An der Rezeption seines Hotels erfährt Christopher Burton vom Selbstmord seines Sohnes. Warum ist bei dieser schrecklichen Nachricht sein erster Gedanke, jetzt nach fast dreißig Jahren Ehe seine Frau zu verlassen? Ein fesselnder Roman über Ehe und Identität, über die spezielle Dynamik, wie einer sich auf Kosten des anderen entwickelt und ein Dritter auf der Strecke bleibt.
Tim Parks räsoniert über den Ring des Schicksals, der auch Italienerinnen im roten Mantel an der Nase führt / Von Elke Schmitter
Ein Mann dreht durch. Wir kennen das als Filmthema. Ein Mann dreht beinahe durch: Das ist dann ein Roman. Und wenn sich das beinahe Durchdrehen im Kopf des Mannes abspielt, ist es ein moderner Roman.
Tim Parks, von dem mit "Schicksal" nun der sechste Roman in deutscher Übersetzung vorliegt, ist ein klassisch moderner Schriftsteller. Er ist ein Spezialist des beinahe Durchdrehens, der bürgerlichen Dramen vornehmlich zwischen Mann und Frau. Er hebt zur Inspizienz derselben allerdings nicht die Bett-, sondern allein die Schädeldecke. Denn die Dramen, von denen er schreibt, bereiten sich dort vor, und manchmal spielen sie auch nur da.
Der Kopf, in dem wir uns befinden, ist der von Christopher Burton - ein Journalist und Autor vor dem Höhepunkt seiner Karriere. Als Spezialist für Italien und dessen Mentalität ist er im Begriff, ein Buch über den Nationalcharakter seiner Wahlheimat zu schreiben, ein gediegenes und geistvolles Werk. Ein Interviewtermin mit Andreotti ist anberaumt, und er erwartet dessen telefonische Bestätigung, als er an der Rezeption eines Londoner Hotels ein Gespräch entgegennimmt. An der Rezeption des überaus gepflegten Hauses steht er eigentlich, um das Doppelzimmer für seine Frau und sich um eine weitere Woche zu verlängern. Er wartet, bis er an der Reihe ist, bekämpft seine aufsteigende Ungeduld mit der wohlgefälligen Betrachtung des fleischigen Halses der jungen Rezeptionistin und verspürt im Magen die angenehme Nachwirkung eines kompletten englischen Frühstücks einschließlich Räucherhering und der Zigarette danach. Die Stimme am anderen Ende der Leitung teilt ihm indessen mit, sein Sohn habe sich umgebracht. Mit einem Schraubenzieher erstochen. Und sein erster Gedanke ist der: Mit meiner Frau und mir ist es aus.
Wir erleben in Christopher Burtons Kopf die nun folgenden beiden Tage, und wir sind darin so gefangen wie er.
Es ist kein Wunder, daß der Autor seinen Helden durchweg in beengende Räume setzt: Taxen, überfüllte Cafés, ein Flugzeug und ein Kinderschlafzimmer, ein Krankenhausflur, ein Aufbahrungsraum und, immer wieder, ein Herren-WC. Denn Christopher Burton hat nicht nur Herzbeschwerden, sondern auch massive Verdauungsprobleme, und er entkommt seinem Körper so wenig wie seinen Gedanken. Nur seinen Gefühlen kommt er nicht bei, da hilft alles Denken nicht: Im Grunde stört es sogar.
Im Vergleich zu seiner temperamentvollen italienischen Frau empfindet der englische Intellektuelle sich als Gefühlsversager, weil vor einer jeden Empfindung die Wahrnehmung derselben steht, und auch die muß geprüft und gewogen werden. Als er am Flughafen seine Frau nicht mehr findet - nach einer halben Stunde Trödelei im Buchladen und auf dem Herren-WC -, spürt er heftige Wut. "Und wie gut Ärger doch vor Panik schützt, dachte ich . . ." Und wie gut, könnte man fortsetzen, Panik von Schuldgefühlen ablenkt, wobei nicht immer klar ist, ob nicht die Schuldgefühle selbst nur eine Abwehr von Wut darstellen . . .
Kein Mensch ist einsamer als einer, der seinen Gefühlen nicht traut. "Nicht nur, daß du unfähig bist, im gleichen Maße Kummer zu empfinden wie sie, unfähig bist, dich auf das Objekt deines Kummers zu konzentrieren, weil deine Gedanken kopflosen Hühnern gleichen, die weiter auf ihrem gewohnten Misthaufen herumirren, nein, du darfst sie in ihrem Kummer nicht einmal trösten." Als er das denkt, sitzt er in der Poliklinik, in einem trostlosen Flur, und wartet auf seine Frau, die mit der Leiche des Sohnes alleine sein will. Hinter den beiden liegen Stunden des stupiden modernen Horrors, auf dem Flug von London nach Turin, in Abfertigungsschlangen und Warteschleifen; es kam auf das Geld nicht an, aber die Eile der anderen kann man nicht kaufen. Er ist erschöpft und gekränkt, er hat Herzschmerzen und müßte auch dringend mal pinkeln, das Gedudel eines Radios geht ihm auf die Nerven, aber das Schlimmste ist eigentlich, daß er hier nicht richtig ist, oder auch: nicht richtig hier ist.
