Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2008Zu wenig Brücke
"Aber wo / finde ich das Gesicht / mir gegenüber im Spiegel wie / vorgestern, als es noch nicht / unterm Fluch der Verwesung / verschlämmt war und ich bezeugen konnte, / daß es zu mir gehört." Nicht "die Welt", wie Friedrich Rückert klagte, sie selbst ist sich abhandengekommen, und Fremdheitserfahrungen dieser Art bestimmen weithin Dagmar Nicks anrührende, illusionslose Altersgedichte. Hier gelten die bequemen Klischees von der Weisheit des Alters und von der verjüngenden Kraft der Poesie nicht mehr. Hier ist alles in Auflösung begriffen und nur noch schattenhaft wahrnehmbar: Zeit, Raum, Personen, Erinnerungen; selbst die Gespräche werden zu Schattengesprächen. Ohne jedes Pathos und ohne Larmoyanz notiert Dagmar Nick die Verstörungen des Alters. Sie erlaubt sich keine Ausflüchte in Trost, süße Resignation oder bittere Aggression, aber gerade so gelingen ihr erschreckend schöne, nie beschönigende Verse: "Halbierte Brücken. Immer / steh ich am falschen Ufer, / peile die andere Seite an / und kenne nicht / die Entfernung." Die erschütternden Flucht- und Ruinen-Gedichte der zwanzigjährigen Dagmar Nick, die im Jahr 1946 in der legendären Anthologie "De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit" zuerst erschienen sind, haben seinerzeit Geschichte gemacht. Ihre kompromisslosen Altersgedichte wird man nicht vergessen, wenn es gilt, diese Geschichte fortzuschreiben. (Dagmar Nick: "Schattengespräche. Gedichte". Rimbaud Verlag, Aachen 2008. 80 S., geb. 19,- [Euro].) WSg
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"Aber wo / finde ich das Gesicht / mir gegenüber im Spiegel wie / vorgestern, als es noch nicht / unterm Fluch der Verwesung / verschlämmt war und ich bezeugen konnte, / daß es zu mir gehört." Nicht "die Welt", wie Friedrich Rückert klagte, sie selbst ist sich abhandengekommen, und Fremdheitserfahrungen dieser Art bestimmen weithin Dagmar Nicks anrührende, illusionslose Altersgedichte. Hier gelten die bequemen Klischees von der Weisheit des Alters und von der verjüngenden Kraft der Poesie nicht mehr. Hier ist alles in Auflösung begriffen und nur noch schattenhaft wahrnehmbar: Zeit, Raum, Personen, Erinnerungen; selbst die Gespräche werden zu Schattengesprächen. Ohne jedes Pathos und ohne Larmoyanz notiert Dagmar Nick die Verstörungen des Alters. Sie erlaubt sich keine Ausflüchte in Trost, süße Resignation oder bittere Aggression, aber gerade so gelingen ihr erschreckend schöne, nie beschönigende Verse: "Halbierte Brücken. Immer / steh ich am falschen Ufer, / peile die andere Seite an / und kenne nicht / die Entfernung." Die erschütternden Flucht- und Ruinen-Gedichte der zwanzigjährigen Dagmar Nick, die im Jahr 1946 in der legendären Anthologie "De profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit" zuerst erschienen sind, haben seinerzeit Geschichte gemacht. Ihre kompromisslosen Altersgedichte wird man nicht vergessen, wenn es gilt, diese Geschichte fortzuschreiben. (Dagmar Nick: "Schattengespräche. Gedichte". Rimbaud Verlag, Aachen 2008. 80 S., geb. 19,- [Euro].) WSg
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