Der israelisch-palästinensische Konflikt führt auch bei den nicht unmittelbar Beteiligten immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. Das hängt u.a. mit den großen historischen Konfliktlinien zusammen, die sich in der Nahost-Region kreuzen. Das Buch bietet in acht Forschungsberichten und Analysen Orientierungshilfen zu zentralen Streitpunkten: dem Spannungsverhältnis zwischen Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus, dem notorischen Gedicht von Günter Grass, den Antisemitismus-Vorwürfen gegen Achille Mbembe; der Rolle der USA und der Israel-Lobby, den Shitstorms gegen eine Nahost-Expertin. Der Autor hat sich als Friedens- und Konfliktforscher insbesondere mit der Rüstungsdynamik im Ost-West-Konflikt und mit dem Nahost-Konflikt beschäftigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2024Konkurrierende Nationalbewegungen
Wie ein "pro-israelischer Linker" die Geschichte des Nahostkonflikts interpretiert
An den Großmufti von Jerusalem mag man in Deutschland denken, wenn es um historische Querverbindungen im Nahostkonflikt geht. Als Hitlers wichtigster arabischer Partner im Kampf gegen die Juden hat Mohammed al-Husseini die antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus im arabischen Raum verbreitet. Von ihm führt eine direkte Linie zum islamistischen Judenhass der Muslimbrüderschaft und ihres palästinensischen Ablegers, der Hamas. Nicht diese "Schatten der Vergangenheit" hat der Frankfurter Politikwissenschaftler Gert Krell indessen im Blick, wenn er nach der Bedeutung der NS-Zeit und des Holocausts für die Gründung des Staates Israel 1948 und damit für den Nahostkonflikt fragt. Der kurz nach Kriegsende 1945 geborene Friedens- und Konfliktforscher wählt einen anderen Weg, um dessen "historische Tiefendimensionen" auszuleuchten. Der Band liefert freilich, das sei vorausgeschickt, keine Analyse aus einem Guss, sondern eine Zusammenstellung von Forschungsberichten, Besprechungen und Aufsätzen aus den vergangenen zwanzig Jahren. Der erste Teil dieses schillernden Sammelwerks, das sich streckenweise wie ein Literaturbericht lesen lässt, dreht sich um Deutschland, der zweite um die Vereinigten Staaten als einstige und gegenwärtige Akteure. Welches Argument lässt sich herausdestillieren?
Krell, der sich selbst als "pro-israelischen Linken" vorstellt, möchte Orientierungshilfe leisten durch ein historisch-politisches Deutungsangebot im Spannungsfeld von "Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus". Dazu konstruiert er ein Dreiecksverhältnis zwischen Juden, Palästinensern und Deutschland beziehungsweise dem Westen. Nach einem Ritt durch die Ereignisgeschichte zwischen 1933 und 1949 diskutiert er zwei Voraussetzungen des zionistischen Projekts: Zum einen habe das Dilemma, dass sich die eigene Nationalbewegung nur auf Kosten einer anderen gewaltsam durchsetzen könnte, spätestens seit dem arabischen Aufstand von 1936 bis 1939 gegen die jüdischen Siedler, den Jischuv, auf der Hand gelegen.
Zum anderen vertritt Krell die Auffassung, dass die Gründung Israels ohne die Schützenhilfe des europäischen Imperialismus unmöglich gewesen wäre. Hier sieht er die historische Verantwortung des Westens, Russland eingeschlossen. Der Okzident habe seine eigenen aus Integrationsunfähigkeit resultierenden Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden an den Orient delegiert, ohne die betroffenen Araber zu beteiligen, die mit diesem Konflikt gar nichts zu tun hatten. Zwar sieht Krell noch weiter zurückreichende historische Wurzeln wie die Kreuzzüge, die bis heute einen Traditionszusammenhang in den evangelikalen Kreisen der USA und damit in der "Israel-Lobby" bildeten, der er ein eigenes Kapitel widmet. Sein besonderes Augenmerk jedoch liegt im zweiten Teil des Bandes auf jenem von Europa ausgehenden Prozess des Siedlungskolonialismus, an dessen Ende er das zionistische Projekt stellt.
