Produktdetails
- Verlag: Beck
- 4. Aufl.
- Seitenzahl: 275
- Erscheinungstermin: 9. März 1979
- Deutsch
- Abmessung: 223mm x 148mm x 24mm
- Gewicht: 524g
- ISBN-13: 9783406022050
- ISBN-10: 3406022057
- Artikelnr.: 04738426
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Frankfurter Allgemeine ZeitungDer brodelnde Vulkan des Geistes schmilzt alles Feste ein
"Weltalter-Fragmente": Die neuen Texte zur Geschichtsphilosophie aus Schellings Nachlaß sind von beinahe vorsokratischer Wucht
Philosophen werden erstaunlich oft vom Nachlaß her verstanden. Das gilt beispielsweise für Hegel, Husserl und Heidegger, für Benjamin und Wittgenstein. Wie immer man das Mißverhältnis zwischen dem vom Autor bewußt der Leseröffentlichkeit überantworteten Werk und der Masse des von fleißigen Editoren aus dem Dunkel der Archive ans Licht gezogenen Materials beurteilt - mit autorisierten Texten allein begnügt sich offenbar die Interpretationsgemeinschaft der Nachkommenden nicht. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der geniale Beginner und ewig Unvollendete innerhalb der Bewegung des deutschen Idealismus, fällt hier aus der Reihe. Es gibt nämlich sozusagen kein Hauptwerk. Wir sehen nur Werkgenese.
Aus dem Berliner Nachlaß ist jüngst eine Fingerübung des Halbwüchsigen an Platon hervorgetreten, einem von der Aufklärung mißachteten und von Kant als deren Epochenrichter als "Vater aller Schwärmerei" diskreditierten Vorbild. Es folgen staunenerregende Begabungsbelege des blutjungen Stiftlers in Tübingen, der sich Fichte als dem neuen Heros anschließt. Mit Arbeiten zur Naturphilosophie versucht Schelling sodann, Fichtes einseitiges Subjektivitätsprinzip kühn zu überwinden. Der Kultusminister Goethe war so beeindruckt, daß er dem Dreiundzwanzigjährigen eine Professur in Jena verschaffte. Es setzen weiterhin die Arbeiten an der "Identitätsphilosophie" Schellings ein. Und immer wieder Vorlesungen an wechselnden Orten wie Würzburg, Erlangen, Stuttgart und München.
Die Wanderschaft endet in hohem Alter schließlich mit der Nachfolge auf Hegels berühmten Lehrstuhl in Berlin, was einen letzten Triumph über den Jugendfreund bedeutet. In den zwischenliegenden Jahrzehnten von etwa 1810 bis 1840 schreibt Schelling an kaum vollendeten, tiefsinnigen, den Idealismus umstürzenden Opera, die seinen geheimen Ruhm erhalten, ihm aber eine gehörige Stellung in der akademischen Welt versagen.
In den Zusammenhang gehören die hier anzuzeigenden "Weltalter-Fragmente". Es handelt sich um eine "Vorausedition" aus dem in Berlin befindlichen Nachlaß des Autors (der umfangreiche Münchener Teil ist im Kriege verbrannt). Sie will uns aus der verzweifelten Ignoranzlage befreien, daß die definitive, historisch-kritische Edition dank ihres üblichen Schneckengangs erst unsere Enkel erreichen mag. Die Texte zu den "Weltaltern" stellen Schellings Beitrag zur damals aufblühenden Geschichtsphilosophie dar. Hegels erstes Buch, das monumentale Rätselwerk einer "Phänomenologie des Geistes", erscheint 1806 und zieht in der "Vorrede" einen deutlichen Trennungsstrich zu Schelling. Man darf vermuten, daß die "Weltalter" Jahre später auf Hegels phänomenologische Version der "Geschichtsphilosophie" antworten.
Schmidt-Biggemann steuert zur Edition eine lange thematische Einleitung bei. Dank der umfassenden Kenntnis auch der untergründigen Traditionen der Neuzeit, die aus Neuplatonismus und Mystik stammen, kommen Cusanus, Bruno, Böhme, Spinoza und die Kabbala zu Wort sowie der Spätling Jacobi im Kreis des siegreichen Rationalismus. Das ist lehrreich und beeindruckend, aber die Herkunftslinien aus der Feder des Polyhistors lassen den Interessenten dann mit dem Text Schellings doch allein.