Während er aufrichtig trauern müßte, hadert er mit seiner Frau, und während er eigentlich weinen sollte, verweigert nicht nur die Bindehaut, sondern auch seine Blase den Dienst. Und trauert die Frau eigentlich, oder inszeniert sie nur einen Schmerz, den sie gar nicht fühlen kann? Doch will es ihm plötzlich scheinen, als sei dies der Moment der Entscheidung, die vom Schicksal gesandte Notwendigkeit, sich mit ihr und sich selbst zu versöhnen. Und als er gerade genau soweit ist, taucht ein älteres Ehepaar auf und fragt nach dem richtigen Weg. Es hat eine Tochter verloren, die einzige, bei einem Autounfall; die beiden stützen sich gegenseitig, sie sucht in seinem Mantel nach Papiertaschentüchern, und in der Weise, wie sie ihren Kummer erzählen, so unbetont und ergreifend, ohne Darstellung und Narzißmus, wird er von seinem Vorhaben abgebracht. "Sie sind ein Paar, dachte ich und wandte mich abrupt von der Tür ab. Was immer ich jetzt auch bekenne und beteuere, sagte ich mir und kehrte dem den Rücken, was mir einen Augenblick zuvor noch als die größte und unausweichlichste Konfrontation meines Lebens erschienen war, meine Frau und ich werden niemals so ein Paar werden wie diese beiden. Nichts an dem Leid dieses Mannes und dieser Frau ist künstlich, aufgesetzt, schwülstig oder sentimental, sagte ich mir. Ein Paar wie dieses, sagte ich mir, würde sich niemals von etwas so Unangemessenem wie dem Radiogedudel ablenken lassen. Nicht in einem solchen Moment. Diese Verlogenheit und Geistlosigkeit liegt ihnen völlig fern. Nichts ist bezeichnender für den Charakter als die Dinge, von denen man sich ablenken läßt, dachte ich."
Er denkt, er sagt sich, er stellt fest, erinnert sich und denkt erneut. Die von Ulrike Becker brillant übertragene Suada, das Selbstgespräch des Romans, zieht immer größere Schleifen, wirft Blasen und krümmt sich zurück; es ist eine fortwährende Bewegung, die voranschreitet und retardiert, sich berichtigt und wiederholt, sich bestätigt und wieder bezweifelt. Ist seine Frau temperamentvoll oder nur eine Hysterikerin? Hat sie ihn aus Liebe betrogen, oder ist sie ihm längst enteilt? Hat er sie aus Liebe betrogen, oder ist er nur bei ihr geblieben, weil sie einen kranken Sohn haben? Und ist dieser Sohn wirklich krank, oder ist seine Schizophrenie nur ein Symptom ihrer kranken Ehe? Fühlt er sich wirklich schuldig, oder hat dieses angebliche Schuldgefühl nur mit seiner christlichen Erziehung und der Schuldgier der modernen Gesellschaft zu tun?
Die Schizophrenie des Sohnes Marco ist ein Hauptthema dieses Romans, ein düsterer Basso continuo zum tremolierenden und oft komischen Oberton des Erzählers. Denn dieses Krankheitsbild ist ein Symbol der Unentscheidbarkeit: genetisch oder erfahrungsbedingt, endogen oder exogen, Schicksal oder Schuld. Die Krankheit Marcos äußert sich zunächst in drastischen Wahrheiten, in Sätzen, wie sie ein hart Pubertierender womöglich aussprechen muß . . . bis der Erwachsene schließlich agiert, sein Bett mit Kot beschmiert, seine Mutter zur Geisel nimmt, die Familienmitglieder bedroht. Sein Vater sucht einen Psychiater auf, weil er Entlastung sucht: Er will Bestätigung dafür erhalten, daß es eine Krankheit ist, eine hormonelle Störung, ein klassisches Verhängnis. Und der Psychiater bestätigt ihn, und doch will er ganz genau wissen, wann welche Symptome auftraten, und mit jeder weiteren Frage stößt er ihn zurück in die Grübelei, aus der er ihn erlösen sollte. Es gibt nicht einmal hier, bei einem klinischen Fall, eine Rettung in die Eindeutigkeit.
