Die Helden dieser Geschichten sind nicht Wunderkinder im herkömmlichen Sinn, eher wunderliche Sonderfälle. Der süßen Melinda zum Beispiel hüpft bei jeder Lüge eine Kröte aus dem Mund. Weswegen sie immer die Wahrheit sagen muss. Und da ist Norm: der Arme ist so schrecklich normal, dass ihn sich niemand merken kann, nicht mal seine Eltern. Die wundern sich jeden Tag wieder, wer der Junge ist, der da von der Schule nach Hause kommt. Das sind nur zwei der sieben Wunderkinder, um deren schaurig-schöne Geschichte es in diesem Buch geht. Mit farbigen Illustrationen von Michael Sowa.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2006Kinder, was für Wunder!
Linda Quilt alias Hans Magnus Enzensberger schildert Kleingenies
Im "Struwwelpeter" ist die Geschichte des verwehten Robert nur mehr der Schlußpunkt einer ganzen Abfolge von Warnungsgeschichten: Bei Sturm und Regen, lernen wir, bleibt man zu Hause, keineswegs aber setzt man sich mit seinem Schirm den Winden aus, und wer es doch tut, den erwartet ein schlimmes Ende: "Schirm und Robert fliegen dort / Durch die Wolken immer fort. / Und der Hut fliegt weit voran, / Stößt zuletzt am Himmel an. / Wo der Wind sie hingetragen, / Ja, das weiß kein Mensch zu sagen."
Hans Magnus Enzensbergers Vorliebe für diese Geschichte ist bekannt, und es mag sein, daß dies die Enttarnung des Schriftstellers beschleunigte, der sich nämlich hinter jener ansonsten einigermaßen nebulös gebliebenen Linda Quilt verbirgt. Ihr Name prangt auf dem Band "Schauderhafte Wunderkinder": Die schmale, großartig von Michael Sowa illustrierte Sammlung von sieben kurzen Lebensberichten schließt mit der dem Schicksal des Fliegenden Robert einigermaßen parallelen Geschichte des strammen Balthazar Bollinger, der von klein auf wunderbar leichtgewichtig veranlagt ist, Treppenstufen eher hinaufschwebt als erklimmt und schließlich seine Berufung als Restaurator von Deckengemälden findet, die er ganz ohne Gerüst auszubessern weiß. Dort begegnet er einer verständnisvollen Frau, und als ihn schließlich ein Sturm davonträgt, bleibt jener Beatrice immerhin ein Paar Bleischuhe, das Balthazar zuvor für die Liebe unter freiem Himmel ausgezogen hatte, "und das war immerhin besser als nichts", findet Beatrice.
Zuvor mußte sich Balthazar, der Besondere, der ungewöhnlich Begabte, einigen Spotts erwehren, und so geht es auch den übrigen in diesem Band Porträtierten: Sie fallen aus der Reihe (und sei es, daß sie so dezidiert durchschnittlich sind, daß sie wiederum dadurch nicht zu den anderen passen), und sie entwickeln jeder für sich Strategien, mit der jeweiligen Besonderheit umzugehen: Da ist die kleine Melinda, der bei jeder Lüge eine Kröte aus dem Mund schaut (und die diesen Fluch später dazu verwendet, mit kunstvollen Flunkereien jede Menge Reptilien bedrohter Arten hervorzubringen), da ist der vergeßliche Orville, der sich gerade dadurch bestens zum Manager eines Konzerns eignet, oder das staunenswert reife Baby "A", das durch seine enorme Klugheit erst das Aufsehen der Nation erregt und dann mit einer geschickten Wendung für Ruhe sorgt - all diese Studien sprechen von ungewollter Rebellion und geschickter Anpassung, von Eigensinn und Camouflage, von Besonderheit als Bürde und Befähigung zugleich.
Das Ganze ist allerdings mit einer Portion Etikettenschwindel verbunden - oder, sagen wir, mit einiger Freiheit, die der Autor sich nimmt, indem er eben keineswegs bei Kindheitsschilderungen verharrt, sondern regelmäßig die Lebensläufe bis ins Erwachsenenalter verfolgt (und etwa die schläfrige Wanda noch als Greisin im Kreise der Urenkel zeichnet). Auch wird man mitunter einen Hang zum flachen Kalauer feststellen, wenn es um den kleinen Norm geht, der so durchschnittlich ist, daß er überall die Norm erfüllt und unter seiner Normalität leidet. Wettgemacht wird dies allerdings durch eine feine Schilderung der Reaktionskaskade seiner Umwelt: Sein Vater, "Mr. Maloney", hatte ihn seinen Freunden aus dem Club schon Gott weiß wie oft vorgestellt - trotzdem taten sie jedesmal so, als sähen sie ihn zum erstenmal. Auch seine zahlreichen Tanten und Onkel und die entfernteren Verwandten erkannten ihn selten wieder. Selbst Mr. Maloney wunderte sich gelegentlich über einen zehnjährigen Hausgenossen, der da plötzlich mit am Tisch saß, und wenn Norms Mutter ihn von der Schule abholte, mußte auch sie scharf aufpassen, daß sie ihn nicht übersah.