Aus dieser historischen Beobachtung leitet Krell seine politische Forderung ab: Israel solle den "zionistischen Herrschaftsanspruch in der Westbank und Ostjerusalem" zurücknehmen. Die Bevölkerung müsse dort einen entwicklungsfähigen Staat gründen können, der auch den Gazastreifen umfasst. Dazu gehört für ihn im Gegenzug ein Ende der Gefährdung der jüdischen Bevölkerung. Der Friedensforscher, der seine "empathische Kritik" an der israelischen Politik als besten Freundschaftsdienst verstanden wissen will, bekräftigt zugleich Israels "postzionistisches" Existenzrecht. Zur Beobachtung des Politikwissenschaftlers gehört ferner, dass der anhaltende territoriale Herrschaftskonflikt zwischen zwei Nationalbewegungen seit dem späten 20. Jahrhundert durch einen religiösen Fundamentalismus mit politischen Ansprüchen gefährlich aufgeladen wurde. Als wäre das nicht genug, kommt das Sicherheitsdilemma hinzu: eine Eskalationsgefahr, die sich daraus ergibt, dass beide an sich friedfertigen Seiten die Verteidigungsanstrengung der anderen Seite als Aggression wahrnehmen.
Mit dieser historisch-politischen Argumentationskette und ihren postkolonialen Signalwörtern wendet sich Krell gegen die angedeutete These, dass der Kern des Nahostkonflikts in einem palästinensischen oder arabischen Antisemitismus liegt, der wiederum auf nationalsozialistische Einflüsse zurückzuführen ist. Hier diagnostiziert Krell den Historikern kurzerhand "Rückprojektionen", die auf Schuldgefühle oder ihre Abwehr zurückgingen. Es hätte nicht des Muftis bedurft, um den Widerstand gegen die zionistischen Kolonialisten zu radikalisieren, heißt es. Damit ist der Weg frei für die Behauptung einer anderen, problematischen Kausalität: Auf dem Umweg über die Staatsgründung Israels erscheinen die Palästinenser plötzlich als Folgeopfer des Holocausts - eine im arabischen Raum verbreitete Formel.
Krell verschiebt die historische Genese der Auseinandersetzung in die okzidentale Grundkonstellation von Imperialismus und Antisemitismus. Der Kampf zwischen Jischuv/Israelis und Palästinensern erscheint als ein gesamteuropäisches Phänomen westlicher Gesellschaften. Der Genozid an den europäischen Juden, so lautet die Botschaft, eignet sich für das Verständnis des Nahostkonflikts weit weniger als deren Siedlungskolonialismus, der sich bis heute in großisraelischen Phantasien, einer illegalen Siedlungspolitik und einem Regime der "Apartheid" in den besetzten Gebieten niederschlage - als läge der in der Tat völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik eine rassistische Motivation zugrunde.
Nicht erst jetzt würde man liebend gerne wissen, wie Krell das Massaker vom 7. Oktober 2023 einordnet. Doch obwohl der Band erkennbar erst nach dieser Zäsur in den Druck ging, haben Autor und Verlag darauf verzichtet, den Text konsequent daraufhin durchzugehen. Eine Fußnote hier, ein Nachsatz dort machen das Manko nicht wett. Diese Leerstelle spiegelt ironischerweise jene Lücke wider, die Krells politisch gewendeter Postkolonialismus aufreißt, wenn er die Herrschaftsseite eines "kolonialen" Verhältnisses verabsolutiert. Die postkoloniale Theorie hat eigentlich den wissenschaftlichen Vorzug, den vielschichtigen Erfahrungen der Kolonialisierten und der Kolonialisten nachzuspüren, dabei den schlichten Dualismus aufzubrechen und die komplexen Verflechtungen zwischen beiden Seiten freizulegen. Ein solcher multiperspektivischer Blick, der auch interne Verwerfungen deutlicher erfasst, wäre allemal besser gewesen als antisemitischer Israelkritik eine offene Flanke zu bieten. Komplexeres Wissen tut not, will man einen Konflikt lösen, der als unlösbar gilt. JÖRG ECHTERNKAMP
Gert Krell: Schatten der Vergangenheit. Deutschland, die USA und der Nahost-Konflikt.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2023. 360 S., 84,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie ein "pro-israelischer Linker" die Geschichte des Nahostkonflikts interpretiert
