DER GROSSE SATIRIKER THOMAS BRUSSIG schlüpft in die Rolle eines Schiedsrichters, um über das Leben zu sinnieren. Wie ist es, von achtzigtausend Menschen ausgepfiffen zu werden? Wie ist es, für neunzig Minuten nur von Lügnern, Tricksern und Betrügern umgeben zu sein, die, je nach Situation, eine Leidens- oder Unschuldsmiene aufsetzen? Wie ist es, nur durch Fehler Aufmerksamkeit zu erlangen, denn schließlich wird nur über Fehlentscheidungen diskutiert? Die Tragödie des Unparteiischen besteht darin, Neutrum sein zu müssen in einer Welt, die Leidenschaften weckt, Amateur zu sein unter hochbezahlten Profis. Und wieso sollen ausgerechnet die Schiedsrichter gerecht sein, wenn niemand auf der Welt noch Gerechtigkeit erwartet? Thomas Brussig eröffnet eine neue Reihe im Residenz Verlag: Eine Litanei.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2007Von Tod und Trillerpfeife
Ein Schiedsrichter macht sich Luft: Thomas Brussigs paradoxe Publikumsbeschimpfung
Er ist wütend, und er lässt seiner Wut freien Lauf. Er hasst Telefon-Hotlines und beschimpft sie als "Kommunikationsamöben". Er verdammt Windräder als "die größte Landschaftsbildverschandelung, die es je gegeben hat". Was er aber am meisten verabscheut: Fußballfans. Also jenes pöbelnde Publikum, das "Pfeilwolken von Beschimpfungen" auf ihn abschießt und ihm nur Übles antut: zerschnittene Reifen, Telefonterror, Manipulationsversuche und Morddrohungen. Er selbst ist in seiner Raserei nicht weniger kompromisslos. Er ist Schiedsrichter, und er ist parteiisch. Vor allem aber ist er machtlos.
"Schiedsrichter Fertig" heißt Thomas Brussigs Büchlein über einen Referee, der sich in Rage redet. Und erst am Ende, in dem sich die Motive des Schiedsrichters zusammenfügen mit den Motiven des Erzählens, wird deutlich, warum der Untertitel "Eine Litanei" lautet und nicht "Eine Suada". Der Blick zurück im Zorn des Mannes, der Uwe Fertig heißt und mit Job und der Welt auch fast fertig scheint, hat seinen Ursprung weniger in beruflichem Überdruss, sondern in einem privaten Schicksalsschlag. Darum bleibt letztlich die Frage: Wie ernst ist Schiedsrichter Fertig, der seine persönliche Krise wortreich zu bewältigen versucht, nun wirklich zu nehmen in seinem Groll über die Auswüchse im modernen Fußball? Fertig muss sich Luft verschaffen, und der Fußball ist sein Ventil. Das Ergebnis erscheint paradox: Brussig hat, wie zuvor schon in seinem Trainer-Monolog "Leben bis Männer", ein Buch über den Fußball geschrieben, das kein Fußballbuch ist.
Der Protagonist ist durch Zufall Schiedsrichter geworden, weil sein Fußballverein einen Vertreter zu einem Wochenendlehrgang für angehende Schiedsrichter schicken musste und der Jugendspieler Fertig gerade gesperrt war. Von unteren Spielklassen in der ehemaligen DDR diente er sich hoch bis zum Fifa-Schiedsrichter, musste aber bemerken, dass der einzige Unterschied zwischen ein paar Dorfplatzzuschauern und einer Stadionmasse nur die Art der Schiedsrichterschelte ist: "In den unteren Ligen sind die Beschimpfungen grell und einzeln, in den oberen Ligen sind sie permanent und zuverlässig." Am harmlosesten erscheint noch die Kritik der Spieler, wie in der humorigen Anekdote aus der Wendezeit, als die deutsche Revolution auch auf dem Fußballplatz ankam: "Ständig wurde diskutiert und reklamiert, und einmal protestierte ein Zehnjähriger mit dem Ruf ,Wir sind das Volk!' gegen eine Strafstoßentscheidung." Doch alle Diskutiererei sei ohne Sinn und Zweck, weil Tatsachenentscheidungen kompromisslos und damit "zutiefst undemokratisch" seien. Ein Schiedsrichter ist ein absolutistischer Alleinherrscher.
Sein Machtinstrument ist die Trillerpfeife, und mit ihrer Hilfe muss er Spieler und Spiel beherrschen; vor allem in der Anfangsphase, wenn alle Kicker auf eine Linie des Leitenden lauern und versuchen, ihn mit vorgetäuschten Fouls und anderen Mätzchen zu instrumentalisieren. Pfiffe, meint Fertig, seien so unvermeidlich "wie ein gekonnter chirurgischer Schnitt". Welch ein Vergleich zwischen Referee, der über den Verlauf eines flüchtigen Fußballspiels entscheidet, und Chirurg, der über Leben und Tod bestimmt! Es ist eine Anmaßung, wie der ganze innere Monolog, aber eine verzeihliche. Wer so sehr hassen kann wie Schiedsrichter Fertig, der muss innig geliebt haben.
