Sich verstecken - was bedeutet das tatsächlich? Und was bedeutete es für Jüdinnen und Juden, die in der Zeit des Nationalsozialismus, am Leben bedroht, entschieden, unterzutauchen?Wie viele waren sie, wer half ihnen, wie viele überlebten den Naziterror? Welche Auswirkungen hatte das jahrelange Verstecken auf die Psyche der Betroffenen und wie ging man nach dem Ende des Krieges mit den Überlebenden um?Brigitte Ungar-Klein beantwortet diese Fragen in der ersten umfassenden Studie über Verfolgte des NS-Regimes, die in Wien untertauchen konnten. Sie führte zahlreiche Interviews und Gespräche mit Überlebenden und deren Helferinnen und Helfern, den stillen Heldinnen und Helden, und verarbeitete unzählige schriftliche Quellen. Ungar-Klein erzählt die Geschichten der Untergetauchten und der Helfenden und bringt so erstmals ein verborgenes Universum ans Licht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2019Wie in den Katakomben
Letzte Zufluchten: Brigitte Ungar-Klein beschreibt, wie Wiener Juden als "U-Boote" den Terror der Nationalsozialisten überlebten
Ich möchte nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden", sagte die Wiener Poetin Elfriede Gerstl (1932 bis 2009), wenn Freunde sie fragten, warum sie nicht über ihre Erlebnisse als kleines Mädchen schreibe. Gerstl war es gemeinsam mit ihrer Mutter gelungen, von 1942 an versteckt in einigen Wiener Wohnungen den Terror der Nationalsozialisten zu überleben. Immer hieß es, sich so still wie möglich zu verhalten, besonders, wenn man das Geräusch von Stiefeln auf der Treppe vernahm. Gerstl entwickelte dann einen "Totstellreflex", so, wie sich Tiere verhalten, die sich in Lebensgefahr wissen. In die Dunkelheit des Verstecks fiel nur selten ein Lichtstrahl: "Wo er auf den Fußboden auffiel, zeichnete er goldene Ringe und Netze, die sich langsam auflösten und verschwanden."
"Schattenexistenz" nennt die Historikerin Brigitte Ungar-Klein ihr Buch über "Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945". Natürlich gab und gibt es menschliche U-Boote immer und überall, wo Herrschende einer Minderheit nach dem Leben trachten, etwa als die Christen zur Zeit Neros in den Katakomben vegetierten. "Katakombenleben" hätte der betroffenen Wiener Jüdin Anna Deutsch auch besser gefallen als "U-Boot", denn dieses könne immerhin manchmal auftauchen. Aber die U-Boote im ganzen deutschsprachigen Raum haben sich diesen Namen selbst gegeben, 1946 wurde in Wien von Überlebenden ein "U-Boot-Verband" als offizieller Selbsthilfeverein angemeldet. Als Ehrenmitglieder wurden die sogenannten "U-Boot-Kapitäne" aufgenommen, das waren die Helfer, ohne die ein Leben im Untergrund unmöglich gewesen wäre. Quartiergeber und Helfer waren bei Entdeckung der gleichen Lebensgefahr ausgesetzt wie die U-Boote selbst.
U-Boote und ihre Kapitäne - die Aufarbeitung ihrer Schicksale ist noch lange nicht abgeschlossen. Ungar-Klein: "Widerstandskämpferinnen, Überlebende der Konzentrationslager, Vertriebene, sie alle wurden bei der Aufarbeitung der Geschehnisse bedacht. Nur in wenigen Fällen wurden U-Boot-Schicksale in ihrer Gesamtheit betrachtet . . . Einzelschicksale - Anne Frank - wurden publik, umfassende Darstellungen zum Überlebenskampf der U-Boote scheiterten." Das lag natürlich auch an der Quellenlage. Von den Betroffenen und ihren Helfern gab es verständlicherweise keinerlei systematische Aufzeichnungen, je weniger Menschen von der Existenz eines U-Bootes wussten, desto besser war es für alle Beteiligten.
