Eine kolossalische Schöpfung voll tiefer Lebenslust» nannte Sinclair L ewis in seiner Nobelpreisrede das Werk von Thomas Wolfe. Der große Roman «Schau heimwärts, Engel!» erzählt Kindheit und Entwicklung des jungen Eugen Gant, eines zarten und wilden Genius, dem der Alltag immer wieder zum Mythos wird. Menschen und Dinge erlebt er in «einem sonderbaren Licht, das die staubige Welt neu verzaubert». Mit seinem Vater, einem gebrochenen Titanen voll Lasterhaftigkeit und Größe, mit der geizig-ehrgeizigen Mutter, mit der Dämonenschar seiner vielen Geschwister ist er durch Blutsbande hoffnungslos zusammengeschmiedet und wird auch in der Trennung ihre Gespenster nicht los. Sein Leben als Zeitungsjunge, Schüler, Student, Vagabund, seine Erlebnisse mit Freunden und Frauen werden zu einem leidenschaftlichen Kampf um das Geheimnis des Daseins. Hermann Hesse: «Dieses Epos der Familie Gant ist die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika, die ich kenne.»
Mit der vorliegenden Fassung beginnt der Rowohlt Verlag eine Neuausgabe der Werke von Thomas Wolfe in revidierten Übersetzungen, die zu einer Wiederentdeckung dieses bedeutenden Erzählers unseres Jahrhunderts einladen.
Mit der vorliegenden Fassung beginnt der Rowohlt Verlag eine Neuausgabe der Werke von Thomas Wolfe in revidierten Übersetzungen, die zu einer Wiederentdeckung dieses bedeutenden Erzählers unseres Jahrhunderts einladen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2009Das Flügelrauschen steinerner Engel
Ohne Scheu vor großen Worten und Gefühlen: Thomas Wolfes gewaltiger Amerikaroman "Schau heimwärts, Engel" feiert in einer neuen Übersetzung sein deutsches Comeback.
Von Werner von Koppenfels
Thomas Wolfe - der Ältere, nicht der mit dem "Fegefeuer der Eitelkeiten" -, wer kennt ihn noch? Wer liest noch seinen einstmals berühmten Wälzer mit dem hochliterarischen, pathosverdächtigen Titel "Schau heimwärts, Engel"? Das Buch erschien 1929 und lag schon drei Jahre später in einer sehr respektablen, oft nachgedruckten deutschen Fassung vor. Frühere Generationen haben diesen uramerikanischen Entwicklungsroman, nicht selten schon in jugendlichem Alter, mit heißen Backen verschlungen; und dies trotz seiner komplizierten Anlage und ausufernden epischen Beredsamkeit. Doch inzwischen hat längst der schlichtere - und schlankere - "Fänger im Roggen" sein Erbe als Kultbuch der Heranwachsenden angetreten und wohl auch wieder abgegeben - an wen? Die Moden ändern sich.
Dass sie es tun, ist kein Problem, sondern ein Test für die Literatur. Wenn der Manesse Verlag soeben Wolfes "Engel" der lesenden Bevölkerung - frisch übersetzt im Großformat, mit Kommentar und Nachwort - präsentiert, so stellt er damit öffentlich die Frage: Kann man das noch - oder wieder - lesen? Und ob man es kann. Irma Wehrlis Neuübertragung befreit den Text vom angestaubten Charme der alten Version und von mancherlei Schnitzern. Sie gibt den kräftigen Stilfarben des Originals auf Deutsch neuen Glanz, in der Lebhaftigkeit der Dialoge, der üppigen Bildersprache, in Klang und Rhythmik der syntaktischen Kaskaden.
Denn dieses stark autobiographische Zeugnis eines verzehrenden Lebenshungers, mit seinen unvergesslichen Charakteren und einer Stofffülle, die ihre endgültige Form der Geburtshilfe durch den Verlagslektor verdankt, ist nicht zuletzt ein stilistisches Brillantfeuerwerk. Etwa wenn Wolfe die Vitalität beschwört, die der (deutschstämmige) Vater Gant, der Steinmetz, der "gefallene Titan", in jüngeren Jahren auf seine Umwelt überträgt: "Alles, was seine Hände berührten, reifte zu prallem, prickelndem Leben heran . . . Überreife Pflaumen lagen aufgeplatzt im Gras; seine großen Kirschbäume strotzten von schweren, klebrigen Kleinodien . . . Die Erde war fruchtbar für ihn wie eine dralle Frau."
