Kyriakos Roussias, angesehener Genforscher in den USA, kehrt nach fast dreißig Jahren erstmals nach Kreta, an den Ort seiner Kindheit, zurück und steht damit unwissentlich in einer in der Familie langwährenden Tradition der Blutrache: Die Reihe ist an ihm, den Tod seines Vaters zu rächen. Von Amerika in die dörfliche kleine Gemeinschaft versetzt, sieht sich der Wissenschaftler plötzlich mit diesem archaischen Ritual konfrontiert. Kann er sich diesem entziehen? Mit jedem Tag seines Aufenthalts wird ihm das ungeschriebenen Gesetz der Vendetta vertrauter, und als es zur Begegnung mit dem Mörder seines Vater kommt, muß er handeln. Kreta - das ist die Heimat Alexis Sorbas´, die Insel der Männer in ihren schwarzen Hemden und den weißen Stiefeln, deren Großväter Helden im Unabhängigkeitskampf gewesen sind und deren Väter im Zweiten Weltkrieg ihr Leben in der Schlacht auf Kreta ließen. Kreta ist aber auch die Insel der Frauen, die Rache schüren, wie einst Elektra, mit Worten oder mit Schweigen, und sie müssen für sich die Frage entscheiden, ob sie Ehefrauen bzw. Mütter eines Mörders oder eines Opfers sein wollen - meist sind sie beides. Ein angesehener Wissenschaftler kehrt aus den USA nach Kreta an den Ort seiner Kindheit zurück und wird erstmals mit dem Drama seiner Familie konfrontiert: einer seit Generationen währenden Tradition der Blutrache. Auch sein Vater war Mörder - und Opfer. Wird er dem Zwang von Mord und Vergeltung entkommen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Könnt ihr euch nicht ohne mich totschießen?
Ioanna Karystiani befriedet Kreta / Von Tilman Spreckelsen
Das kretische Volkslied geht so: "Der Jüngling und der Tod begegneten sich hoch in den Bergen, der eine war flink, der andere erschöpft, da sprang der Jüngling dem Tod davon und über den steilen Abhang zu Tal." Ob der Jüngling dem Tod damit endgültig entkommen ist oder ihm "über den steilen Abhang" geradewegs in die Arme springt, bleibt verborgen - das Volkslied, das der alternde Sänger in der Nachtbar "Sambia" singt, endet hier.
Für einen seiner Zuhörer aber, den Biophysiker Kyriakos Roussias, ist dieses Lied ein mehrdeutiges Symbol: für die von Blutrache geprägte Familiengeschichte, für das Zerwürfnis mit den engsten Verwandten, das vor vielen Jahrzehnten mit einem tödlichen Sturz von einem Berg hinab seinen Anfang nahm. Für den Mord, den sein Vater beging, als er einen seiner Neffen, der als Sänger mit gerade diesem Lied Karriere machte, bestialisch umbrachte. Für eine Zukunft schließlich, die vorgezeichnet scheint, seit wiederum Kyriakos' Vater der Blutrache zum Opfer fiel, so daß es jetzt an ihm wäre, diesen Tod zu rächen. Denn der Mörder, Kyriakos' Cousin, lebt wieder im gemeinsamen Heimatdorf, nachdem er seine Gefängnisstrafe verbüßt hat.
Der zweite Roman der griechischen Autorin Ioanna Karystiani, der jetzt auf deutsch erschienen ist, schildert den Besuch eines Kreters in seiner Heimat, die er als Fünfzehnjähriger verlassen hatte. Jetzt ist er Mitte Vierzig, ein hochdekorierter Wissenschaftler, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden ist und die letzten Morde nur aus der Ferne wahrgenommen hatte. Daß ihn das Exil dauerhaft beschädigt hat, daß er zu keiner Bindung in der Lage ist und seiner Umgebung grundsätzlich distanziert gegenübersteht, wird rasch klar, ebenso, daß ihn die Frage, ob seine im Heimatdorf gebliebene Familie von ihm erwartet, den Mord an seinem Vater zu rächen, unerwartet intensiv beschäftigt. Denn obwohl er sich darüber im klaren ist, daß er mit diesem Teil des familiären Erbes nichts zu tun haben will, "mochte er sich in der Rolle nicht recht wohl fühlen, das letzte lebende männliche Mitglied des einen Zweigs der Roussias und gleichzeitig der erste zu sein, der nicht zur Waffe greifen würde".
Schon nach wenigen Seiten ist also deutlich, welchen Kurs der Roman steuert, welchen Konflikt er behandelt, was seine Hauptfigur bewegt, und da all dies an bekannte Muster anzuknüpfen scheint, könnte daraus ein ziemlich vorhersehbares Buch werden. Doch Ioanna Karystiani ist ein fesselnder Roman gelungen, der alle Klischees mit Leichtigkeit vermeidet, der sich um Atmosphäre bemüht, statt Holzschnitte zu liefern (und mit dieser Sorgfalt an ihr großes Debüt "Die Frauen von Andros" anknüpft), und der vor allem ganz unangestrengt die Frage diskutiert, von wem nun eigentlich die vermeintlich omnipräsente Aufforderung zur Blutrache ausgeht, die Kyriakos auf sich lasten spürt. Denn die Gewaltbereitschaft, die alle Beteiligten stillschweigend bei den Bewohnern dieser Bergregion voraussetzen, entpuppt sich zunehmend als Chimäre, mehr noch: Indem der grausamste in dieser langen Reihe von Mördern, Kyriakos' Vater, für die dauerhafte Entfernung seines Sohnes sorgt und damit die Kette der Blutrache durchbricht, zeigt gerade er sich als Friedensstifter, als letztes, ungesühntes Opfer.
Genau daraus bezieht der Roman seine insgesamt große Spannung, die höchstens durch einige Längen und überflüssige Selbstinterpretationen der Hauptfigur etwas verwässert wird: Kyriakos, der als Junge so nachhaltig aus der Schußlinie genommen wurde, droht durch seine Rückkehr nach achtundzwanzig Jahren zum Katalysator eines neuerlichen Mordens zu werden, vor dem sich alle fürchten, auch wenn es keiner zugibt. Der aufgeklärte Wissenschaftler wird zum Symbol des Rückfalls in archaische Bräuche, und in seiner distanzierten Schweigsamkeit tut er nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen, im Gegenteil. So gräbt er heimlich die Waffen seines Vaters wieder aus und belauert seinen Cousin so auffällig, daß der sich vor Angst kaum noch halten kann. Und Karystiani zeigt, wie sich vor allem für Kyriakos die Atmosphäre im Dorf zunehmend gewalttätig auflädt, wenn etwa das abendliche Klavierspielen eines Kindes für den Heimkehrer immer mehr "wie Pistolenschüsse" klingt.
So ist Ioanna Karystiani ein außergewöhnlicher Roman geglückt, dessen Stärke nicht zuletzt in der ungemein plastischen Darstellung einer Gesellschaft liegt, die sich so gern für die Moderne entscheiden möchte und doch von der Tradition nur mühsam loskommt - beispielhaft für dieses unbequeme Leben im Übergang ist eine Figur, die seit zwei Dekaden an einem Rohbau arbeitet, ohne das Haus vollenden zu können. Am Ende findet sie ihre Ruhe, und weil sich auch für die Dauerfehde der Familien eine Lösung abzuzeichnen scheint, darf man auch für den Jüngling aus dem Volkslied hoffen: Vielleicht springt er dem Tod ja tatsächlich davon. Wenigstens fürs erste.
Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Michaela Prinzinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ioanna Karystiani befriedet Kreta / Von Tilman Spreckelsen
Das kretische Volkslied geht so: "Der Jüngling und der Tod begegneten sich hoch in den Bergen, der eine war flink, der andere erschöpft, da sprang der Jüngling dem Tod davon und über den steilen Abhang zu Tal." Ob der Jüngling dem Tod damit endgültig entkommen ist oder ihm "über den steilen Abhang" geradewegs in die Arme springt, bleibt verborgen - das Volkslied, das der alternde Sänger in der Nachtbar "Sambia" singt, endet hier.
Für einen seiner Zuhörer aber, den Biophysiker Kyriakos Roussias, ist dieses Lied ein mehrdeutiges Symbol: für die von Blutrache geprägte Familiengeschichte, für das Zerwürfnis mit den engsten Verwandten, das vor vielen Jahrzehnten mit einem tödlichen Sturz von einem Berg hinab seinen Anfang nahm. Für den Mord, den sein Vater beging, als er einen seiner Neffen, der als Sänger mit gerade diesem Lied Karriere machte, bestialisch umbrachte. Für eine Zukunft schließlich, die vorgezeichnet scheint, seit wiederum Kyriakos' Vater der Blutrache zum Opfer fiel, so daß es jetzt an ihm wäre, diesen Tod zu rächen. Denn der Mörder, Kyriakos' Cousin, lebt wieder im gemeinsamen Heimatdorf, nachdem er seine Gefängnisstrafe verbüßt hat.
Der zweite Roman der griechischen Autorin Ioanna Karystiani, der jetzt auf deutsch erschienen ist, schildert den Besuch eines Kreters in seiner Heimat, die er als Fünfzehnjähriger verlassen hatte. Jetzt ist er Mitte Vierzig, ein hochdekorierter Wissenschaftler, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden ist und die letzten Morde nur aus der Ferne wahrgenommen hatte. Daß ihn das Exil dauerhaft beschädigt hat, daß er zu keiner Bindung in der Lage ist und seiner Umgebung grundsätzlich distanziert gegenübersteht, wird rasch klar, ebenso, daß ihn die Frage, ob seine im Heimatdorf gebliebene Familie von ihm erwartet, den Mord an seinem Vater zu rächen, unerwartet intensiv beschäftigt. Denn obwohl er sich darüber im klaren ist, daß er mit diesem Teil des familiären Erbes nichts zu tun haben will, "mochte er sich in der Rolle nicht recht wohl fühlen, das letzte lebende männliche Mitglied des einen Zweigs der Roussias und gleichzeitig der erste zu sein, der nicht zur Waffe greifen würde".
Schon nach wenigen Seiten ist also deutlich, welchen Kurs der Roman steuert, welchen Konflikt er behandelt, was seine Hauptfigur bewegt, und da all dies an bekannte Muster anzuknüpfen scheint, könnte daraus ein ziemlich vorhersehbares Buch werden. Doch Ioanna Karystiani ist ein fesselnder Roman gelungen, der alle Klischees mit Leichtigkeit vermeidet, der sich um Atmosphäre bemüht, statt Holzschnitte zu liefern (und mit dieser Sorgfalt an ihr großes Debüt "Die Frauen von Andros" anknüpft), und der vor allem ganz unangestrengt die Frage diskutiert, von wem nun eigentlich die vermeintlich omnipräsente Aufforderung zur Blutrache ausgeht, die Kyriakos auf sich lasten spürt. Denn die Gewaltbereitschaft, die alle Beteiligten stillschweigend bei den Bewohnern dieser Bergregion voraussetzen, entpuppt sich zunehmend als Chimäre, mehr noch: Indem der grausamste in dieser langen Reihe von Mördern, Kyriakos' Vater, für die dauerhafte Entfernung seines Sohnes sorgt und damit die Kette der Blutrache durchbricht, zeigt gerade er sich als Friedensstifter, als letztes, ungesühntes Opfer.
