Kurz vor der WM 1994 kettet Martin Schlosser sich im Rahmen einer Titanic-Mahnwache vor der Frankfurter DFB-Zentrale an, um die Nominierung des Fußballstars Bernd Schuster zu erzwingen, was jedoch misslingt. Aber Martin Schlosser bleibt dem Leben gegenüber aufgeschlossen. Er unternimmt Lese- und Lustreisen, experimentiert mit Drogen, schreibt mit dem Kollegen Günther Willen auf Spiekeroog ein Buch über das dritte Tor von Wembley, übersteht einen katastrophalen Umzug von Frankfurt nach Göttingen, löst gemeinsam mit Wiglaf Droste ohne allzu böse Absicht einen Literaturskandal aus. Und zugleich sind es die Jahre, in denen Martin Schlosser sich auf den Abschied von seiner geliebten "Oma Jever" einstellen muss.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2024Urlaub mit Sternenhimmel
FRANKFURT Gerhard Henschel und sein neuer Roman in der Buchhandlung Schutt
Zu Ernst Jüngers 100. Geburtstag schaltet die "Titanic" eine Anzeige, in der es heißt, der Jubilar nehme telefonisch Leserfragen entgegen. Angegeben ist eine Frankfurter Rufnummer. Gerhard Henschel, damals Redaktionsmitglied der Zeitschrift, gehört zu denen, die den Hörer abnehmen. Was helfe gegen den aufkommenden Nationalismus, will ein Bürger vom Meisterdenker wissen. "Lichterketten", antwortet der "Titanic"-Jünger.
So steht es in Henschels "Schelmenroman", bei Hoffmann und Campe gerade erschienen, zu dessen Buchpremiere der Autor in die Frankfurter Buchhandlung Schutt gekommen ist. Wo er sich mit Oliver Maria Schmitt unterhält, der durch den Abend führt. "Ich habe die Ehre, im Buch als Romanfigur auftauchen zu dürfen", sagt Henschels Satire-Kollege von damals. Zum Beispiel in der Szene, in der die beiden nach zuvor eingeworfener Pille dem Drink ihres Lebens begegnen. Der "Sternenhimmel" erscheint ihnen mit seinen vielen glitzernden Schirmchen plötzlich als schönster Cocktail der Welt, dessen Vorzüge sie einander ekstatisch beschreiben. "Mein Zeitgefühl machte Urlaub", schreibt Henschel.
Sonst aber ist es bestens in Schuss. Mit einer Fülle von Szenen und Details schreibt der "Schelmenroman" Henschels Kulturgeschichte der Bundesrepublik fort, angesiedelt irgendwo zwischen Kempowskis "Deutscher Chronik" und der "Titanic", die ihren Lesern schreibt.
Das Buch ist der zehnte Roman in Henschels Martin-Schlosser-Reihe, die 2004 mit "Kindheitsroman" begann. Weitere Romane werden folgen. Hinten anzustellen hat sich daher schon jetzt Peter Kurzeck mit seinem Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" aus fünf vollendeten und drei Teilbänden. Und auch Andreas Maier muss sich mit seiner auf elf Bände angelegten "Ortsumgehung" warm anziehen. Émile Zola habe Henschel ohnehin schon übertroffen, rechnet Schmitt genüsslich vor. Zolas Zyklus "Les Rougon-Macquart" komme auf rund 4000 Seiten, Henschel sei bereits bei mehr als 5000.
Auch im neuen Roman heißen Romanfiguren wie Hans Zippert und Thomas Gsella wie in ihrem wirklichen Leben, nur Henschel trägt den Namen Martin Schlosser. "Es gibt gewisse Ähnlichkeiten", gesteht Henschel zu: "Er hat sogar denselben Abiturnotendurchschnitt." Aber die Hochschulreife liegt bei Beginn des Romans schon eine Weile zurück. Der 1962 geborene Schlosser kommt 1993 zur "Titanic", von da an spielt der Roman neben Orten wie Krefeld, Leipzig und Göttingen vor allem in Frankfurt, von der WG an der Vogelsbergstraße im Nordend bis zur DFB-Zentrale und zum Zoo. Neben Kneipen und satirischen Streichen kommen Freunde und Familie vor, von der Patentochter, die zu Besuch kommt, bis zur geliebten Großmutter, die stirbt.
Der nächste Band ist fertig und liegt beim Verlag, er heißt "Frauenroman". Henschel schreibt derweil schon am übernächsten Teil, dem "Großstadtroman". Einen "Ritterroman" soll es ebenso geben wie einen "Zukunftsroman" und einen "Heideroman". Nach dem "Altersroman" komme dann nur noch der "Arztroman", sagt Henschel. Noch hinkt er der Gegenwart hinterher. "Ich muss 75 werden, um mich einzuholen", hat er ausgerechnet. Zum Glück arbeiteten seine Romanfiguren mit. Abends schicke er ihnen die Stellen zu, die sie beträfen. "Wenn ich wieder aufstehe, stelle ich fest, dass sie an den Dialogen gearbeitet haben." Ein Gruppenroman. FLORIAN BALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
FRANKFURT Gerhard Henschel und sein neuer Roman in der Buchhandlung Schutt
Zu Ernst Jüngers 100. Geburtstag schaltet die "Titanic" eine Anzeige, in der es heißt, der Jubilar nehme telefonisch Leserfragen entgegen. Angegeben ist eine Frankfurter Rufnummer. Gerhard Henschel, damals Redaktionsmitglied der Zeitschrift, gehört zu denen, die den Hörer abnehmen. Was helfe gegen den aufkommenden Nationalismus, will ein Bürger vom Meisterdenker wissen. "Lichterketten", antwortet der "Titanic"-Jünger.
