Unter dem blühenden Lindenbaum eines patagonischen Landguts, der die Kulisse von Clementines neunzigstem Geburtstag bildet, treffen zur Jahrtausendwende zwölf Personen aus drei Generationen aufeinander - Sommergäste, von denen jeder seinen Teil der gemeinsamen Geschichte der Auswanderung und Emigration aus einem aus den Fugen geratenen Europa mit sich trägt: die Wiener Jubilarin, ihr Sohn Martin, die Enkel Katha und Gabriel und all die anderen. Sie finden sich nicht bloß mit ungelösten Familienproblemen, sondern auch mit den Geistern der jüngsten Vergangenheit konfrontiert. Das schicksalhafte Gartenfest steigert sich zu einer tragikomischen Klimax trifft unausweichlich ein, unerwartet und wie nebenher.Unverblümt und schwarzhumorig entführt der Austroargentinier Germán Kratochwil in eine gleichermaßen exotische wie allzu vertraute Welt, er bohrt tief in die Vergangenheit und in die Seelen seiner Protagonisten. Eingebettet in die kulinarische und landschaftliche Üppigkeit des scheinbar so bukolischen Andentals entsteht so ein großer europäischer Roman
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jan Koneffke hat viel zu erzählen von diesem Roman, der so viel zu erzählen hat. Über drei Generationen europäischer Auswanderer in Patagonien dehnt sich die Geschichte, die German Kratochwil in seinem Debüt aufschreibt. Das geht nicht ohne Überfrachtungen ab, typische Anfängerfehler, nennt Koneffke das leicht überheblich. Was das Buch dem Leser an symbolischer Pastosität zumutet, tritt für den Rezensenten jedoch zurück hinter "menschenklugen", witzigen und hintersinnigen Schilderungen und Figurenbeschreibungen, etwa von der Großmutter Clementine, die "zwischen Grantigkeit und Operettenträllerei" angesiedelt ist. Ebenso überzeugend seien die verschiedenen Perspektiven und der souveräne Gang durch Räume und Zeiten umgesetzt. Koneffke zeigt sich gefesselt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2012Plemplem in Quemquemtréu
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen kakanischen Kartoffelsalat. Patagonien erscheint als Land, in dem sich die Rezepte und die Schicksale kreuzen - etwa die von jüdischen Emigranten und entwichenen Nationalsozialisten. Die mitteleuropäische Auswanderergesellschaft hat viel Geschichte und viele Geschichten im Gepäck.
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der argentinische Österreicher Germán Kratochwil erzählt in seinem späten Debütroman "Scherbengericht" vom Verfall einer Familie in Patagonien - als Gesellschaftskomödie voller psychischer und politischer Abgründe.
Dieser neunzigste Geburtstag sei "wahrscheinlich" ihr letzter - so der eher drohende Unterton Clementine Holbergs. Bestellt und gerufen: So kommt am 1. Januar des Jahres 2000 ein weitverzweigter Familien- und Freundeskreis von allen Enden der Welt zusammen zur Geburtstagsfeier auf einem idyllischen Landgut in Quemquemtréu, einer kleinen Ortschaft in den südlichen Kordilleren. Unterm dezemberlich blühenden Lindenbaum gibt es köstlichen argentinischen Lammbraten und traditionellen kakanischen Kartoffelsalat. Patagonien erscheint als Land, in dem sich die Rezepte und die Schicksale kreuzen - etwa die von jüdischen Emigranten und entwichenen Nationalsozialisten. Die mitteleuropäische Auswanderergesellschaft hat viel Geschichte und viele Geschichten im Gepäck.
Deutschsprachige Familienromane, die in Patagonien spielen, gab es bisher eher nicht. Auch vierundsiebzig Jahre alte Debütanten gehören noch nicht zum Alltag des mitsamt der Gesellschaft alternden Literaturbetriebs. Germán Kratochwil, 1938 geboren in Korneuburg, ist nach dem Krieg mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewandert. Beruflich war er als Soziologe für internationale Organisationen tätig. Diesen Hintergrund teilt er mit der Hauptfigur seines ersten Romans, Clementines Sohn Dr. Martin Holberg, der vor der Geburtstagsfeier noch ein bisschen Vermittlerarbeit zu leisten hat. Der Beauftragte für Minderheitenschutz absolviert im Auftrag der Stiftung "Boden und Frieden" einen Termin bei einer Mapuche-Gemeinde - die Indianer sollen Land für ein Stauseeprojekt abtreten, wollen aber nicht. Beziehungsweise: wollen mehr. Schließlich präsentieren sie einen ausgefeilten Forderungskatalog (unter anderem: "ein Leichtmotorrad für jedes Familienoberhaupt"). Hier geht es um "nachhaltige Entwicklungen" und hochgesonnene Phrasen. Vierzig Jahre hat Martin Holberg an die "Möglichkeit einer besseren Gesellschaft" geglaubt. Um nun, an der Schwelle zur Pensionierung, ein neues Credo zu entwickeln: "Ich scheiß drauf!" Dabei war er schon lange "ein inwendiger Zweifelbruder" und damit ein "potentieller Saboteur des eigenen Gewerbes".
Holberg ist zur Feier unterwegs mit seiner labilen, naturschwärmerischen Tochter, die er gerade aus der Psychiatrie abgeholt hat. Katha fühlt mit allen Kreaturen - und erleidet paranoide Schübe. In den Müsli löffelnden, Eier köpfenden Gästen im Frühstücksraum eines Hotels sieht sie Teilnehmer eines "Internationalen Gehörfolterkongresses". Und was bekommt sie zu hören, als sie beim Whale Watching die Spezial-Kopfhörer aufsetzt? Die Tiere beschimpfen sie ganz unflätig. Martin erlebt fürsorglich erschüttert das Abdriften eines geliebten Menschen in eine andere Welt.
Sohn Gabriel kommt als Paraglide an den Geburtstagstisch geflogen. Ansonsten ist auch er nicht gerade ein Überflieger: Nach allerlei Studien (Philosophie, Politologie) ist er zum drogenkundigen Sinnsucher geworden, bis er schließlich in einer kuriosen schweizerisch-patagonischen Sekte landete, der Bruderschaft der "Schaler" unter Leitung des Meisters Hans-Heinz Futterer, Leitspruch: "Fülle die Schale mit deinem Eigenen, komm zu uns und bleibe!" Oma Clementines Blick auf die Enkel hat die Buddenbrook-Optik: letzte verdorrende Äste im Stammbaum einer "Patrizierfamilie". Ansonsten fühlt sich die Alte aber durchaus wohl in ihrem "Kreis überlebensfroher, kartenspielender und tortenverzehrender Witwen". Neunzig Jahre und kein bisschen leise mit der Lästerzunge, wenn sie etwa über eine Freundin des Sohnes grübelt, die Malerin Norah Borges und ihren "sehbehinderten Schriftstellerbruder, den Georgie - einen armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war". Man stutzt - ist wirklich der berühmte Jorge Luis gemeint?
Bei der Feier treffen die jüdischen Gäste aus Jerusalem auf Clementines Nachbarn und Verehrer, den einundneunzig Jahre alten unverbesserlichen Siegmund Rohr. Aufgrund seiner ungeklärten Herkunft hat er es in der Nazizeit zwar nur zum Obergefreiten an der Gulaschkanone gebracht. Trotzdem fühlte er sich zum "tragischen Nachkriegsschicksal berechtigt" und schloss sich auf Schleichweg über die Alpen dem rechten Exodus nach Südamerika an. Wenn ein freundlicher Autofahrer auf den gebirgigen Wegen Patagoniens anbietet, ihn ein Stück mitzunehmen, denkt Siegmund Rohr zunächst an eine Entführung durch den Mossad. Nicht weit entfernt liegt das Hotel "Berghof". Da hat jemand den Obersalzberg im Kleinen nachzubauen versucht - "an nostalgischen Gästen mangelte es zu keiner Saison. Sie kamen schon des Hofnamens wegen, und die Gespräche mit dem Hofherrn enttäuschten keinen." Eine feine Ironie ist das.
