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Kaum ein deutscher Hügel ohne Aussichtsturm - sie grüßen von ungezählten Bergeshöhen, ziehen uns magisch an, bieten Weitblick und Rundschau. Doch sie zieren den deutschen Wald nicht schon seit Urzeiten - die Aussichtstürme. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert erheben sich die ersten Exemplare über die Tannenspitzen. In der Gestaltung erinnern sie an mittelalterliche Warten. Später kommen auch einfache Gerüste aus Holz und Eisen hinzu. Alle Baustile sind vertreten. Was aber sind die Ursachen für das Entstehen dieses neuen Bautyps? Da ist zum einen die unstillbare "Seh-Sucht", die die Menschen…mehr

Produktbeschreibung
Kaum ein deutscher Hügel ohne Aussichtsturm - sie grüßen von ungezählten Bergeshöhen, ziehen uns magisch an, bieten Weitblick und Rundschau. Doch sie zieren den deutschen Wald nicht schon seit Urzeiten - die Aussichtstürme. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert erheben sich die ersten Exemplare über die Tannenspitzen. In der Gestaltung erinnern sie an mittelalterliche Warten. Später kommen auch einfache Gerüste aus Holz und Eisen hinzu. Alle Baustile sind vertreten. Was aber sind die Ursachen für das Entstehen dieses neuen Bautyps? Da ist zum einen die unstillbare "Seh-Sucht", die die Menschen am Ende des 18. Jahrhunderts ergreift; hinzu kommt das neue Verlangen nach ungezähmter Natur. Und zunehmende Freizeit und Urlaub lösen gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Aussichtsturm-Boom aus. Die Bauherren der frühesten Beispiele sind Adlige, doch schon Mitte des vorigen Jahrhunderts wird der Aussichtsturm eine typisch bürgerliche Bauaufgabe. In Wandervereinen oder Turmbaukomite es organisierte Patrioten veranstalten Architekturwettbewerbe, treiben Spenden ein und veranstalten pompöse Einweihungsfeste. Manchmal dienen die Aussichtstürme aber nicht nur dem Blick in die Ferne, sondern nebenbei auch als Denkmal. Wer hätte nicht schon einen Bismarckturm bestiegen? Überhaupt - wo immer ein Turm, schon sind sie oben - die Deutschen ein "Seh-Volk"!
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.1999

Grassierende Seh-Sucht
Maßnahmen gegen die neidischen Bäume: Joachim Kleinmanns zeigt Aussichtstürme

Von selbst stellt sich Horizonterweiterung kaum ein. Man muss schon etwas dafür tun - und sei es, dass man auf einen Turm steige. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, musste erst erfunden werden. Vor zweihundertfünfzig Jahren erst fingen die Europäer an, Aussichtstürme für die zivile Nutzung in die Landschaft zu stellen. 1799 hatte sich Johann Theodor Benjamin Helfrecht den Gipfel des Ochsenkopfs im Fichtelgebirge erwandert und musste enttäuscht feststellen, "daß keine Anstalten getroffen sind, die freye Aussicht ringsherum geniessen zu können. Denn gegen Osten unterbrechen neidische Bäume den Anblick, den man gerne genösse".

Helfrecht war von einer "Seh-Sucht" befallen, die um 1800 grassierte. Die Wahrnehmung und der Versuch der Überwindung des Horizonts wurde zu einem "Schlüsselerlebnis einer ganzen Epoche". Dem mittelalterlichen Menschen war diese Perspektive noch weitgehend fremd. Über die Malerei eroberte der Begriff die Alltagssprache der Menschen der frühen Neuzeit. Joachim Kleinmanns ist in seinem Buch "Schau ins Land" der Geschichte der Aussichtstürme nachgegangen.

Dutzende literarischer Gewährsleute kann der Autor aufmarschieren lassen, die von ihren Seh-Süchten berichten. Natürlich Goethe: Kaum in Straßburg angekommen, hatte er nichts Eiligeres zu tun, das Münster zu besteigen, um das "sehnlichste Verlangen zu befriedigen", den Ausblick auf das "weite reiche Land" zu genießen. Auf seiner Harzreise quälte sich Heinrich Heine morgens um drei Uhr aus dem Bett, um vom Brockenturm aus mit diversen anderen Frühaufstehern sich dem Naturschauspiel des Sonnenaufgangs am fernen Horizont hinzugeben. Kleinmanns arbeitet eine Vielzahl an Motiven für diese neuen Sehgewohnheiten heraus. Der Ausblick in die Ferne korrespondierte mit einer neuen Bildungsvorstellung, die Strukturen erkennen, bekannte Dinge in größere Zusammenhänge einordnen wollte. Hinzu kam ein anderer Blick auf die Natur, die nicht mehr als Bedrohung, sondern als romantisches Accessoire empfunden wurde.

Dies alles ist nicht neu, in den sozialgeschichtlichen Hinweisen über die Erbauer der Türme tauchen auch einige Unstimmigkeiten auf (zum Beispiel in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Adel und Bürgertum), aber in der Kombination mit den hervorragenden Schwarzweißfotografien stellt sich ein wunderbares Seherlebnis ein: Die Aussichtstürme werden zu Ansichtstürmen. Damit ist Kleinmanns auch in seinem Element und kann ausführlich über Baustile, Bauausführungen, Baumaterialien berichten. Doch beim Blick vom Turm findet Kleinmanns noch einmal zurück zu den größeren Zusammenhängen und wendet sich den ideellen und propagandistischen Funktionen der Aussichtstürme zu. Die Fließbandfertigung von Bismarcktürmen nach Bismarcks Tod findet hier ebenso ihren Platz wie die an der innerdeutschen Grenze errichteten Türme zum Blick in die DDR. Der bei Bad Königshofen errichtete Turm brachte es dabei auf eine imposante Höhe von achtunddreißig Metern.

Durch Kleinmanns enge Definition von Aussichtstürmen, die allein auf die beiden Funktionen des Seh-Vergnügens und der Repräsentation ausgerichtet ist, bleiben die Wachtürme auf der östlichen Seite ebenso unerwähnt wie die Metaebene der Aussichtstürme: die Fernsehtürme. Allein ihre Höhe ermöglicht faszinierende Weit- und Tiefblicke, und die auf ihnen montierten Antennen ermöglichen erst jenen Wohnzimmerweitblick, den keine "neidischen Bäume" verstellen können.

Diesem verlässlichen, knappen Ratgeber für alle Fernseh-Süchtigen abseits des TV-Geräts fehlen leider ein Register und Hinweise über die heutige Nutzbarkeit der vorgestellten Türme. Er wäre sonst ein wunderbarer Reisebegleiter zu Deutschlands Aussichtstürmen.

JÜRGEN SCHMIDT

Joachim Kleinmanns: "Schau ins Land". Aussichtstürme. Jonas Verlag, Marburg 1999. 152 S., Abb., br., 39,- DM.

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