Ihre Recherche begann Ungar-Klein bei ihr persönlich bekannten Schicksalen, mit Kontakten zu Zeitzeugen, schließlich mit der Aufarbeitung von Archivbeständen, die Kontakte zu ehemaligen Verborgenen und ihren Helfern oder deren Kindern ermöglichten. Manchmal halfen der Autorin groteske Zufälle: In einer Zeitschrift las sie 2014 von einer zweiundneunzigjährigen gebürtigen Wienerin, Inge Ginsberg, die sich als Teilnehmerin für den Eurovision Song Contest beworben hatte. In dem Text wurde erwähnt, dass Ginsberg vor ihrer Flucht in die Schweiz versteckt gelebt hatte. In einem Telefongespräch schilderte die alte Dame ihr Überleben als Wiener U-Boot.
Leichter zugänglich waren hingegen die Quellen der Täter: In den Tagesberichten der Gestapo wurden mit größter Genauigkeit die Festnahmen und Abtransporte der Juden festgehalten, das Auffliegen von Verstecken und von Helfern. Beginnt man das Buch auf Seite 112, ist man gleich in medias res, die ersten hundert Seiten kann man zum Schluss nachholen, sie berichten von Recherchemethoden, Oral History und Statistiken, was der Tatsache geschuldet ist, dass der Text ursprünglich als Dissertation geschrieben wurde.
Von den noch im März 1938 in Wien ansässigen 170 000 Jüdinnen und Juden lebten nach Flucht und Vertreibung und nach der Deportation von 48 000 Menschen im Dezember 1942 nur noch rund 8000 Personen in der Stadt. Nicht alle mussten in den Untergrund, so bot etwa die Ehe mit einem nichtjüdischen Partner einen gewissen Schutz. Brigitte Ungar-Klein hat in ihrem Datensatz rund 1600 U-Boote verzeichnet und rund 1800 Helferinnen und Helfer. Nur vierhundert dieser Unterstützer kannten die von ihnen betreuten Personen vor 1938.
Die Motivation, die Juden zu verstecken - in Abstellkammern, Truhen, Schränken, Kellerabteilen, Verschlägen, hinter Kartonstapeln auf Dachböden, unter Betten, in Schrebergartenhütten - war unterschiedlich: Humanität, Widerstand, Zivilcourage oder - wie es Elfriede Gerstl nannte - "tapfere Widersetzlichkeit". Nur in vereinzelten Fällen wurden die Helfer finanziell entschädigt.
Neben der Unterkunft war die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Körperpflegeprodukten, Bekleidung und Schuhen für die U-Boote ein Hauptproblem. Das war alles rationiert und nur gegen Marken erhältlich, die U-Boote natürlich nicht bekamen. Viele lebten mit ihren Quartiergebern in den damals in Wien sehr verbreiteten "Bassena"-Wohnungen. Die "Bassena" war der für das ganze Stockwerk gemeinsame Wasseranschluss am Gang.
U-Boot Fani Schepejtin schildert in ihrem Antrag auf Entschädigung von 1962 ihre Unterkunft: "Während dieser Zeit war ich bei Frau Marie Rieberer. Die Wohnung bestand aus einer Küche mit einem Fenster auf den Gang und einem Gassenkabinett. Das Ausmaß der gesamten Wohnung war ca. 16-18 Quadratmeter. Im Kabinett war nur eine Schlafstelle für Frau Rieberer. Ich und meine Schwester mussten auf dem Fußboden auf Decken schlafen, weil für eine weitere Schlafstelle kein Platz war. Klosett und Wasserleitung befanden sich auf dem Gang. Frau Rieberer hat uns die Benutzung von Klosett und Wasserleitung untersagt, so dass wir unsere Notdurft in der Wohnung auf einem Kübel verrichten mussten."
Zur Standardausstattung einer solchen Wohnung gehörten damals auch Wanzen und Flöhe. U-Boote, die den Luxus hatten, in der Speisekammer einer Wohnung mit Bad und Toilette zu hausen, durften die Sanitäreinrichtungen natürlich nicht benutzen, wenn die regulären Mieter nicht zu Hause waren; die Geräusche hätten Nachbarn misstrauisch machen können. Bei Bombenalarm blieben die U-Boote oben, in den Wohnungen, die offiziellen Mieter durften in den Untergrund, in den Luftschutzkeller.
Nicht alle Schattenexistenzen lebten in Häusern: Verschubbahnhöfe, Parkanlagen oder Friedhöfe waren eine Alternative. Für die Jüdin Paula Hönigsfeld war "meine letzte Zuflucht ein Mausoleum am Zentralfriedhof. Das hatte eine Tür, die sich öffnen ließ, ich trat ein und setzte mich auf den Gruftdeckel und war glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben."