Schon beim ersten Satz merkt der wohlmeinendste Leser, daß ein Kampf bevorsteht, ein Kampf um Buchstaben, Abkürzungen, Zeichen und Formeln, Zeile um Zeile, Abschnitt um Abschnitt. Die Textlage ist eben derart vorläufig, andeutungsreich und ungeordnet. Der Editor gibt sie exakt wieder mit allerlei Fußnoten zum Textbestand. Also muß das angemessene Verstehen des Behandelten oder, besser gesagt, der vage intendierten Sachen auf dem extrem schwankenden philologischen Boden Fuß zu fassen suchen. Das bedeutet mühsame Spezialistenarbeit und kann an dieser Stelle nicht Thema sein.
Manche Brocken erinnern an die Fragmente der Vorsokratiker, bei denen nahezu alles von heute aus hinzugedacht werden muß. Andere Teile gemahnen an das geistreiche Feuerwerk der Fragmentenproduktion der Romantiker. Trotz des beklagenswerten Textbestands verdienen die gedanklichen Grundlinien der "Weltalter-Fragmente", denen die Publikationen von Schellings Sohn 1861, von M. Schröter 1946, von S. Peetz 1990 und anderen zur Seite zu stellen sind, wenigstens angedeutet zu werden. Die Weltgeschichte ist ein Erbe des Christentums, wie Karl Löwith vor langem gezeigt hat. Zwischen Augustinus, dem spätantiken Kirchenvater, und Bossuet, dem Hofprediger Ludwigs XIV., dominiert die Theologie. Voltaire knüpft kritisch an Bossuet an und liefert die erste Sittengeschichte der Menschheit. Herder kritisiert Voltaire im Namen einer kulturellen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Kant verteidigt einen Kosmopolitismus des Rechts, und Hegel erhebt die Gesamtgeschichte zur Angelegenheit des Weltgeistes.
Dies alles verwirft Schelling, um die Geschichte als Akt der Offenbarung Gottes zu deuten. Die Metaphysik erobert wieder das historische Feld, indem die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Demonstrationsfeld des Absoluten in einem trinitarischen Sinne in Anspruch genommen werden. Die Parallele von Vater, Sohn und Geist stellt in Wahrheit ein reichlich simples Modell dar. Denn die allgemeinen Zeitdimensionen ergeben als solche ein viel zu abstraktes Muster sowohl für den umfassenden Begriff der "Alter" der Welt wie auch der Offenbarung Gottes.
Deshalb wird das Verständnis Gottes in den Prozeß verwickelt. Er steht nicht außen vor als Schöpfer, Lenker und Richter. Sein eigenes Sein ist im tiefsten geschichtlich. Also kommt er gewissermaßen nie zur vollen Präsenz, sondern verschließt sich, entäußert sich und zieht sich wieder zurück.
"Seelenstärke ist nötig, den Zusammenhang der Bewegung vom Anfang bis zum Ende festzuhalten. Die meisten aber möchten, wo nur die Tat entscheidet, alles mit friedlichen Allgemeinbegriffen schlichten, und eine Geschichte, in der wie in der Wirklichkeit Szenen des Kriegs und des Friedens, Schmerz und Lust, Gefahr und Errettung wechseln, als eine bloße Folge von Gedanken vorstellen."
"Gott selbst (um uns aufs schärfste auszudrücken) setzt im Act seines ewigen Daseyns das als wirklich geschehen (vergangen), was wir als geschehen darstellen. Von nichts reden die meisten mehr als von der Lebendigkeit Gottes, und doch scheint ihnen nichts unerwarteter als die Gott zugeschriebene wirkliche Lebendigkeit. Kein Leben ist ohne gleichzeitiges Sterben."
Für ein aktuelles Interesse der Philosophie, Geschichte zu verstehen, bieten Schellings Gedankenskizzen kaum Hilfestellung. Für ein theologisches Interesse, Gott begrifflich näher zu kommen, vermutlich auch nicht. Aber der Philosophiehistoriker beobachtet einen brodelnden Vulkan des Geistes, der alles Feste einschmilzt, ohne je zur völligen Eruption zu gelangen.
