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Produktdetails
  • Promenade
  • Verlag: Klöpfer & Meyer Verlag
  • Seitenzahl: 179
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 269g
  • ISBN-13: 9783931402525
  • ISBN-10: 3931402525
  • Artikelnr.: 24860140
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.1999

Wir Bundespräsidenten sind alte Wandervögel
Lange vor Karl Carstens baute Theodor Heuss den abenteuerlichen Herzen der Moderne ein Nest

Ganz offen liegt der Schatz nicht zutage, den der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss (1884 bis 1963) mit seinem Geschichten-Bändchen von 1947 dem Publikum darbietet. Der Stil stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Man erkennt es an den viel zu zahlreichen Adjektiven. Warum man sich auf "Kinder der publizistischen Laune" einlassen soll, die keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erheben, wie Heuss im Vorwort schreibt, ist auch nicht einzusehen. Aber man sollte sein Vorwort und das von Gert Ueding erst lesen, wenn man die "Stücke" (Heuss) gelesen hat. Dann sind die Vorworte gute Verständnishilfen. 1947 war die "Schattenbeschwörung" wahrscheinlich Erbauungsliteratur. Aber, verflixt noch mal, sie hat auch den Rezensenten erbaut.

Von außen betrachtet handelt es sich um chronologisch angeordnete Kurzbiographien von siebzehn Ausbrechern, darunter eine Frau. Diese Ausbrecher muss man nicht kennen, aber nach der Lektüre hätte man sie gern kennen gelernt. Sie haben für kurze Zeit viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber nicht Geschichte gemacht oder nur wenig. Sternschnuppen der politischen Welt.

Die Frau ist die Fürstin - darauf legte sie Wert - Dorothea Lieven, magerschlank, Gemahlin eines russischen Diplomaten, Geliebte Metternichs und später des französischen Ministerpräsidenten Guizot. Die Fürstin kokettierte damit, nie ein Buch gelesen zu haben. Trotzdem wusste sie gut Bescheid. 1812 wurde ihr Mann Botschafter in London, und sie, Mittelpunkt der Botschaft, machte die eigentliche Politik. 1818 lernte sie auf dem Aachener Kongress Metternich kennen. 1819 gebar sie einen Sohn, den man in Europa das "Kongress-Kind" nannte, die schärfste Indiskretion, die Heuss sich erlaubt, nicht ohne hinzuzufügen, Europa habe einen Rechenfehler begangen. Dann Entfremdung des Paares Metternich/Lieven. Sie ging ohne ihren Mann nach Paris, eröffnete dort einen Salon und schwamm wieder ganz oben mit. 1848 wurde sie von der Pariser Februar-Revolution überrascht. Vom Volke hat sie nie etwas geahnt. Nach der Revolution befreundete sie sich mit Napoleon III. Der aber bekriegte Russland auf der Krim, was ihr als russischer Staatsangehöriger Schwierigkeiten bereitete. 1857 ist sie dreiundsiebzigjährig gestorben. Heuss' Skizze hat nur einen Nachteil. Man kann sich Dorothea Lieven schlecht als alte Frau vorstellen. Dafür wünscht man, Metternich oder Guizot gewesen zu sein. Dieser Gedanke hätte Heuss vielleicht nicht erheitert. Zu unziemlich. Wichtiger ist auch, Dorothea Lieven ist aus ihrem Stand und ihrer Frauenrolle ausgebrochen, hat dort mitgespielt, wo an der Moderne gebastelt wurde, und blieb doch echter, uralter Adel mit der klassischen Abscheu vor Büchern und mit völliger Unkenntnis des Volkes, eine Figur aus der Zeit vor der Aufklärung. Deshalb konnte sie in der politischen Geschichte keinen bedeutenderen Platz erreichen als den einer Sternschnuppe.

Das Schicksal der Fürstin teilen alle Heuss'schen Randfiguren. Auch die Männer brechen aus, meistens über das Militär, wollen etwas Neues, kämpfen und scheitern, weil sie in Wirklichkeit noch im Alten stecken. Im siebzehnten Jahrhundert brach Fürst Georg Friedrich von Waldeck aus seinem "bescheidenen Landesfürstentum" aus, kämpfte für die Einheit des Reiches, aber es war das dem Untergang geweihte alte feudale Reich. Der Mediziner Engelbert Kämpfer brach aus dem Pfarrhaus in Lemgo aus, war von 1690 bis 1692 holländischer Kompaniearzt im japanischen Nagasaki, notierte aufmerksam, was er von Land und Leuten sah, aber vor allem des Ruhmes wegen, und der blieb aus. Dem westfälischen Baron von Neudorf wurde es im Frankreich der Regentschaft des Herzogs von Orléans zu eng. In schwedischen und habsburgischen Diensten sammelte er militärische und diplomatische Erfahrungen. Dann wollte er Korsika von Genueser Herrschaft befreien. 1736 landet er auf der Insel, und die Häupter der Clans wählen ihn zum König. Aber der Baron hatte sich wohl so etwas wie Ludwig XIV. vorgestellt. Der schwäbische Pfarrer Hahn, ein genialer Mechaniker, zeigte dem Dorfschmied, wie man eine genaue und brauchbare Waage bauen konnte, begründete die Fabrikation von Präzisionswaagen und klagte sich an, dass ihn "das liederliche Maschinengeschäft" seine seelsorgerlichen Pflichten vergessen ließ. Der Graf Moritz August von Benyowsky, "Kaiser von Madagaskar", war allerdings wohl mehr ein Hochstapler. Aber der Nächste, der Bierbrauersohn Nikolaus Luckner aus Cham in der Oberpfalz, ist wieder eine tragische Figur. Kriegsheld des Siebenjährigen Krieges, nach dem Krieg in Ehren entlassen, wird er französischer General, hat aber kein Glück mit der Führung großer Truppenkontingente und versteht nicht, dass die Revolutionäre ein politisches Bekenntnis von ihm erwarten. Er wird ein Opfer der Guillotine.

Genug. Theodor Heuss' Randfiguren tanzen über den Abgründen, die die Modernisierung der Gesellschaft geöffnet hatte, und fallen hinein. Wendeschicksale, menschlich gesehen. Als politischer Mensch hat Heuss sie wunderbar verstanden.

GERD ROELLECKE

Theodor Heuss: "Schattenbeschwörung". Randfiguren der Geschichte. Vorwort von Gert Ueding. Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 1999. 176 S., geb., 36,- DM.

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