Bei Entschädigungen verhielt sich Österreich nach 1945 restriktiv: Der Überlebenskampf als U-Boot wurde bis in die sechziger Jahre nicht als entschädigungswürdig anerkannt. Paula Hönigsfeld verstarb im März 1964. Mit Bescheid vom Oktober 1965 wurde ihr eine Entschädigung gewährt.
MICHAEL SCHROTT
Brigitte Ungar-Klein:
"Schattenexistenz".
Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945.
Picus Verlag, Wien 2019. 376 S., geb., 28,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letzte Zufluchten: Brigitte Ungar-Klein beschreibt, wie Wiener Juden als "U-Boote" den Terror der Nationalsozialisten überlebten
Ich möchte nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden", sagte die Wiener Poetin Elfriede Gerstl (1932 bis 2009), wenn Freunde sie fragten, warum sie nicht über ihre Erlebnisse als kleines Mädchen schreibe. Gerstl war es gemeinsam mit ihrer Mutter gelungen, von 1942 an versteckt in einigen Wiener Wohnungen den Terror der Nationalsozialisten zu überleben. Immer hieß es, sich so still wie möglich zu verhalten, besonders, wenn man das Geräusch von Stiefeln auf der Treppe vernahm. Gerstl entwickelte dann einen "Totstellreflex", so, wie sich Tiere verhalten, die sich in Lebensgefahr wissen. In die Dunkelheit des Verstecks fiel nur selten ein Lichtstrahl: "Wo er auf den Fußboden auffiel, zeichnete er goldene Ringe und Netze, die sich langsam auflösten und verschwanden."
"Schattenexistenz" nennt die Historikerin Brigitte Ungar-Klein ihr Buch über "Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945". Natürlich gab und gibt es menschliche U-Boote immer und überall, wo Herrschende einer Minderheit nach dem Leben trachten, etwa als die Christen zur Zeit Neros in den Katakomben vegetierten. "Katakombenleben" hätte der betroffenen Wiener Jüdin Anna Deutsch auch besser gefallen als "U-Boot", denn dieses könne immerhin manchmal auftauchen. Aber die U-Boote im ganzen deutschsprachigen Raum haben sich diesen Namen selbst gegeben, 1946 wurde in Wien von Überlebenden ein "U-Boot-Verband" als offizieller Selbsthilfeverein angemeldet. Als Ehrenmitglieder wurden die sogenannten "U-Boot-Kapitäne" aufgenommen, das waren die Helfer, ohne die ein Leben im Untergrund unmöglich gewesen wäre. Quartiergeber und Helfer waren bei Entdeckung der gleichen Lebensgefahr ausgesetzt wie die U-Boote selbst.
U-Boote und ihre Kapitäne - die Aufarbeitung ihrer Schicksale ist noch lange nicht abgeschlossen. Ungar-Klein: "Widerstandskämpferinnen, Überlebende der Konzentrationslager, Vertriebene, sie alle wurden bei der Aufarbeitung der Geschehnisse bedacht. Nur in wenigen Fällen wurden U-Boot-Schicksale in ihrer Gesamtheit betrachtet . . . Einzelschicksale - Anne Frank - wurden publik, umfassende Darstellungen zum Überlebenskampf der U-Boote scheiterten." Das lag natürlich auch an der Quellenlage. Von den Betroffenen und ihren Helfern gab es verständlicherweise keinerlei systematische Aufzeichnungen, je weniger Menschen von der Existenz eines U-Bootes wussten, desto besser war es für alle Beteiligten.
Ihre Recherche begann Ungar-Klein bei ihr persönlich bekannten Schicksalen, mit Kontakten zu Zeitzeugen, schließlich mit der Aufarbeitung von Archivbeständen, die Kontakte zu ehemaligen Verborgenen und ihren Helfern oder deren Kindern ermöglichten. Manchmal halfen der Autorin groteske Zufälle: In einer Zeitschrift las sie 2014 von einer zweiundneunzigjährigen gebürtigen Wienerin, Inge Ginsberg, die sich als Teilnehmerin für den Eurovision Song Contest beworben hatte. In dem Text wurde erwähnt, dass Ginsberg vor ihrer Flucht in die Schweiz versteckt gelebt hatte. In einem Telefongespräch schilderte die alte Dame ihr Überleben als Wiener U-Boot.