So steht es in Henschels "Schelmenroman", bei Hoffmann und Campe gerade erschienen, zu dessen Buchpremiere der Autor in die Frankfurter Buchhandlung Schutt gekommen ist. Wo er sich mit Oliver Maria Schmitt unterhält, der durch den Abend führt. "Ich habe die Ehre, im Buch als Romanfigur auftauchen zu dürfen", sagt Henschels Satire-Kollege von damals. Zum Beispiel in der Szene, in der die beiden nach zuvor eingeworfener Pille dem Drink ihres Lebens begegnen. Der "Sternenhimmel" erscheint ihnen mit seinen vielen glitzernden Schirmchen plötzlich als schönster Cocktail der Welt, dessen Vorzüge sie einander ekstatisch beschreiben. "Mein Zeitgefühl machte Urlaub", schreibt Henschel.
Sonst aber ist es bestens in Schuss. Mit einer Fülle von Szenen und Details schreibt der "Schelmenroman" Henschels Kulturgeschichte der Bundesrepublik fort, angesiedelt irgendwo zwischen Kempowskis "Deutscher Chronik" und der "Titanic", die ihren Lesern schreibt.
Das Buch ist der zehnte Roman in Henschels Martin-Schlosser-Reihe, die 2004 mit "Kindheitsroman" begann. Weitere Romane werden folgen. Hinten anzustellen hat sich daher schon jetzt Peter Kurzeck mit seinem Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" aus fünf vollendeten und drei Teilbänden. Und auch Andreas Maier muss sich mit seiner auf elf Bände angelegten "Ortsumgehung" warm anziehen. Émile Zola habe Henschel ohnehin schon übertroffen, rechnet Schmitt genüsslich vor. Zolas Zyklus "Les Rougon-Macquart" komme auf rund 4000 Seiten, Henschel sei bereits bei mehr als 5000.
Auch im neuen Roman heißen Romanfiguren wie Hans Zippert und Thomas Gsella wie in ihrem wirklichen Leben, nur Henschel trägt den Namen Martin Schlosser. "Es gibt gewisse Ähnlichkeiten", gesteht Henschel zu: "Er hat sogar denselben Abiturnotendurchschnitt." Aber die Hochschulreife liegt bei Beginn des Romans schon eine Weile zurück. Der 1962 geborene Schlosser kommt 1993 zur "Titanic", von da an spielt der Roman neben Orten wie Krefeld, Leipzig und Göttingen vor allem in Frankfurt, von der WG an der Vogelsbergstraße im Nordend bis zur DFB-Zentrale und zum Zoo. Neben Kneipen und satirischen Streichen kommen Freunde und Familie vor, von der Patentochter, die zu Besuch kommt, bis zur geliebten Großmutter, die stirbt.
Der nächste Band ist fertig und liegt beim Verlag, er heißt "Frauenroman". Henschel schreibt derweil schon am übernächsten Teil, dem "Großstadtroman". Einen "Ritterroman" soll es ebenso geben wie einen "Zukunftsroman" und einen "Heideroman". Nach dem "Altersroman" komme dann nur noch der "Arztroman", sagt Henschel. Noch hinkt er der Gegenwart hinterher. "Ich muss 75 werden, um mich einzuholen", hat er ausgerechnet. Zum Glück arbeiteten seine Romanfiguren mit. Abends schicke er ihnen die Stellen zu, die sie beträfen. "Wenn ich wieder aufstehe, stelle ich fest, dass sie an den Dialogen gearbeitet haben." Ein Gruppenroman. FLORIAN BALKE
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Aufs Witzigste kann man in diesem "Schelmenoman", Band 10 in einer monumentalen Reihe, nochmal die inzwischen leicht angestaubten Neunziger durchkauen, beteuert Rezensent Andreas Rüttenauer. Seine Rezension hat etwas Insiderhaftes, denn der Roman spielt teilweise in der taz, in der Redaktion der für ihren mäßigen Witz bekannten "Wahrheitsseite", und teilweise in der Redaktion der Satirezeitschrift Titanic. Ach, wie war es herrlich, als Henschel zusammen mit dem "Brachialsatiriker" Wiglaf Droste sich ausmalte, wie man DDR- Bürgerrechtler grillt. Selbst Rüttenauer ist am Ende vom vielen autobiografischen Namedropping in dem Roman ermüdet. Aber alles in allem findet er ihn schon sehr lustig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»An jeder Stelle des Romans hat man Spaß an der Detailgenauigkeit des Erzählers, den vielen Identifikationsangeboten für Leser, vor allem natürlich: am Quatsch.« Alexander Solloch NDR Kultur