An den Großmufti von Jerusalem mag man in Deutschland denken, wenn es um historische Querverbindungen im Nahostkonflikt geht. Als Hitlers wichtigster arabischer Partner im Kampf gegen die Juden hat Mohammed al-Husseini die antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus im arabischen Raum verbreitet. Von ihm führt eine direkte Linie zum islamistischen Judenhass der Muslimbrüderschaft und ihres palästinensischen Ablegers, der Hamas. Nicht diese "Schatten der Vergangenheit" hat der Frankfurter Politikwissenschaftler Gert Krell indessen im Blick, wenn er nach der Bedeutung der NS-Zeit und des Holocausts für die Gründung des Staates Israel 1948 und damit für den Nahostkonflikt fragt. Der kurz nach Kriegsende 1945 geborene Friedens- und Konfliktforscher wählt einen anderen Weg, um dessen "historische Tiefendimensionen" auszuleuchten. Der Band liefert freilich, das sei vorausgeschickt, keine Analyse aus einem Guss, sondern eine Zusammenstellung von Forschungsberichten, Besprechungen und Aufsätzen aus den vergangenen zwanzig Jahren. Der erste Teil dieses schillernden Sammelwerks, das sich streckenweise wie ein Literaturbericht lesen lässt, dreht sich um Deutschland, der zweite um die Vereinigten Staaten als einstige und gegenwärtige Akteure. Welches Argument lässt sich herausdestillieren?
Krell, der sich selbst als "pro-israelischen Linken" vorstellt, möchte Orientierungshilfe leisten durch ein historisch-politisches Deutungsangebot im Spannungsfeld von "Holocausttrauma und Siedlungskolonialismus". Dazu konstruiert er ein Dreiecksverhältnis zwischen Juden, Palästinensern und Deutschland beziehungsweise dem Westen. Nach einem Ritt durch die Ereignisgeschichte zwischen 1933 und 1949 diskutiert er zwei Voraussetzungen des zionistischen Projekts: Zum einen habe das Dilemma, dass sich die eigene Nationalbewegung nur auf Kosten einer anderen gewaltsam durchsetzen könnte, spätestens seit dem arabischen Aufstand von 1936 bis 1939 gegen die jüdischen Siedler, den Jischuv, auf der Hand gelegen.
Zum anderen vertritt Krell die Auffassung, dass die Gründung Israels ohne die Schützenhilfe des europäischen Imperialismus unmöglich gewesen wäre. Hier sieht er die historische Verantwortung des Westens, Russland eingeschlossen. Der Okzident habe seine eigenen aus Integrationsunfähigkeit resultierenden Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden an den Orient delegiert, ohne die betroffenen Araber zu beteiligen, die mit diesem Konflikt gar nichts zu tun hatten. Zwar sieht Krell noch weiter zurückreichende historische Wurzeln wie die Kreuzzüge, die bis heute einen Traditionszusammenhang in den evangelikalen Kreisen der USA und damit in der "Israel-Lobby" bildeten, der er ein eigenes Kapitel widmet. Sein besonderes Augenmerk jedoch liegt im zweiten Teil des Bandes auf jenem von Europa ausgehenden Prozess des Siedlungskolonialismus, an dessen Ende er das zionistische Projekt stellt.
Aus dieser historischen Beobachtung leitet Krell seine politische Forderung ab: Israel solle den "zionistischen Herrschaftsanspruch in der Westbank und Ostjerusalem" zurücknehmen. Die Bevölkerung müsse dort einen entwicklungsfähigen Staat gründen können, der auch den Gazastreifen umfasst. Dazu gehört für ihn im Gegenzug ein Ende der Gefährdung der jüdischen Bevölkerung. Der Friedensforscher, der seine "empathische Kritik" an der israelischen Politik als besten Freundschaftsdienst verstanden wissen will, bekräftigt zugleich Israels "postzionistisches" Existenzrecht. Zur Beobachtung des Politikwissenschaftlers gehört ferner, dass der anhaltende territoriale Herrschaftskonflikt zwischen zwei Nationalbewegungen seit dem späten 20. Jahrhundert durch einen religiösen Fundamentalismus mit politischen Ansprüchen gefährlich aufgeladen wurde. Als wäre das nicht genug, kommt das Sicherheitsdilemma hinzu: eine Eskalationsgefahr, die sich daraus ergibt, dass beide an sich friedfertigen Seiten die Verteidigungsanstrengung der anderen Seite als Aggression wahrnehmen.