THOMAS KLEMM
Thomas Brussig: Schiedsrichter Fertig. Eine Litanei, Residenz Verlag, 2007, 92 Seiten, 12,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Schiedsrichter macht sich Luft: Thomas Brussigs paradoxe Publikumsbeschimpfung
Er ist wütend, und er lässt seiner Wut freien Lauf. Er hasst Telefon-Hotlines und beschimpft sie als "Kommunikationsamöben". Er verdammt Windräder als "die größte Landschaftsbildverschandelung, die es je gegeben hat". Was er aber am meisten verabscheut: Fußballfans. Also jenes pöbelnde Publikum, das "Pfeilwolken von Beschimpfungen" auf ihn abschießt und ihm nur Übles antut: zerschnittene Reifen, Telefonterror, Manipulationsversuche und Morddrohungen. Er selbst ist in seiner Raserei nicht weniger kompromisslos. Er ist Schiedsrichter, und er ist parteiisch. Vor allem aber ist er machtlos.
"Schiedsrichter Fertig" heißt Thomas Brussigs Büchlein über einen Referee, der sich in Rage redet. Und erst am Ende, in dem sich die Motive des Schiedsrichters zusammenfügen mit den Motiven des Erzählens, wird deutlich, warum der Untertitel "Eine Litanei" lautet und nicht "Eine Suada". Der Blick zurück im Zorn des Mannes, der Uwe Fertig heißt und mit Job und der Welt auch fast fertig scheint, hat seinen Ursprung weniger in beruflichem Überdruss, sondern in einem privaten Schicksalsschlag. Darum bleibt letztlich die Frage: Wie ernst ist Schiedsrichter Fertig, der seine persönliche Krise wortreich zu bewältigen versucht, nun wirklich zu nehmen in seinem Groll über die Auswüchse im modernen Fußball? Fertig muss sich Luft verschaffen, und der Fußball ist sein Ventil. Das Ergebnis erscheint paradox: Brussig hat, wie zuvor schon in seinem Trainer-Monolog "Leben bis Männer", ein Buch über den Fußball geschrieben, das kein Fußballbuch ist.
Der Protagonist ist durch Zufall Schiedsrichter geworden, weil sein Fußballverein einen Vertreter zu einem Wochenendlehrgang für angehende Schiedsrichter schicken musste und der Jugendspieler Fertig gerade gesperrt war. Von unteren Spielklassen in der ehemaligen DDR diente er sich hoch bis zum Fifa-Schiedsrichter, musste aber bemerken, dass der einzige Unterschied zwischen ein paar Dorfplatzzuschauern und einer Stadionmasse nur die Art der Schiedsrichterschelte ist: "In den unteren Ligen sind die Beschimpfungen grell und einzeln, in den oberen Ligen sind sie permanent und zuverlässig." Am harmlosesten erscheint noch die Kritik der Spieler, wie in der humorigen Anekdote aus der Wendezeit, als die deutsche Revolution auch auf dem Fußballplatz ankam: "Ständig wurde diskutiert und reklamiert, und einmal protestierte ein Zehnjähriger mit dem Ruf ,Wir sind das Volk!' gegen eine Strafstoßentscheidung." Doch alle Diskutiererei sei ohne Sinn und Zweck, weil Tatsachenentscheidungen kompromisslos und damit "zutiefst undemokratisch" seien. Ein Schiedsrichter ist ein absolutistischer Alleinherrscher.
Sein Machtinstrument ist die Trillerpfeife, und mit ihrer Hilfe muss er Spieler und Spiel beherrschen; vor allem in der Anfangsphase, wenn alle Kicker auf eine Linie des Leitenden lauern und versuchen, ihn mit vorgetäuschten Fouls und anderen Mätzchen zu instrumentalisieren. Pfiffe, meint Fertig, seien so unvermeidlich "wie ein gekonnter chirurgischer Schnitt". Welch ein Vergleich zwischen Referee, der über den Verlauf eines flüchtigen Fußballspiels entscheidet, und Chirurg, der über Leben und Tod bestimmt! Es ist eine Anmaßung, wie der ganze innere Monolog, aber eine verzeihliche. Wer so sehr hassen kann wie Schiedsrichter Fertig, der muss innig geliebt haben.
THOMAS KLEMM
Thomas Brussig: Schiedsrichter Fertig. Eine Litanei, Residenz Verlag, 2007, 92 Seiten, 12,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Diesen hasserfüllten Monolog eines Schiedsrichters, in dem in an Thomas Bernhard gemahnender Bitterkeit über Gott und die Welt, aber vor allem über den Fußball von heute lamentiert wird, hat Dieter Hildebrandt in vollen Zügen genossen. Endlich erobert ein Schriftsteller das Fußballfeld zurück, das in letzter Zeit seine "Poetisierung" nur noch durch Stadionreporter erfuhr, freut sich der Rezensent. Ob es sich bei dieser "Litanei", wie es im Untertitel heißt, um große Literatur handelt, will Hildebrandt mal dahingestellt sein lassen. Aber es ist ohne Frage ein brillanter und wunderbar böser Text, der dem Rezensenten nach eigenem Bekunden wie kein Buch vorher das "(Un)-Wesen des Fußballs" mit all seinen Abgründen und Nachtseiten aufgedeckt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH