Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170843
  • ISBN-10: 3932170849
  • Artikelnr.: 22831488
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2007

Ich bin nicht Dreyer
Postmodernes Spiel: Ignacio Padillas „Schatten ohne Namen”
Lateinamerika und die Nazis – kein ungewöhnliches Thema. Über die sogenannte „Rattenlinie” und andere Wege gelangten bekanntlich viele hochrangige Nazis in zeitlich beschränkte Sicherheit. Aber was macht einer, der die Verhältnisse im Einwanderungsland besser kennen könnte als so mancher Autor diesseits des Ozeans aus dem letztlich doch nur sehr allgemein bekannten Sujet? Man durfte neugierig sein, was der 1968 geborene Mexikaner Ignacio Padilla in seinem Roman „Schatten ohne Namen” zum Thema (Nazi-)Versteck- und Identitätsspiele beizusteuern hat. Das Original ist im Jahr 2000 erschienen und seither in immerhin fünfzehn Sprachen übersetzt worden. Beschäftigt sich das Buch etwa mit Lateinamerika als moralisch desinteressierter Einwanderungsregion? Bringt es, unter literarischem Mantel, neue Fakten?
Beides wäre nicht uninteressant. Doch Padilla, seit einiger Zeit Direktor der mexikanischen Nationalbibliothek, hat mit solchen Fragen wenig im Sinn. Als Teil von „Crack”, einer aktuell einflussreichen mexikanischen Literaturfraktion, kommt es ihm ganz und gar nicht auf die ohnehin schwierig zu erreichende Authentizität an. Aus der historischen Latino-Nazi-Connection schlägt sein Buch nicht den geringsten Gewinn. Der Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit Spezialaspekten des Themas aller Themen des zwanzigsten Jahrhunderts wirkt rein rational-provokativ.
Jeder Schriftsteller, so Padilla im Interview, dürfe über alles schreiben. Er müsse sich als Mexikaner nicht an mexikanischen Themen abarbeiten. Tatsächlich: Warum haben die Schriftsteller sogenannter Schwellenländer immer als Vermittler romantisch-harter Lebensrealität herzuhalten? Auch wenn bei ihnen dieser Stoff vor der Tür zu liegen scheint: Warum können sie, ästhetisch unabhängig, nicht über etwas schreiben, das ihnen fremd ist?
Eine sehr ernste Partie Schach
Und also beginnt Ignacio Padilla im Zeichen einer herkunftsbefreiten Literatur zwar 1957 in Buenos Aires, geht aber sofort nach Österreich zurück, an die Strecke München-Wien, ins Salzburgerland, wo im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Weichensteller namens Viktor Kretzschmar Dienst tat. Erzählt wird das von Franz Kretzschmar, seinem Sohn. Doch wer ist der inzwischen verstorbene Viktor Kretzschmar? Franz hat erfahren, dass sein Vater ursprünglich Thadeus Dreyer hieß, der einem Marschbefehl zu Folge an die Ostfront sollte. Im Zug aber ist Kretzschmar einem Mann begegnet, gegen den er bei hohem Einsatz eine Partie Schach riskiert hat. Kretzschmar gewinnt und kommt nicht bis zur Ostfront. Während er die Thadeus-Dreyer-Identität übernimmt und in den Krieg marschiert, wird der Soldat Thadeus Dreyer zu Viktor Kretzschmar und verdingt sich als Weichensteller.
Eine Partie Schach als Ausgangspunkt eines Identitätswechsels ist kein schlechtes Motiv. Man kann sich ausrechnen, dass nicht alles ablaufen wird, wie vorgesehen. Immer wieder rennt der neue Viktor in den Ort, versucht zu erfahren, ob Thadeus Dreyer, sein ihm bald unangenehmes Alter Ego, gefallen ist. Doch ganz im Gegenteil: Thadeus Dreyer wird Soldat und im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. 1933, Hitler ist gerade zum Reichskanzler gewählt worden, soll Dreyer als Ehrengast bei einem Treffen der österreichischen NSDAP auftreten. Das liest der neue Viktor Kretzschmar in einem Zeitungsartikel, und er, der sich während zweier Jahrzehnte zum vorbildlichen Weichensteller entwickelt hat, lenkt einen Zug in die Irre, um den falschen Dreyer zu eliminieren. Viele Leute kommen um, bloß: Dreyer hat seine Teilnahme kurzfristig abgesagt. Viktor Kretzschmar wird seines Lebens nicht mehr froh.