Oder wenn die Metaphorik zur seelischen Sonde wird, um für einen Augenblick das ewig flüchtige, widersprüchliche Wesen der Figuren aufzuspüren: "ihre braunen Augen wurden schwarz, als wäre ein Vogel hindurchgeflogen und hätte den Schatten seiner Flügel auf sie gelegt"; oder: "sein Mund ist wie ein Messer und sein Lächeln ein Licht, das über die Klinge zuckt." Es ist ein Stil ohne Scheu vor großen Worten und Gefühlen, der die ernüchterten zwanziger Jahre herausforderte und faszinierte, ebenso weltverfallen wie weltverloren: "unter glänzenden Sternen auf dieser so matten, glanzlosen Asche, verloren! Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Wo? Wann?" O verloren! ist der Refrain und der ursprüngliche Titel des Romans, der Wolfes Selbstporträt des Autors als junger Mann darstellt.
Der junge Mann im Buch heißt Eugene. Altamont, der Hauptort der Handlung, ist unschwer mit Asheville, North Carolina zu identifizieren, in dessen Friedhof noch die steinernen Grabengel aus der väterlichen Werkstatt stehen; umschlossen von Bergen, die dem Helden, je nachdem, Geborgenheit, Gefangenschaft oder den Ansporn zu Ausbrüchen und Höhenflügen bedeuten. Denn die Dinge sind ambivalent, und wer die Welt entdecken will, verläuft sich in ihr. Ihre Widersprüchlichkeit verkörpert sich für Eugene im unversöhnlichen Gegensatz, der den verschwenderischen Künstler-Vater zum ewigen Lebenskampf mit der eisern erwerbstüchtigen Mutter verdammt, und die Geschwister aneinander fesselt und gegeneinander hetzt.
Es ist eine Sippe von Visionären und Scheiternden. Gant vermag sein Idealbild eines Engels nie zu realisieren; er begnügt sich mit Kompromissen und verkommt schließlich zum schwadronierenden Säufer; Eugenes rauschhafte erste Liebe endet abrupt im Verrat; und sein anderes Ich, der finstere, tumbe, mit seinem dunklen Engel ringende Bruder Ben, muss am Ende sterben, damit Eugene leben kann. Im grandiosen Finale einer Geisterszene, unter dem steinernen Flügelrauschen und den kalten Seufzern der Totenengel in Gants Werkstatt, verrät er dem verzweifelt fragenden Eugene, wo die sich endlos entziehende Welt zu finden ist: "Nirgends. Du bist die Welt." Nur auf dem Kontinent der eigenen Seele wird er die gesuchte Sprache finden und die Tür, durch die er gehen kann: Geburtsstunde eines Autors.
Obgleich er höchst erfolgreich mit innerem Monolog und Montagetechnik à la Joyce experimentiert, ist Wolfe alles andere als ein "objektiver" Künstler aus der strengen Schule Flauberts. In einem Brief an Francis Scott Fitzgerald distanziert er sich einmal von Flauberts Imperativ des "Weglassens" und bekennt sich zur Fülle der großen "Dazutuer" Shakespeare, Cervantes, Dostojewskij. Seine eigene Berufung zur Autorschaft beschreibt er im Bild einer schwarzen Gewitterwolke, die sich in seinem Inneren zusammenzog, um sich als Wolkenbruch in unaufhaltsamer Flut zu ergießen: "und ich wurde mitgerissen". Hier spricht ein Postromantiker in der Tradition der Great American Novel von Moby Dick bis Huckleberry Finn, deren episches Strömen der Herzschlag eines Kontinents ist, deren formsprengende Dynamik die Weite seiner Räume bewusst macht; in diesem Fall: von Pennsylvania bis Florida, mit Altamont-Asheville (das sich über dieses Spiegelbild mächtig erboste) als Mikrokosmos der Vereinigten Staaten. Auch der Humor der großen Tradition ist ihm nicht fremd. Dass er die heutige Jugendsprache nicht mehr spricht, dürfen wir ruhig als Symptom jener Überzeitlichkeit ansehen, die das Markenzeichen Manesse verbürgt.