Mit dieser historisch-politischen Argumentationskette und ihren postkolonialen Signalwörtern wendet sich Krell gegen die angedeutete These, dass der Kern des Nahostkonflikts in einem palästinensischen oder arabischen Antisemitismus liegt, der wiederum auf nationalsozialistische Einflüsse zurückzuführen ist. Hier diagnostiziert Krell den Historikern kurzerhand "Rückprojektionen", die auf Schuldgefühle oder ihre Abwehr zurückgingen. Es hätte nicht des Muftis bedurft, um den Widerstand gegen die zionistischen Kolonialisten zu radikalisieren, heißt es. Damit ist der Weg frei für die Behauptung einer anderen, problematischen Kausalität: Auf dem Umweg über die Staatsgründung Israels erscheinen die Palästinenser plötzlich als Folgeopfer des Holocausts - eine im arabischen Raum verbreitete Formel.
Krell verschiebt die historische Genese der Auseinandersetzung in die okzidentale Grundkonstellation von Imperialismus und Antisemitismus. Der Kampf zwischen Jischuv/Israelis und Palästinensern erscheint als ein gesamteuropäisches Phänomen westlicher Gesellschaften. Der Genozid an den europäischen Juden, so lautet die Botschaft, eignet sich für das Verständnis des Nahostkonflikts weit weniger als deren Siedlungskolonialismus, der sich bis heute in großisraelischen Phantasien, einer illegalen Siedlungspolitik und einem Regime der "Apartheid" in den besetzten Gebieten niederschlage - als läge der in der Tat völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik eine rassistische Motivation zugrunde.
Nicht erst jetzt würde man liebend gerne wissen, wie Krell das Massaker vom 7. Oktober 2023 einordnet. Doch obwohl der Band erkennbar erst nach dieser Zäsur in den Druck ging, haben Autor und Verlag darauf verzichtet, den Text konsequent daraufhin durchzugehen. Eine Fußnote hier, ein Nachsatz dort machen das Manko nicht wett. Diese Leerstelle spiegelt ironischerweise jene Lücke wider, die Krells politisch gewendeter Postkolonialismus aufreißt, wenn er die Herrschaftsseite eines "kolonialen" Verhältnisses verabsolutiert. Die postkoloniale Theorie hat eigentlich den wissenschaftlichen Vorzug, den vielschichtigen Erfahrungen der Kolonialisierten und der Kolonialisten nachzuspüren, dabei den schlichten Dualismus aufzubrechen und die komplexen Verflechtungen zwischen beiden Seiten freizulegen. Ein solcher multiperspektivischer Blick, der auch interne Verwerfungen deutlicher erfasst, wäre allemal besser gewesen als antisemitischer Israelkritik eine offene Flanke zu bieten. Komplexeres Wissen tut not, will man einen Konflikt lösen, der als unlösbar gilt. JÖRG ECHTERNKAMP
Gert Krell: Schatten der Vergangenheit. Deutschland, die USA und der Nahost-Konflikt.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2023. 360 S., 84,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Echternkamp vermisst schmerzlich eine Beschäftigung mit dem 7. Oktober in dem Buch des Politikwissenschaftlers Gert Krell. Auch eine Analyse des Nahostkonflikts bietet ihm der tatsächlich aus Forschungsberichten und Aufsätzen der letzten 20 Jahre kompilierte Band nicht. Krell versucht sich laut Rezensent an einer Orientierungshilfe historisch-politischer Art, indem er ein "Dreiecksverhältnis" zwischen Juden, Palästinensern und dem Westen konstruiert und anhand dessen die Bedingungen des "zionistischen Projekts" diskutiert. Krells These, wonach Israel ohne den Imperialismus des Westens nicht möglich gewesen wäre, und seine daran anschließenden Forderungen nach Rückzug aus der Westbank und Ostjerusalem bei gleichzeitiger Sicherheit der jüdischen Bevölkerung liest Echternkamp mit Interesse.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH