Kreta - das ist die Heimat Alexis Sorbas', die Insel der Männer in ihren schwarzen Hemden und den weißen Stiefeln, aber auch die Insel der Frauen, die ihre Familien zusammenhalten. An diesen Ort seiner Kindheit kehrt Kyriakos Roussias, angesehener Wissenschaftler in den USA, nach fast 30 Jahren zurück und sieht sich mit dem Gesetz der Blutrache konfrontiert: Die Reihe ist nun an ihm, den Tod seines Vaters zu rächen. Kann er sich diesem archaischen Ritual entziehen? Mit jedem Tag seines Aufenthalts wird ihm das ungeschriebene Gesetz der Vendetta vertrauter, und als es zur Begegnung mit dem Mörder seines Vaters kommt, muss er handeln.»Ioanna Karystiani ist ein fesselnder Roman gelungen, der alle Klischees mit Leichtigkeit vermeidet ...« Tilman Spreckelsen, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«»Schattenhochzeit ist ein Sozial-Epos und zugleich ein psychologischer Roman über die Suche nach Identität - mit einer leisen Liebesgeschichte.« »Der Spiegel«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Könnt ihr euch nicht ohne mich totschießen?
Ioanna Karystiani befriedet Kreta / Von Tilman Spreckelsen
Das kretische Volkslied geht so: "Der Jüngling und der Tod begegneten sich hoch in den Bergen, der eine war flink, der andere erschöpft, da sprang der Jüngling dem Tod davon und über den steilen Abhang zu Tal." Ob der Jüngling dem Tod damit endgültig entkommen ist oder ihm "über den steilen Abhang" geradewegs in die Arme springt, bleibt verborgen - das Volkslied, das der alternde Sänger in der Nachtbar "Sambia" singt, endet hier.
Für einen seiner Zuhörer aber, den Biophysiker Kyriakos Roussias, ist dieses Lied ein mehrdeutiges Symbol: für die von Blutrache geprägte Familiengeschichte, für das Zerwürfnis mit den engsten Verwandten, das vor vielen Jahrzehnten mit einem tödlichen Sturz von einem Berg hinab seinen Anfang nahm. Für den Mord, den sein Vater beging, als er einen seiner Neffen, der als Sänger mit gerade diesem Lied Karriere machte, bestialisch umbrachte. Für eine Zukunft schließlich, die vorgezeichnet scheint, seit wiederum Kyriakos' Vater der Blutrache zum Opfer fiel, so daß es jetzt an ihm wäre, diesen Tod zu rächen. Denn der Mörder, Kyriakos' Cousin, lebt wieder im gemeinsamen Heimatdorf, nachdem er seine Gefängnisstrafe verbüßt hat.
Der zweite Roman der griechischen Autorin Ioanna Karystiani, der jetzt auf deutsch erschienen ist, schildert den Besuch eines Kreters in seiner Heimat, die er als Fünfzehnjähriger verlassen hatte. Jetzt ist er Mitte Vierzig, ein hochdekorierter Wissenschaftler, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden ist und die letzten Morde nur aus der Ferne wahrgenommen hatte. Daß ihn das Exil dauerhaft beschädigt hat, daß er zu keiner Bindung in der Lage ist und seiner Umgebung grundsätzlich distanziert gegenübersteht, wird rasch klar, ebenso, daß ihn die Frage, ob seine im Heimatdorf gebliebene Familie von ihm erwartet, den Mord an seinem Vater zu rächen, unerwartet intensiv beschäftigt. Denn obwohl er sich darüber im klaren ist, daß er mit diesem Teil des familiären Erbes nichts zu tun haben will, "mochte er sich in der Rolle nicht recht wohl fühlen, das letzte lebende männliche Mitglied des einen Zweigs der Roussias und gleichzeitig der erste zu sein, der nicht zur Waffe greifen würde".
Schon nach wenigen Seiten ist also deutlich, welchen Kurs der Roman steuert, welchen Konflikt er behandelt, was seine Hauptfigur bewegt, und da all dies an bekannte Muster anzuknüpfen scheint, könnte daraus ein ziemlich vorhersehbares Buch werden. Doch Ioanna Karystiani ist ein fesselnder Roman gelungen, der alle Klischees mit Leichtigkeit vermeidet, der sich um Atmosphäre bemüht, statt Holzschnitte zu liefern (und mit dieser Sorgfalt an ihr großes Debüt "Die Frauen von Andros" anknüpft), und der vor allem ganz unangestrengt die Frage diskutiert, von wem nun eigentlich die vermeintlich omnipräsente Aufforderung zur Blutrache ausgeht, die Kyriakos auf sich lasten spürt. Denn die Gewaltbereitschaft, die alle Beteiligten stillschweigend bei den Bewohnern dieser Bergregion voraussetzen, entpuppt sich zunehmend als Chimäre, mehr noch: Indem der grausamste in dieser langen Reihe von Mördern, Kyriakos' Vater, für die dauerhafte Entfernung seines Sohnes sorgt und damit die Kette der Blutrache durchbricht, zeigt gerade er sich als Friedensstifter, als letztes, ungesühntes Opfer.
Genau daraus bezieht der Roman seine insgesamt große Spannung, die höchstens durch einige Längen und überflüssige Selbstinterpretationen der Hauptfigur etwas verwässert wird: Kyriakos, der als Junge so nachhaltig aus der Schußlinie genommen wurde, droht durch seine Rückkehr nach achtundzwanzig Jahren zum Katalysator eines neuerlichen Mordens zu werden, vor dem sich alle fürchten, auch wenn es keiner zugibt. Der aufgeklärte Wissenschaftler wird zum Symbol des Rückfalls in archaische Bräuche, und in seiner distanzierten Schweigsamkeit tut er nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen, im Gegenteil. So gräbt er heimlich die Waffen seines Vaters wieder aus und belauert seinen Cousin so auffällig, daß der sich vor Angst kaum noch halten kann. Und Karystiani zeigt, wie sich vor allem für Kyriakos die Atmosphäre im Dorf zunehmend gewalttätig auflädt, wenn etwa das abendliche Klavierspielen eines Kindes für den Heimkehrer immer mehr "wie Pistolenschüsse" klingt.
So ist Ioanna Karystiani ein außergewöhnlicher Roman geglückt, dessen Stärke nicht zuletzt in der ungemein plastischen Darstellung einer Gesellschaft liegt, die sich so gern für die Moderne entscheiden möchte und doch von der Tradition nur mühsam loskommt - beispielhaft für dieses unbequeme Leben im Übergang ist eine Figur, die seit zwei Dekaden an einem Rohbau arbeitet, ohne das Haus vollenden zu können. Am Ende findet sie ihre Ruhe, und weil sich auch für die Dauerfehde der Familien eine Lösung abzuzeichnen scheint, darf man auch für den Jüngling aus dem Volkslied hoffen: Vielleicht springt er dem Tod ja tatsächlich davon. Wenigstens fürs erste.
Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Michaela Prinzinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ioanna Karystiani befriedet Kreta / Von Tilman Spreckelsen
Das kretische Volkslied geht so: "Der Jüngling und der Tod begegneten sich hoch in den Bergen, der eine war flink, der andere erschöpft, da sprang der Jüngling dem Tod davon und über den steilen Abhang zu Tal." Ob der Jüngling dem Tod damit endgültig entkommen ist oder ihm "über den steilen Abhang" geradewegs in die Arme springt, bleibt verborgen - das Volkslied, das der alternde Sänger in der Nachtbar "Sambia" singt, endet hier.
Für einen seiner Zuhörer aber, den Biophysiker Kyriakos Roussias, ist dieses Lied ein mehrdeutiges Symbol: für die von Blutrache geprägte Familiengeschichte, für das Zerwürfnis mit den engsten Verwandten, das vor vielen Jahrzehnten mit einem tödlichen Sturz von einem Berg hinab seinen Anfang nahm. Für den Mord, den sein Vater beging, als er einen seiner Neffen, der als Sänger mit gerade diesem Lied Karriere machte, bestialisch umbrachte. Für eine Zukunft schließlich, die vorgezeichnet scheint, seit wiederum Kyriakos' Vater der Blutrache zum Opfer fiel, so daß es jetzt an ihm wäre, diesen Tod zu rächen. Denn der Mörder, Kyriakos' Cousin, lebt wieder im gemeinsamen Heimatdorf, nachdem er seine Gefängnisstrafe verbüßt hat.
Der zweite Roman der griechischen Autorin Ioanna Karystiani, der jetzt auf deutsch erschienen ist, schildert den Besuch eines Kreters in seiner Heimat, die er als Fünfzehnjähriger verlassen hatte. Jetzt ist er Mitte Vierzig, ein hochdekorierter Wissenschaftler, der inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden ist und die letzten Morde nur aus der Ferne wahrgenommen hatte. Daß ihn das Exil dauerhaft beschädigt hat, daß er zu keiner Bindung in der Lage ist und seiner Umgebung grundsätzlich distanziert gegenübersteht, wird rasch klar, ebenso, daß ihn die Frage, ob seine im Heimatdorf gebliebene Familie von ihm erwartet, den Mord an seinem Vater zu rächen, unerwartet intensiv beschäftigt. Denn obwohl er sich darüber im klaren ist, daß er mit diesem Teil des familiären Erbes nichts zu tun haben will, "mochte er sich in der Rolle nicht recht wohl fühlen, das letzte lebende männliche Mitglied des einen Zweigs der Roussias und gleichzeitig der erste zu sein, der nicht zur Waffe greifen würde".
Schon nach wenigen Seiten ist also deutlich, welchen Kurs der Roman steuert, welchen Konflikt er behandelt, was seine Hauptfigur bewegt, und da all dies an bekannte Muster anzuknüpfen scheint, könnte daraus ein ziemlich vorhersehbares Buch werden. Doch Ioanna Karystiani ist ein fesselnder Roman gelungen, der alle Klischees mit Leichtigkeit vermeidet, der sich um Atmosphäre bemüht, statt Holzschnitte zu liefern (und mit dieser Sorgfalt an ihr großes Debüt "Die Frauen von Andros" anknüpft), und der vor allem ganz unangestrengt die Frage diskutiert, von wem nun eigentlich die vermeintlich omnipräsente Aufforderung zur Blutrache ausgeht, die Kyriakos auf sich lasten spürt. Denn die Gewaltbereitschaft, die alle Beteiligten stillschweigend bei den Bewohnern dieser Bergregion voraussetzen, entpuppt sich zunehmend als Chimäre, mehr noch: Indem der grausamste in dieser langen Reihe von Mördern, Kyriakos' Vater, für die dauerhafte Entfernung seines Sohnes sorgt und damit die Kette der Blutrache durchbricht, zeigt gerade er sich als Friedensstifter, als letztes, ungesühntes Opfer.
Genau daraus bezieht der Roman seine insgesamt große Spannung, die höchstens durch einige Längen und überflüssige Selbstinterpretationen der Hauptfigur etwas verwässert wird: Kyriakos, der als Junge so nachhaltig aus der Schußlinie genommen wurde, droht durch seine Rückkehr nach achtundzwanzig Jahren zum Katalysator eines neuerlichen Mordens zu werden, vor dem sich alle fürchten, auch wenn es keiner zugibt. Der aufgeklärte Wissenschaftler wird zum Symbol des Rückfalls in archaische Bräuche, und in seiner distanzierten Schweigsamkeit tut er nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen, im Gegenteil. So gräbt er heimlich die Waffen seines Vaters wieder aus und belauert seinen Cousin so auffällig, daß der sich vor Angst kaum noch halten kann. Und Karystiani zeigt, wie sich vor allem für Kyriakos die Atmosphäre im Dorf zunehmend gewalttätig auflädt, wenn etwa das abendliche Klavierspielen eines Kindes für den Heimkehrer immer mehr "wie Pistolenschüsse" klingt.
So ist Ioanna Karystiani ein außergewöhnlicher Roman geglückt, dessen Stärke nicht zuletzt in der ungemein plastischen Darstellung einer Gesellschaft liegt, die sich so gern für die Moderne entscheiden möchte und doch von der Tradition nur mühsam loskommt - beispielhaft für dieses unbequeme Leben im Übergang ist eine Figur, die seit zwei Dekaden an einem Rohbau arbeitet, ohne das Haus vollenden zu können. Am Ende findet sie ihre Ruhe, und weil sich auch für die Dauerfehde der Familien eine Lösung abzuzeichnen scheint, darf man auch für den Jüngling aus dem Volkslied hoffen: Vielleicht springt er dem Tod ja tatsächlich davon. Wenigstens fürs erste.
Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit". Roman. Aus dem Griechischen übersetzt von Michaela Prinzinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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