Gut inszenierte Tricks
Zugegeben: Padilla unterlaufen bei seiner Identitätsakrobatik erstaunlich wenig Missgriffe. Die österreichische NSDAP wurde erst im Juni 1933 verboten, die Meldung über die Teilnahme eines Weltkriegsveteranen am Parteitreffen wäre in einer Lokalzeitung vielleicht wirklich möglich gewesen. Und dass einer wie der neue Kretzschmar, im mausarmen Vorarlberg aufgewachsen, mit einer ordentlichen Weichensteller-Hütte abseits der Front anfangs zufrieden gewesen sein soll, ist nachvollziehbar.
Nein, das Problem von Padillas Buch, dessen raschen, gut inszenierten Tricks man zu Beginn mit einiger Begeisterung folgt, ist ein anderes: Die bisher erzählten Identitätsverwirrungen, die für einen Roman reichen würden, führen gerade mal auf Seite 49. Und das zweite Großkapitel „Vom Schatten zum Namen” beginnt anschließend damit, dass ein bislang unbekannter Richard Schley zum Erzähler wird. 1948 meldet er aus Genf, dass Jakob Efrussi, „mein alter Spielkamerad aus den Arbeiterbezirken Wiens, seinen Namen in Theodor Dreyer geändert” habe.
Und genau mit dieser forschen Drehung beginnt „Schatten ohne Namen” in die Bedeutungslosigkeit abzudriften. Denn das ist keineswegs Padillas letzter Gag. Auf insgesamt kaum zweihundert Seiten tauchen gleich zwei weitere Ich-Erzähler auf, und schließlich noch einer, der sich Padilla nennt. Spätestens hier hat der letzte begriffen, worum es geht: Das ebenso bequeme wie heikle Nazi-Thema soll dem Autor hier vor allem die eigene Brillanz versichern.
Nun mag es durchaus sein, dass Padillas „Who’s who”-Verwirrspiel in Kulturen, die die Nazi-Zeit vor allem für einen großen Krimi halten, bestsellerartig ankommt. In deutscher Sprache wirkt dieser kleine, abstrakte Roman nicht wie das faszinierend kühle Schachspiel, als das er offensichtlich geplant war. Je länger man liest, desto mehr denkt man: ein Kreuzworträtsel, ohne Notwendigkeit, eine Fingerübung. Die Berufung auf die Freiheit in der Wahl des Sujets, die Universalität der Literatur, hilft da am Ende wenig.HANS-PETER KUNISCH
IGNACIO PADILLA: Schatten ohne Namen. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Frank Wegner. Tropen Verlag, Berlin 2007. 191 Seiten, 18,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans-Peter Kunischs Begeisterung über diesen Roman von Ignacio Padilla findet nach nicht einmal 50 Seiten ein jähes Ende. Den Auftakt des Buches bildet der Identitätstausch eines österreichischen Soldaten, der an die Ostfront des Ersten Weltkriegs geschickt werden soll und eines Weichenstellers, der nach dem Krieg in seiner getauschten Identität Karriere bei den Nazis macht. Padilla schreibt über dieses so gar nicht in der lateinamerikanischen Literatur beheimatete Thema mit bemerkenswerter Souveränität und er bietet manchen "gut inszenierten" Kniff in der Erzählweise auf, weiß der Rezensent zu würdigen. Wenn Padilla dann aber mehrmals die Erzählperspektive wechselt und in der Nachkriegsgeschichte immer noch weitere Identitätsverwirrungen aufdeckt, kann der Rezensent ihm nicht mehr mit Freude folgen und er moniert, dass die Geschichte hier offenbart, dass sie den Nazi-Hintergrund lediglich als postmodernes Spielfeld nutzt. Kunisch kann nun das Gefühl nicht loswerden, dass es dem Autor vor allem darum geht, die eigene Kunstfertigkeit zu demonstrieren, und für ihn gewinnt damit der Roman eine kreuzworträtselhafte Qualität, die er als gänzlich beliebig kritisiert.

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