Tatsächlich rücken bei diesen sieben Erzählungen von wie auch immer begabten Kindern fortwährend die Eltern ins Licht, die sich zu dem Monströsen, das sich da urplötzlich auf die Familie niedersenkt, irgendwie verhalten müssen: Es ist, wie es ist, sagt die elterliche Liebe, und sie fährt gut damit. Denn trotz des Wortes "schauderhaft" im Titel, trotz des Untertitels, der Geschichten verheißt, "die arglosen Eltern zur Warnung dienen können", die Väter und Mütter, die lustvoll als komplett medioker geschildert werden, nötigen uns immer wieder Achtung ab, wenn sie sich tapfer gegen einen Albtraum von übermäßiger Intelligenz, Angepaßtheit, Vergeßlichkeit oder gar von übernatürlichen Gaben stemmen, wie sie der Knabe mit dem sprechenden Namen "Howab" besitzt, der, wenn er sich vorstellt, sein Gegenüber zum Verschwinden bringt.
Am besten meint es der Band aber mit dem Mädchen Wanda, das zu seinem Glück nichts weiter braucht als die Ruhe vor all dem aufgeregten Treiben der Welt. Am Ende heißt es über sie: "Vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Bedeutung von Wandas Erdenwandel eingehen. Auch wenn sich nicht mit Sicherheit behaupten läßt, daß in ihrem Herzen eine Flamme loderte, hat sie doch ihr Leben lang nie einen Augenblick der Langeweile erlitten. Es mag sein, daß sie in der Geschichte Englands keine allzu tiefe Spur hinterlassen hat - aber wie sie, einen obskuren deutschen Philosophen zitierend, zu sagen pflegte: ,Es kömmt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern darauf, sie zu verschonen.' In diesem Sinne kann sie uns allen als ein lebendiger Beweis dafür dienen, daß es ein Leben jenseits von Mühsal und Kampf gibt." Das ist ganz sicher die größte Utopie in dieser Geschichtensammlung.
TILMAN SPRECKELSEN
Linda Quilt: "Schauderhafte Wunderkinder". Sieben wahre Geschichten, die arglosen Eltern zur Warnung dienen können. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, München 2006. 144 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Linda Quilt alias Hans Magnus Enzensberger schildert Kleingenies
Im "Struwwelpeter" ist die Geschichte des verwehten Robert nur mehr der Schlußpunkt einer ganzen Abfolge von Warnungsgeschichten: Bei Sturm und Regen, lernen wir, bleibt man zu Hause, keineswegs aber setzt man sich mit seinem Schirm den Winden aus, und wer es doch tut, den erwartet ein schlimmes Ende: "Schirm und Robert fliegen dort / Durch die Wolken immer fort. / Und der Hut fliegt weit voran, / Stößt zuletzt am Himmel an. / Wo der Wind sie hingetragen, / Ja, das weiß kein Mensch zu sagen."
Hans Magnus Enzensbergers Vorliebe für diese Geschichte ist bekannt, und es mag sein, daß dies die Enttarnung des Schriftstellers beschleunigte, der sich nämlich hinter jener ansonsten einigermaßen nebulös gebliebenen Linda Quilt verbirgt. Ihr Name prangt auf dem Band "Schauderhafte Wunderkinder": Die schmale, großartig von Michael Sowa illustrierte Sammlung von sieben kurzen Lebensberichten schließt mit der dem Schicksal des Fliegenden Robert einigermaßen parallelen Geschichte des strammen Balthazar Bollinger, der von klein auf wunderbar leichtgewichtig veranlagt ist, Treppenstufen eher hinaufschwebt als erklimmt und schließlich seine Berufung als Restaurator von Deckengemälden findet, die er ganz ohne Gerüst auszubessern weiß. Dort begegnet er einer verständnisvollen Frau, und als ihn schließlich ein Sturm davonträgt, bleibt jener Beatrice immerhin ein Paar Bleischuhe, das Balthazar zuvor für die Liebe unter freiem Himmel ausgezogen hatte, "und das war immerhin besser als nichts", findet Beatrice.
Zuvor mußte sich Balthazar, der Besondere, der ungewöhnlich Begabte, einigen Spotts erwehren, und so geht es auch den übrigen in diesem Band Porträtierten: Sie fallen aus der Reihe (und sei es, daß sie so dezidiert durchschnittlich sind, daß sie wiederum dadurch nicht zu den anderen passen), und sie entwickeln jeder für sich Strategien, mit der jeweiligen Besonderheit umzugehen: Da ist die kleine Melinda, der bei jeder Lüge eine Kröte aus dem Mund schaut (und die diesen Fluch später dazu verwendet, mit kunstvollen Flunkereien jede Menge Reptilien bedrohter Arten hervorzubringen), da ist der vergeßliche Orville, der sich gerade dadurch bestens zum Manager eines Konzerns eignet, oder das staunenswert reife Baby "A", das durch seine enorme Klugheit erst das Aufsehen der Nation erregt und dann mit einer geschickten Wendung für Ruhe sorgt - all diese Studien sprechen von ungewollter Rebellion und geschickter Anpassung, von Eigensinn und Camouflage, von Besonderheit als Bürde und Befähigung zugleich.
Das Ganze ist allerdings mit einer Portion Etikettenschwindel verbunden - oder, sagen wir, mit einiger Freiheit, die der Autor sich nimmt, indem er eben keineswegs bei Kindheitsschilderungen verharrt, sondern regelmäßig die Lebensläufe bis ins Erwachsenenalter verfolgt (und etwa die schläfrige Wanda noch als Greisin im Kreise der Urenkel zeichnet). Auch wird man mitunter einen Hang zum flachen Kalauer feststellen, wenn es um den kleinen Norm geht, der so durchschnittlich ist, daß er überall die Norm erfüllt und unter seiner Normalität leidet. Wettgemacht wird dies allerdings durch eine feine Schilderung der Reaktionskaskade seiner Umwelt: Sein Vater, "Mr. Maloney", hatte ihn seinen Freunden aus dem Club schon Gott weiß wie oft vorgestellt - trotzdem taten sie jedesmal so, als sähen sie ihn zum erstenmal. Auch seine zahlreichen Tanten und Onkel und die entfernteren Verwandten erkannten ihn selten wieder. Selbst Mr. Maloney wunderte sich gelegentlich über einen zehnjährigen Hausgenossen, der da plötzlich mit am Tisch saß, und wenn Norms Mutter ihn von der Schule abholte, mußte auch sie scharf aufpassen, daß sie ihn nicht übersah.
Tatsächlich rücken bei diesen sieben Erzählungen von wie auch immer begabten Kindern fortwährend die Eltern ins Licht, die sich zu dem Monströsen, das sich da urplötzlich auf die Familie niedersenkt, irgendwie verhalten müssen: Es ist, wie es ist, sagt die elterliche Liebe, und sie fährt gut damit. Denn trotz des Wortes "schauderhaft" im Titel, trotz des Untertitels, der Geschichten verheißt, "die arglosen Eltern zur Warnung dienen können", die Väter und Mütter, die lustvoll als komplett medioker geschildert werden, nötigen uns immer wieder Achtung ab, wenn sie sich tapfer gegen einen Albtraum von übermäßiger Intelligenz, Angepaßtheit, Vergeßlichkeit oder gar von übernatürlichen Gaben stemmen, wie sie der Knabe mit dem sprechenden Namen "Howab" besitzt, der, wenn er sich vorstellt, sein Gegenüber zum Verschwinden bringt.
Am besten meint es der Band aber mit dem Mädchen Wanda, das zu seinem Glück nichts weiter braucht als die Ruhe vor all dem aufgeregten Treiben der Welt. Am Ende heißt es über sie: "Vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Bedeutung von Wandas Erdenwandel eingehen. Auch wenn sich nicht mit Sicherheit behaupten läßt, daß in ihrem Herzen eine Flamme loderte, hat sie doch ihr Leben lang nie einen Augenblick der Langeweile erlitten. Es mag sein, daß sie in der Geschichte Englands keine allzu tiefe Spur hinterlassen hat - aber wie sie, einen obskuren deutschen Philosophen zitierend, zu sagen pflegte: ,Es kömmt nicht darauf an, die Welt zu verändern, sondern darauf, sie zu verschonen.' In diesem Sinne kann sie uns allen als ein lebendiger Beweis dafür dienen, daß es ein Leben jenseits von Mühsal und Kampf gibt." Das ist ganz sicher die größte Utopie in dieser Geschichtensammlung.
TILMAN SPRECKELSEN
Linda Quilt: "Schauderhafte Wunderkinder". Sieben wahre Geschichten, die arglosen Eltern zur Warnung dienen können. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, München 2006. 144 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Angetan zeigt sich Tilman Spreckelsen von diesen sieben Geschichten über "schauderhafte Wunderkinder", die Hans Magnus Enzensberger unter dem Pseudonym Linda Quilt vorgelegt hat. Dass Enzensbergers Wunderkinder recht sonderliche und ausgefallene Exemplare ihrer Spezies sind, wundert Spreckelsen nicht weiter. Er verweist auf die Vorliebe des Autors für die Geschichte vom Fliegenden Robert aus dem "Struwwelpeter", an die ihn das Schicksal von Enzensbergers Balthasar Bollinger erinnert. Spreckelsen berichtet auch von Norm, der überdurchschnittlich durchschnittlich ist, von der kleinen Melinda, der bei jeder Lüge eine Kröte aus dem Mund schaut, und vom staunenswert reifen Baby "A", das durch seine enorme Klugheit das Aufsehen der Nation erregt. Die einzelnen Erzählungen haben für ihn eines gemein: sie "sprechen von ungewollter Rebellion und geschickter Anpassung, von Eigensinn und Camouflage, von Besonderheit als Bürde und Befähigung zugleich."
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Diese sieben Geschichten, kongenial von Michael Sowa bebildert, sind allen arglosen Eltern wie argwöhnischen Nichteltern dringend zu empfehlen!" Rainer Schmitz, Focus, 27.03.06