Ein Problem für den deutschen Leser ist der Anspielungsreichtum des Buches, besonders seine tiefe Einbettung in die angelsächsische Literatur. Das beginnt bereits mit dem Titel, der einer Totenklage des jungen Milton entnommen und aufs engste mit zentralen Motiven des Romans verbunden ist; nicht zuletzt mit der Heimatsuche des Helden, der sich in der Welt wie "ein Fremder in einem lauten Wirtshaus" fühlt. In dem Maße, wie sich ihm eine innere, geistige Welt erschließt, wird der Text mit unmarkierten Zitaten aus dem englischen Kanon angereichert. Mit heroischer Akribie hat die Übersetzerin diese und andere Bezüge in ihrem umfangreichen Kommentar aufgespürt, wobei es naturgemäß keine Vollständigkeit geben kann; gleich im Untertitel steckt wieder ein unbemerktes Zitat. Aber, Hut ab, die Ausbeute ist bewundernswert. Schade nur, dass der Leser auf Schritt und Tritt durch hochgestellte Ziffern auf die über sechshundert Anmerkungen verwiesen wird. Was der Wissenschaftsprosa recht ist, erscheint dem Romanleser unbillig.
Ein Nachtrag zum Thema Wolfe in Deutschland: Am Anfang war er hierzulande berühmter als in Amerika. Ina Seidel war so fasziniert von ihm, dass sie seinen intensiven Briefwechsel mit der Mutter übersetzte. (Diese Mutter blieb ihm immer als Helferin zugewandt; die herbe Muttergestalt des Buches bezeugt in ihrer Eigenschaft als Zerrspiegelung seine Freiheit im Umgang mit der eigenen Biographie.) Im Laufe seines nur achtunddreißigjährigen Lebens besuchte Wolfe dreimal das im Voraus idealisierte "Land seiner Väter" und fühlte sich dort recht wohl, trotz der Blessuren, die er gleich das erstemal davontrug, als er auf dem Münchner Oktoberfest in eine Rauferei geriet. Im Sommer 1935 und 1936, als gefeierter Autor, empfand er kulturelle Euphorie in Goethes Weimar ebenso wie bei der Olympiade in Berlin. Heimatsuche auch hier, um den Preis des Wegsehens, solange es ging. Am Ende des postum erschienenen Romans "Es führt kein Weg zurück" steht ein schockierendes (eigenes) Erlebnis an der belgischen Grenze: Die Polizei holt einen angstschlotternden jüdischen Reisegefährten aus dem Zug nach Paris und führt ihn ab. Dieser Abschied von Deutschland, so der Erzähler, "war ein Abschied nicht nur von einem Menschen, sondern von der Menschlichkeit".
Thomas Wolfe: "Schau heimwärts, Engel". Eine Geschichte vom begrabenen Leben. Aus dem Amerikanischen übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli. Nachwort von Klaus Modick. Manesse Verlag, München und Zürich 2009. 784 S., geb., 29,90 [Euro].
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Ohne Scheu vor großen Worten und Gefühlen: Thomas Wolfes gewaltiger Amerikaroman "Schau heimwärts, Engel" feiert in einer neuen Übersetzung sein deutsches Comeback.
Von Werner von Koppenfels
Thomas Wolfe - der Ältere, nicht der mit dem "Fegefeuer der Eitelkeiten" -, wer kennt ihn noch? Wer liest noch seinen einstmals berühmten Wälzer mit dem hochliterarischen, pathosverdächtigen Titel "Schau heimwärts, Engel"? Das Buch erschien 1929 und lag schon drei Jahre später in einer sehr respektablen, oft nachgedruckten deutschen Fassung vor. Frühere Generationen haben diesen uramerikanischen Entwicklungsroman, nicht selten schon in jugendlichem Alter, mit heißen Backen verschlungen; und dies trotz seiner komplizierten Anlage und ausufernden epischen Beredsamkeit. Doch inzwischen hat längst der schlichtere - und schlankere - "Fänger im Roggen" sein Erbe als Kultbuch der Heranwachsenden angetreten und wohl auch wieder abgegeben - an wen? Die Moden ändern sich.
Dass sie es tun, ist kein Problem, sondern ein Test für die Literatur. Wenn der Manesse Verlag soeben Wolfes "Engel" der lesenden Bevölkerung - frisch übersetzt im Großformat, mit Kommentar und Nachwort - präsentiert, so stellt er damit öffentlich die Frage: Kann man das noch - oder wieder - lesen? Und ob man es kann. Irma Wehrlis Neuübertragung befreit den Text vom angestaubten Charme der alten Version und von mancherlei Schnitzern. Sie gibt den kräftigen Stilfarben des Originals auf Deutsch neuen Glanz, in der Lebhaftigkeit der Dialoge, der üppigen Bildersprache, in Klang und Rhythmik der syntaktischen Kaskaden.
Denn dieses stark autobiographische Zeugnis eines verzehrenden Lebenshungers, mit seinen unvergesslichen Charakteren und einer Stofffülle, die ihre endgültige Form der Geburtshilfe durch den Verlagslektor verdankt, ist nicht zuletzt ein stilistisches Brillantfeuerwerk. Etwa wenn Wolfe die Vitalität beschwört, die der (deutschstämmige) Vater Gant, der Steinmetz, der "gefallene Titan", in jüngeren Jahren auf seine Umwelt überträgt: "Alles, was seine Hände berührten, reifte zu prallem, prickelndem Leben heran . . . Überreife Pflaumen lagen aufgeplatzt im Gras; seine großen Kirschbäume strotzten von schweren, klebrigen Kleinodien . . . Die Erde war fruchtbar für ihn wie eine dralle Frau."
Oder wenn die Metaphorik zur seelischen Sonde wird, um für einen Augenblick das ewig flüchtige, widersprüchliche Wesen der Figuren aufzuspüren: "ihre braunen Augen wurden schwarz, als wäre ein Vogel hindurchgeflogen und hätte den Schatten seiner Flügel auf sie gelegt"; oder: "sein Mund ist wie ein Messer und sein Lächeln ein Licht, das über die Klinge zuckt." Es ist ein Stil ohne Scheu vor großen Worten und Gefühlen, der die ernüchterten zwanziger Jahre herausforderte und faszinierte, ebenso weltverfallen wie weltverloren: "unter glänzenden Sternen auf dieser so matten, glanzlosen Asche, verloren! Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Wo? Wann?" O verloren! ist der Refrain und der ursprüngliche Titel des Romans, der Wolfes Selbstporträt des Autors als junger Mann darstellt.
Der junge Mann im Buch heißt Eugene. Altamont, der Hauptort der Handlung, ist unschwer mit Asheville, North Carolina zu identifizieren, in dessen Friedhof noch die steinernen Grabengel aus der väterlichen Werkstatt stehen; umschlossen von Bergen, die dem Helden, je nachdem, Geborgenheit, Gefangenschaft oder den Ansporn zu Ausbrüchen und Höhenflügen bedeuten. Denn die Dinge sind ambivalent, und wer die Welt entdecken will, verläuft sich in ihr. Ihre Widersprüchlichkeit verkörpert sich für Eugene im unversöhnlichen Gegensatz, der den verschwenderischen Künstler-Vater zum ewigen Lebenskampf mit der eisern erwerbstüchtigen Mutter verdammt, und die Geschwister aneinander fesselt und gegeneinander hetzt.
Es ist eine Sippe von Visionären und Scheiternden. Gant vermag sein Idealbild eines Engels nie zu realisieren; er begnügt sich mit Kompromissen und verkommt schließlich zum schwadronierenden Säufer; Eugenes rauschhafte erste Liebe endet abrupt im Verrat; und sein anderes Ich, der finstere, tumbe, mit seinem dunklen Engel ringende Bruder Ben, muss am Ende sterben, damit Eugene leben kann. Im grandiosen Finale einer Geisterszene, unter dem steinernen Flügelrauschen und den kalten Seufzern der Totenengel in Gants Werkstatt, verrät er dem verzweifelt fragenden Eugene, wo die sich endlos entziehende Welt zu finden ist: "Nirgends. Du bist die Welt." Nur auf dem Kontinent der eigenen Seele wird er die gesuchte Sprache finden und die Tür, durch die er gehen kann: Geburtsstunde eines Autors.
Obgleich er höchst erfolgreich mit innerem Monolog und Montagetechnik à la Joyce experimentiert, ist Wolfe alles andere als ein "objektiver" Künstler aus der strengen Schule Flauberts. In einem Brief an Francis Scott Fitzgerald distanziert er sich einmal von Flauberts Imperativ des "Weglassens" und bekennt sich zur Fülle der großen "Dazutuer" Shakespeare, Cervantes, Dostojewskij. Seine eigene Berufung zur Autorschaft beschreibt er im Bild einer schwarzen Gewitterwolke, die sich in seinem Inneren zusammenzog, um sich als Wolkenbruch in unaufhaltsamer Flut zu ergießen: "und ich wurde mitgerissen". Hier spricht ein Postromantiker in der Tradition der Great American Novel von Moby Dick bis Huckleberry Finn, deren episches Strömen der Herzschlag eines Kontinents ist, deren formsprengende Dynamik die Weite seiner Räume bewusst macht; in diesem Fall: von Pennsylvania bis Florida, mit Altamont-Asheville (das sich über dieses Spiegelbild mächtig erboste) als Mikrokosmos der Vereinigten Staaten. Auch der Humor der großen Tradition ist ihm nicht fremd. Dass er die heutige Jugendsprache nicht mehr spricht, dürfen wir ruhig als Symptom jener Überzeitlichkeit ansehen, die das Markenzeichen Manesse verbürgt.
Ein Problem für den deutschen Leser ist der Anspielungsreichtum des Buches, besonders seine tiefe Einbettung in die angelsächsische Literatur. Das beginnt bereits mit dem Titel, der einer Totenklage des jungen Milton entnommen und aufs engste mit zentralen Motiven des Romans verbunden ist; nicht zuletzt mit der Heimatsuche des Helden, der sich in der Welt wie "ein Fremder in einem lauten Wirtshaus" fühlt. In dem Maße, wie sich ihm eine innere, geistige Welt erschließt, wird der Text mit unmarkierten Zitaten aus dem englischen Kanon angereichert. Mit heroischer Akribie hat die Übersetzerin diese und andere Bezüge in ihrem umfangreichen Kommentar aufgespürt, wobei es naturgemäß keine Vollständigkeit geben kann; gleich im Untertitel steckt wieder ein unbemerktes Zitat. Aber, Hut ab, die Ausbeute ist bewundernswert. Schade nur, dass der Leser auf Schritt und Tritt durch hochgestellte Ziffern auf die über sechshundert Anmerkungen verwiesen wird. Was der Wissenschaftsprosa recht ist, erscheint dem Romanleser unbillig.
Ein Nachtrag zum Thema Wolfe in Deutschland: Am Anfang war er hierzulande berühmter als in Amerika. Ina Seidel war so fasziniert von ihm, dass sie seinen intensiven Briefwechsel mit der Mutter übersetzte. (Diese Mutter blieb ihm immer als Helferin zugewandt; die herbe Muttergestalt des Buches bezeugt in ihrer Eigenschaft als Zerrspiegelung seine Freiheit im Umgang mit der eigenen Biographie.) Im Laufe seines nur achtunddreißigjährigen Lebens besuchte Wolfe dreimal das im Voraus idealisierte "Land seiner Väter" und fühlte sich dort recht wohl, trotz der Blessuren, die er gleich das erstemal davontrug, als er auf dem Münchner Oktoberfest in eine Rauferei geriet. Im Sommer 1935 und 1936, als gefeierter Autor, empfand er kulturelle Euphorie in Goethes Weimar ebenso wie bei der Olympiade in Berlin. Heimatsuche auch hier, um den Preis des Wegsehens, solange es ging. Am Ende des postum erschienenen Romans "Es führt kein Weg zurück" steht ein schockierendes (eigenes) Erlebnis an der belgischen Grenze: Die Polizei holt einen angstschlotternden jüdischen Reisegefährten aus dem Zug nach Paris und führt ihn ab. Dieser Abschied von Deutschland, so der Erzähler, "war ein Abschied nicht nur von einem Menschen, sondern von der Menschlichkeit".
Thomas Wolfe: "Schau heimwärts, Engel". Eine Geschichte vom begrabenen Leben. Aus dem Amerikanischen übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli. Nachwort von Klaus Modick. Manesse Verlag, München und Zürich 2009. 784 S., geb., 29,90 [Euro].
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