RÜDIGER BUBNER
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: "Weltalter-Fragmente". Herausgegeben von Klaus Grotsch. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Schellingiana 13/1 und 13/2. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 2 Bände, 770 S., br., 108,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Weltalter-Fragmente": Die neuen Texte zur Geschichtsphilosophie aus Schellings Nachlaß sind von beinahe vorsokratischer Wucht
Philosophen werden erstaunlich oft vom Nachlaß her verstanden. Das gilt beispielsweise für Hegel, Husserl und Heidegger, für Benjamin und Wittgenstein. Wie immer man das Mißverhältnis zwischen dem vom Autor bewußt der Leseröffentlichkeit überantworteten Werk und der Masse des von fleißigen Editoren aus dem Dunkel der Archive ans Licht gezogenen Materials beurteilt - mit autorisierten Texten allein begnügt sich offenbar die Interpretationsgemeinschaft der Nachkommenden nicht. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der geniale Beginner und ewig Unvollendete innerhalb der Bewegung des deutschen Idealismus, fällt hier aus der Reihe. Es gibt nämlich sozusagen kein Hauptwerk. Wir sehen nur Werkgenese.
Aus dem Berliner Nachlaß ist jüngst eine Fingerübung des Halbwüchsigen an Platon hervorgetreten, einem von der Aufklärung mißachteten und von Kant als deren Epochenrichter als "Vater aller Schwärmerei" diskreditierten Vorbild. Es folgen staunenerregende Begabungsbelege des blutjungen Stiftlers in Tübingen, der sich Fichte als dem neuen Heros anschließt. Mit Arbeiten zur Naturphilosophie versucht Schelling sodann, Fichtes einseitiges Subjektivitätsprinzip kühn zu überwinden. Der Kultusminister Goethe war so beeindruckt, daß er dem Dreiundzwanzigjährigen eine Professur in Jena verschaffte. Es setzen weiterhin die Arbeiten an der "Identitätsphilosophie" Schellings ein. Und immer wieder Vorlesungen an wechselnden Orten wie Würzburg, Erlangen, Stuttgart und München.
Die Wanderschaft endet in hohem Alter schließlich mit der Nachfolge auf Hegels berühmten Lehrstuhl in Berlin, was einen letzten Triumph über den Jugendfreund bedeutet. In den zwischenliegenden Jahrzehnten von etwa 1810 bis 1840 schreibt Schelling an kaum vollendeten, tiefsinnigen, den Idealismus umstürzenden Opera, die seinen geheimen Ruhm erhalten, ihm aber eine gehörige Stellung in der akademischen Welt versagen.
In den Zusammenhang gehören die hier anzuzeigenden "Weltalter-Fragmente". Es handelt sich um eine "Vorausedition" aus dem in Berlin befindlichen Nachlaß des Autors (der umfangreiche Münchener Teil ist im Kriege verbrannt). Sie will uns aus der verzweifelten Ignoranzlage befreien, daß die definitive, historisch-kritische Edition dank ihres üblichen Schneckengangs erst unsere Enkel erreichen mag. Die Texte zu den "Weltaltern" stellen Schellings Beitrag zur damals aufblühenden Geschichtsphilosophie dar. Hegels erstes Buch, das monumentale Rätselwerk einer "Phänomenologie des Geistes", erscheint 1806 und zieht in der "Vorrede" einen deutlichen Trennungsstrich zu Schelling. Man darf vermuten, daß die "Weltalter" Jahre später auf Hegels phänomenologische Version der "Geschichtsphilosophie" antworten.
Schmidt-Biggemann steuert zur Edition eine lange thematische Einleitung bei. Dank der umfassenden Kenntnis auch der untergründigen Traditionen der Neuzeit, die aus Neuplatonismus und Mystik stammen, kommen Cusanus, Bruno, Böhme, Spinoza und die Kabbala zu Wort sowie der Spätling Jacobi im Kreis des siegreichen Rationalismus. Das ist lehrreich und beeindruckend, aber die Herkunftslinien aus der Feder des Polyhistors lassen den Interessenten dann mit dem Text Schellings doch allein.
Schon beim ersten Satz merkt der wohlmeinendste Leser, daß ein Kampf bevorsteht, ein Kampf um Buchstaben, Abkürzungen, Zeichen und Formeln, Zeile um Zeile, Abschnitt um Abschnitt. Die Textlage ist eben derart vorläufig, andeutungsreich und ungeordnet. Der Editor gibt sie exakt wieder mit allerlei Fußnoten zum Textbestand. Also muß das angemessene Verstehen des Behandelten oder, besser gesagt, der vage intendierten Sachen auf dem extrem schwankenden philologischen Boden Fuß zu fassen suchen. Das bedeutet mühsame Spezialistenarbeit und kann an dieser Stelle nicht Thema sein.
Manche Brocken erinnern an die Fragmente der Vorsokratiker, bei denen nahezu alles von heute aus hinzugedacht werden muß. Andere Teile gemahnen an das geistreiche Feuerwerk der Fragmentenproduktion der Romantiker. Trotz des beklagenswerten Textbestands verdienen die gedanklichen Grundlinien der "Weltalter-Fragmente", denen die Publikationen von Schellings Sohn 1861, von M. Schröter 1946, von S. Peetz 1990 und anderen zur Seite zu stellen sind, wenigstens angedeutet zu werden. Die Weltgeschichte ist ein Erbe des Christentums, wie Karl Löwith vor langem gezeigt hat. Zwischen Augustinus, dem spätantiken Kirchenvater, und Bossuet, dem Hofprediger Ludwigs XIV., dominiert die Theologie. Voltaire knüpft kritisch an Bossuet an und liefert die erste Sittengeschichte der Menschheit. Herder kritisiert Voltaire im Namen einer kulturellen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Kant verteidigt einen Kosmopolitismus des Rechts, und Hegel erhebt die Gesamtgeschichte zur Angelegenheit des Weltgeistes.
Dies alles verwirft Schelling, um die Geschichte als Akt der Offenbarung Gottes zu deuten. Die Metaphysik erobert wieder das historische Feld, indem die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Demonstrationsfeld des Absoluten in einem trinitarischen Sinne in Anspruch genommen werden. Die Parallele von Vater, Sohn und Geist stellt in Wahrheit ein reichlich simples Modell dar. Denn die allgemeinen Zeitdimensionen ergeben als solche ein viel zu abstraktes Muster sowohl für den umfassenden Begriff der "Alter" der Welt wie auch der Offenbarung Gottes.
Deshalb wird das Verständnis Gottes in den Prozeß verwickelt. Er steht nicht außen vor als Schöpfer, Lenker und Richter. Sein eigenes Sein ist im tiefsten geschichtlich. Also kommt er gewissermaßen nie zur vollen Präsenz, sondern verschließt sich, entäußert sich und zieht sich wieder zurück.
"Seelenstärke ist nötig, den Zusammenhang der Bewegung vom Anfang bis zum Ende festzuhalten. Die meisten aber möchten, wo nur die Tat entscheidet, alles mit friedlichen Allgemeinbegriffen schlichten, und eine Geschichte, in der wie in der Wirklichkeit Szenen des Kriegs und des Friedens, Schmerz und Lust, Gefahr und Errettung wechseln, als eine bloße Folge von Gedanken vorstellen."
"Gott selbst (um uns aufs schärfste auszudrücken) setzt im Act seines ewigen Daseyns das als wirklich geschehen (vergangen), was wir als geschehen darstellen. Von nichts reden die meisten mehr als von der Lebendigkeit Gottes, und doch scheint ihnen nichts unerwarteter als die Gott zugeschriebene wirkliche Lebendigkeit. Kein Leben ist ohne gleichzeitiges Sterben."
Für ein aktuelles Interesse der Philosophie, Geschichte zu verstehen, bieten Schellings Gedankenskizzen kaum Hilfestellung. Für ein theologisches Interesse, Gott begrifflich näher zu kommen, vermutlich auch nicht. Aber der Philosophiehistoriker beobachtet einen brodelnden Vulkan des Geistes, der alles Feste einschmilzt, ohne je zur völligen Eruption zu gelangen.
RÜDIGER BUBNER
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: "Weltalter-Fragmente". Herausgegeben von Klaus Grotsch. Mit einer Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Schellingiana 13/1 und 13/2. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. 2 Bände, 770 S., br., 108,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main