester von Bo, dem Haustier der Familie Obama. Einen Vorgeschmack auf das Ideen-Kaleidoskop, mit dem es der Leser zu tun bekommt, geben die Berufe, Eigenheiten und Vorlieben der Charaktere. Felix Pathé etwa war früher Gülleproduzent und arbeitet momentan als Zirkusdirektor. Marlies Maria Henkel leitet den Billkauf (Slogan: "Bei uns ist billig immer auch gut!") und hat, das scheint nicht unwesentlich zu sein, Mundgeruch. Sieben, ehemaliger Hertha-BSC-Hooligan, fungiert als "Mann fürs Grobe", kämpft jedoch mit zahllosen Phobien. Polizeihauptmeister Dietmar Senger begeistert sich für Döner und Genrefilme. Auch Bela B ist, von Fantasy einmal abgesehen, bekennender Genre-Apologet.
Das merkt man seinem Roman an. Hier ein wenig Thriller und Action, dort ein Schuss Science-Fiction und Horror. Und insgesamt viel Komik. Dabei entsteht allerdings kein lückenloser Wirkungs- und Überrumpelungszusammenhang. Der Autor achtet darauf, nicht all jene Aspekte zu verramschen, die von Kulturkritikern als Ausweis ernstzunehmender Literatur betrachtet werden. "Scharnow" profitiert zum Beispiel von einer personalen Erzählweise, die den Leser ganz unmittelbar an die Figuren heranführt. Die daraus resultierende Vielstimmigkeit steigert die Komplexität und Ambivalenz der Geschichte. Ein Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass am Ende nicht plötzlich - wie in vielen Krimis - von Effekt auf Erklärung umgeschaltet werden muss. Manches bleibt in "Scharnow" unmotiviert, etliches wird lediglich angerissen. Liebesgeschichten und gesellschaftskritische Beobachtungen präsentiert Bela B in grober Schraffur, nicht als haarklein koloriertes und belehrendes Sittenbild.
Schon seit einigen Jahren schlägt die Provinz in der deutschen Literatur zurück. Während Großstädte immer voller werden und Dörfer veröden, reagieren viele Autoren mit einer kompensatorischen Kollektivgeste: dem ästhetischen Rückzug ins Ländliche. Sie widmen sich schwelenden Kleinbürgerkonflikten und betreiben Balzac-sche Charakterstudien. Jedoch entfalten Bücher wie Juli Zehs "Unterleuten", Dörte Hansens "Altes Land" oder Kathrin Gerlofs "Nenn mich November" keine Breitwandidyllen mit einem verkitschten Landlust-Surplus aus Festtagsrezepten und Häkelkissenkuscheligkeit. Stattdessen: Tristesse und Strukturwandel, leise Töne, Abgesang. Das Gegenteil von Thomas Bernhards hasserfüllten Tiraden gegen die Provinz. Bela Bs Roman hat stilistisch wie thematisch weder mit dem einen noch mit dem anderen Fall etwas zu tun. Er ist eine Leistungsschau von Absurditäten, in der homosexuelle Eichhörnchen genauso Platz finden wie Außerirdische, durchgeknallte Verschwörungstheoretiker und ein fliegender Mann, dessen Gegner auf Namen wie Tormentor oder Screw hören.
Zwei Jahre hat die Arbeit an "Scharnow" gedauert. Aus einer losen Sammlung von Einfällen wurden Kurzgeschichten, die wiederum zum Roman heranwuchsen. Daher erscheint der Plot stellenweise wie eine Kette von Episoden, die aufeinander und nicht auseinander folgen. Das Lesevergnügen leidet nicht darunter, denn der Autor schreibt auf disziplinierte Weise undiszipliniert. Allenthalben schlägt die Handlung Haken, dauernd knarzt sie unter dem Gewicht der vielen Einfälle - und trotzdem gerät sie kaum aus der Form. Stephen King hebt in seinem Memoir "On Writing" hervor, man solle beim Schreiben Risiken eingehen und ausprobieren, was einem in den Sinn kommt. Diese Empfehlung hat bei Bela B, für den das Buch eine Art Beratungsfibel gewesen ist, Spuren hinterlassen. So bezieht er sich beispielsweise auf den Topos der gefährlichen Lektüre - im achtzehnten Jahrhundert zur "Lesewut" stilisiert -, indem er einen Folianten namens "Horror Vacui" mordend durch das Dorf ziehen lässt.
Solche Eskapaden haben freilich etwas Gewolltes, Spitzbübisch-Pubertäres. Zugleich lassen sie an den aus der antiken Tragödie bekannten Deus ex Machina denken, der zuverlässig dann erscheint, wenn der Konflikt in einer Sackgasse zu versumpfen droht. Dieser Kniff ist dem Genre nie fremd gewesen. Raymond Chandler soll gesagt haben, sobald er bei der Konstruktion einer Handlung nicht mehr weiterwisse, lasse er einfach jemanden mit einem Revolver zur Tür hereinspazieren. Der Reiz des nicht Absehbaren kitzelt auch Bela B, was immer schon an seinen Songtexten erkennbar war, in denen er "Alien" auf "bewerkstelljen" oder "Dixi-Klo" auf "Modern-Talking-Show" reimt. Nun ist "Scharnow" kein dreiminütiges Lied, sondern ein vierhundert Seiten starker Roman, in dem jeder noch so abwegige Firlefanz auf viel Raum gewürdigt wird. Da steigt die Landlust.
KAI SPANKE
Bela B Felsenheimer:
"Scharnow". Roman.
Heyne Verlag, München 2019. 416 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main