Tim Parks hat bereits mehrere Romane im Genre "Bewußtseinsprosa" geschrieben; allesamt noch lieferbar, gut übersetzt und sehr empfehlenswert. Dies ist sein bisher bester. Er hat inzwischen eine spezielle Technik entwickelt, um das unruhige Bewußtsein seiner Helden abzubilden, dieses reichmöblierte Gefängnis mit beinahe beweglichen Gittern: Er läßt seine Figur, wie jeden von uns, mehrere Gedanken gleichzeitig verfolgen. Die Sätze schließen inhaltlich oft nicht an den vorherigen an, sondern nehmen einen gleichsam durchhängenden Faden wieder auf; das erzwingt ein gesteigertes Lesetempo und so eine unwillkürliche Identifizierung: Wenn wir dem Erzähler folgen wollen, müssen wir auch seiner Geschwindigkeit folgen. Die Zwanghaftigkeit seines Denkens wird so zu unserer eigenen, und wie er pendeln wir zwischen Körperwahrnehmung und Gewissensqual, Selbstprüfung und Objekterfassung.
Wenn Christopher Burton während seines ersten Frühstücks in Wiederholung erwägt, einen geräucherten Hering zu speisen, obwohl er fett und ungesund ist, dann wissen wir früher als er, daß er der Versuchung erliegen wird - doch folgen wir seinem Bewußtsein gebannt, bis es sich selber nachgibt und dann, als habe es Nietzsche gelesen, die Sünde zu einem Lustakt verschönt, obwohl es schon keiner mehr ist. Gegen dieses randlose Ich, das nichts mehr kennt als sich selbst, hat eben gar nichts mehr eine Chance: weder Tod noch Liebe, noch Hering.
Die unentrinnbare Gedankentätigkeit, der unaufhörliche Prozeß von Selbstzweifel, Gewissensangst, Urteil und Projektion zerreibt den Helden wie unter einem Mörser. Es sind nicht nur seine Gedanken, die ihn beunruhigen, es ist auch seine Sorge, ob er "die Gedanken" und "die Dinge" denn überhaupt unterscheiden kann. Er geht darin dem ganz normalen Neurotiker nur ein ganz kleines Stück voraus. Denn es gehört auch zu Tim Parks' Können, die Verwirrung von Christopher Burton ganz zu der seiner Leser zu machen. Als ein perfekter Manierist (und ein Erzähler vom Schlage Almodovars) sorgt Parks dafür, daß am Schluß einer jeden Szene eine überraschende Wendung steht, so daß ausnahmslos alle Schlüsse sich als ein Trug derselben erweisen; er wiederholt damit die Peripetie der Gedanken auf der Handlungsebene. Er führt uns an seinem Können wie am Nasenring durch die Manege, gebannt und hilflos ergeben, von Emotionen durchschüttelt, die sein Held am liebsten vermeidet - und denen er doch nicht entkommt.
Für diese Meisterschaft hat Parks geübt. In seinem frühen Roman "Roger zu lieben" spielt er eine Beziehung und ihr monströses, blutiges Scheitern im Kopf einer Tippse durch - einer kleinen Londoner Angestellten, die an der Liebe zu einem Neurotiker beinahe irre wird und sich schließlich zur Notwehr ermächtigt. In "Europa", seinem zuletzt übersetzten Roman, folgen wir einer Gruppenreise von italienischen Universitätsangestellten nach Brüssel in den Gedanken eines Professors und sind ebenso Geisel von dessen Gedanken und Erwägungen. Mit "Schicksal" schließlich hat er sein ästhetisches Konzept in Vollkommenheit verwirklicht: zwanghaft und redselig wie er selbst, dramatisch gewieft wie Javier Mariás, rhetorisch brillant wie Philip Roth - und in jedem Detail durchdacht. Denn schließlich ist es kein Zufall, daß in jener Szene des Buches, in der Christopher Burton mit seiner Frau erstmals wahrhaftig spricht, sie beide unter freiem Himmel sind: Sie stehen an einem Grab.
Tim Parks: "Schicksal". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker. Antje Kunstmann Verlag, München 2001. 282 S., geb., 39,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Gäbe es einen "Preis für das virtuoseste erste Kapitel", Frauke Meyer-Gosau würde ihn sofort Tim Parks Roman "Schicksal" zusprechen: eine fulminante Einführung in diese Familiengeschichte, die dem Leser in einem zugleich assoziativ sprunghaften wie temporeichen Erzählstrom aus der Perspektive des Gatten und Vaters berichtet werde. Mehr und mehr Informationen tauchen auf und fügen sich schließlich "schicksalhaft" zusammen, erzählt Meyer-Gosau. Die Familie bzw. Ehe werde als ein Gefängnis charakterisiert, aus dem es kein Entkommen gebe: Man braucht einander, wie man ist, und macht sich gegenseitig zu dem, was man braucht, analysiert die Rezensentin das ausweglose System, das den Sohn schizophren werden lässt. Meyer-Gosau rechnet es dem Autor hoch an, dass er der Versuchung eines Hoffnungsschimmers - ein Wunsch, der auch im Leser immer wieder aufkeime - nicht nachgegeben hat. Abschließend meint sie, dass doch das ganze Buch einen Preis verdient hätte und ebenso die Übersetzerin Ulrike Becker, der ein "vibrierend ironisches Deutsch" gelungen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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