Genau daraus bezieht der Roman seine insgesamt große Spannung, die höchstens durch einige Längen und überflüssige Selbstinterpretationen der Hauptfigur etwas verwässert wird: Kyriakos, der als Junge so nachhaltig aus der Schußlinie genommen wurde, droht durch seine Rückkehr nach achtundzwanzig Jahren zum Katalysator eines neuerlichen Mordens zu werden, vor dem sich alle fürchten, auch wenn es keiner zugibt. Der aufgeklärte Wissenschaftler wird zum Symbol des Rückfalls in archaische Bräuche, und in seiner distanzierten Schweigsamkeit tut er nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen, im Gegenteil. So gräbt er heimlich die Waffen seines Vaters wieder aus und belauert seinen Cousin so auffällig, daß der sich vor Angst kaum noch halten kann. Und Karystiani zeigt, wie sich vor allem für Kyriakos die Atmosphäre im Dorf zunehmend gewalttätig auflädt, wenn etwa das abendliche Klavierspielen eines Kindes für den Heimkehrer immer mehr "wie Pistolenschüsse" klingt.
So ist Ioanna Karystiani ein außergewöhnlicher Roman geglückt, dessen Stärke nicht zuletzt in der ungemein plastischen Darstellung einer Gesellschaft liegt, die sich so gern für die Moderne entscheiden möchte und doch von der Tradition nur mühsam loskommt - beispielhaft für dieses unbequeme Leben im Übergang ist eine Figur, die seit zwei Dekaden an einem Rohbau arbeitet, ohne das Haus vollenden zu können. Am Ende findet sie ihre Ruhe, und weil sich auch für die Dauerfehde der Familien eine Lösung abzuzeichnen scheint, darf man auch für den Jüngling aus dem Volkslied hoffen: Vielleicht springt er dem Tod ja tatsächlich davon. Wenigstens fürs erste.
Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Michaela Prinzinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Als außergewöhnliches Buch lobt Rezensent Tilman Spreckelsen diesen Roman. Als seine Stärken beschreibt er "die ungemein plastische Darstellung einer Gesellschaft" die sich so gerne für die Moderne entscheiden möchte und doch von der Tradition nur mühsam loskommen würde. Der "fesselnde" Roman schildert Spreckelsen zufolge den Besuch eines in den USA als hochdekorierten Biophysiker lebenden Kreters in seiner Heimat. Dort stellt er fest, dass man von ihm erwartet, seinen ebenfalls durch Blutrache umgekommenen Vater zu rächen. Mit einer Leichtigkeit, die alle Klischees vermeide, gelingt es der griechischen Autorin nach Ansicht des Rezensenten, ganz unangestrengt die Frage zu diskutieren, von wem eigentlich die omnipräsente Aufforderung zur Blutrache ausgehen würde. Im Verlauf des Romans sieht Spreckelsen sich die Gewaltbereitschaft zunehmend als Schimäre erweisen und den Roman seine Spannung auch aus der dauerhaften Durchbrechung der Kette der Blutrache beziehen; Spannung, die seiner Ansicht nach insgesamt höchstens durch ein paar überflüssige Selbstinterpretationen des Helden verwässert wird.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Ein Roman über die Blutrache auf Kreta, erfüllt von verschiedenen Düften, Bildern, Tönen, Klippen und Felsen sowie von unzugänglichen Gipfeln in der Natur und Ab-gründen in der menschlichen Seele. Eine Geschichte, die in ihrem Verlauf verborgene Geheimnisse ans Licht und Blut in Wallung bringt, Blut, das besänftigt und abgekühlt schien, in Wirklichkeit aber nach wie vor kocht. (...) Ein Roman über die menschliche Seele, der in seinen Bann zieht, atmosphärisch, an vielen Stellen hart und entlarvend, von der Autorin, die uns bereits mit ihrem ersten Buch so beeindruckt hat. (...) Eine Geschichte, die verzaubert, über das junge Kreta, das alte Kreta und über die dunkle und abgründige menschliche Seele." Kyriakatiki Augi To Ethnos