Heiter und vital ist der Ton und kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer grotesken Versammlung angeschlagener Gestalten zu tun haben, vom manifest Geisteskranken bis zum liebenswürdigen Spinner, vom wankenden Greis bis zum schmerzgeplagten Krüppel. Der Wirt des Tilo-Hofes, Treugott Lagler, musste sich zeitlebens mit dem Handicap eines verkürzten Beines arrangieren. Früher hat er das mit Laufsport überkompensiert. Nun versucht seine Frau ihm den - bereits in einer Ecke des Hauses lauernden - Rollstuhl schmackhaft zu machen. Der Südtiroler Bauernsohn, dessen Vater einst von italienischen Faschisten verprügelt wurde und daraufhin beschloss, nach Argentinien auszuwandern, hat eine Neigung zu Fidel Castro und parodiert zwanghaft dessen Radio-Ansprachen. Sein ungeliebter Sohn, Enrique mit dem "Mostschädel", ist ein Technik-Tüftler mit feinnervigen Händen: "Er hätte Mohnkörner sortieren können." Aber wie ein Dämon wirkt er, wenn er seiner wahren Leidenschaft nachgeht: der Tierquälerei. Stundenlang schließt er sich in der Werkstatt ein, und dann passiert es: "Herzzerreißend schrie eine Kreatur." Und dann gibt es noch den Dorfdeppen Nicko, der den ganzen Tag wie getrieben durch die schöne Landschaft läuft und mit seinen Zuckungen von weitem eine Silhouette wie ein pickender Vogel abgibt. Er hat immer einen verkrusteten Schwamm an einem Stock dabei, mit dem er sich nach vergnüglichen Freiluft-Entleerungen den Hintern abwischt.
Kurz, dies ist eine Gesellschaftskomödie mit lauter politischen und psychischen Abgründen: Plemplem in Quemquemtréu. Es scheint jedenfalls dringend nötig, dass dem Freundeskreis dauerhaft beigestanden wird von einem anderen Sommergast, dem Psychoanalytiker und "Seelen-Bulldozer" Elias Königsberg, der allerdings mit der freudianischen Schulweisheit hadert und selbst mit einem weiteren Emigrantenschicksal aufwarten kann.
Erzählt wird der Roman aus wechselnden Perspektiven. Die Kapitel schmiegen sich der Sichtweise jeweils einer Figur an, bis zu inneren Monologen, wenn etwa Clementine von einer verstorbenen Freundin heimgesucht wird, der fülligen Opernsängerin Olga Rebikoff. Sie entstammte einer alten russischen Musiker-Familie, die einst vor den Bolschewiken fliehen musste. An Herzversagen ist sie vor einigen Jahren hingeschieden, nun schwebt sie am Geburtstagsmorgen über dem Lindenbaum, immer noch gekleidet in ihr unvorteilhaftes Chanel-Kostüm, und will Clementine hinüber ins Jenseits locken.
Die Erzählweise ist eher auf Betrachtung und Reflexion ausgerichtet als auf das effiziente Vorantreiben der Handlung. Subtil wird das Kräftefeld der Konflikte, Abneigungen und Sympathien vermessen. Der Roman ist ein Lesevergnügen, mit seinem gepflegten Duktus, seiner Beschreibungskunst und seinen treffenden Formulierungen, wenn etwa vom "todvertrauten Blick" eines Angestellten im Leichenschauhaus die Rede ist. Völlig zu Recht stand "Scherbengericht" auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Natürlich hatte ein solcher argentinisch-austriakischer Literaturbetriebsaußenseiter und Spätdebütant keine Chance, im Finale mitzurennen. Aber ein Geheimtipp ist "Scherbengericht" nun nicht mehr.
WOLFGANG SCHNEIDER
Germán
Kratochwil: "Scherbengericht". Roman.
Picus Verlag, Wien 2012. 312 S., geb., 22,90 [Euro].
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