Leichter zugänglich waren hingegen die Quellen der Täter: In den Tagesberichten der Gestapo wurden mit größter Genauigkeit die Festnahmen und Abtransporte der Juden festgehalten, das Auffliegen von Verstecken und von Helfern. Beginnt man das Buch auf Seite 112, ist man gleich in medias res, die ersten hundert Seiten kann man zum Schluss nachholen, sie berichten von Recherchemethoden, Oral History und Statistiken, was der Tatsache geschuldet ist, dass der Text ursprünglich als Dissertation geschrieben wurde.
Von den noch im März 1938 in Wien ansässigen 170 000 Jüdinnen und Juden lebten nach Flucht und Vertreibung und nach der Deportation von 48 000 Menschen im Dezember 1942 nur noch rund 8000 Personen in der Stadt. Nicht alle mussten in den Untergrund, so bot etwa die Ehe mit einem nichtjüdischen Partner einen gewissen Schutz. Brigitte Ungar-Klein hat in ihrem Datensatz rund 1600 U-Boote verzeichnet und rund 1800 Helferinnen und Helfer. Nur vierhundert dieser Unterstützer kannten die von ihnen betreuten Personen vor 1938.
Die Motivation, die Juden zu verstecken - in Abstellkammern, Truhen, Schränken, Kellerabteilen, Verschlägen, hinter Kartonstapeln auf Dachböden, unter Betten, in Schrebergartenhütten - war unterschiedlich: Humanität, Widerstand, Zivilcourage oder - wie es Elfriede Gerstl nannte - "tapfere Widersetzlichkeit". Nur in vereinzelten Fällen wurden die Helfer finanziell entschädigt.
Neben der Unterkunft war die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Körperpflegeprodukten, Bekleidung und Schuhen für die U-Boote ein Hauptproblem. Das war alles rationiert und nur gegen Marken erhältlich, die U-Boote natürlich nicht bekamen. Viele lebten mit ihren Quartiergebern in den damals in Wien sehr verbreiteten "Bassena"-Wohnungen. Die "Bassena" war der für das ganze Stockwerk gemeinsame Wasseranschluss am Gang.
U-Boot Fani Schepejtin schildert in ihrem Antrag auf Entschädigung von 1962 ihre Unterkunft: "Während dieser Zeit war ich bei Frau Marie Rieberer. Die Wohnung bestand aus einer Küche mit einem Fenster auf den Gang und einem Gassenkabinett. Das Ausmaß der gesamten Wohnung war ca. 16-18 Quadratmeter. Im Kabinett war nur eine Schlafstelle für Frau Rieberer. Ich und meine Schwester mussten auf dem Fußboden auf Decken schlafen, weil für eine weitere Schlafstelle kein Platz war. Klosett und Wasserleitung befanden sich auf dem Gang. Frau Rieberer hat uns die Benutzung von Klosett und Wasserleitung untersagt, so dass wir unsere Notdurft in der Wohnung auf einem Kübel verrichten mussten."
Zur Standardausstattung einer solchen Wohnung gehörten damals auch Wanzen und Flöhe. U-Boote, die den Luxus hatten, in der Speisekammer einer Wohnung mit Bad und Toilette zu hausen, durften die Sanitäreinrichtungen natürlich nicht benutzen, wenn die regulären Mieter nicht zu Hause waren; die Geräusche hätten Nachbarn misstrauisch machen können. Bei Bombenalarm blieben die U-Boote oben, in den Wohnungen, die offiziellen Mieter durften in den Untergrund, in den Luftschutzkeller.
Nicht alle Schattenexistenzen lebten in Häusern: Verschubbahnhöfe, Parkanlagen oder Friedhöfe waren eine Alternative. Für die Jüdin Paula Hönigsfeld war "meine letzte Zuflucht ein Mausoleum am Zentralfriedhof. Das hatte eine Tür, die sich öffnen ließ, ich trat ein und setzte mich auf den Gruftdeckel und war glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben."
Bei Entschädigungen verhielt sich Österreich nach 1945 restriktiv: Der Überlebenskampf als U-Boot wurde bis in die sechziger Jahre nicht als entschädigungswürdig anerkannt. Paula Hönigsfeld verstarb im März 1964. Mit Bescheid vom Oktober 1965 wurde ihr eine Entschädigung gewährt.
MICHAEL SCHROTT
Brigitte Ungar-Klein:
"Schattenexistenz".
Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945.
Picus Verlag, Wien 2019. 376 S., geb., 28,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main