E. Annie Proulx, die mehrfach preisgekrönte amerikanische Autorin, erzählt in ihrer herb-poetischen Sprache die Geschichte eines Mannes in den Dreißigern. Quoyle, der äußerlich wenig ansehnliche Held des Romans, hat weder Glück im Beruf noch in der Liebe. Als er wieder einmal vor dem Nichts steht, läßt er sich dazu überreden, zum Herkunftsort seiner Familie, zu der Felseninsel Neufundland im Osten Kanadas, zurückzukehren. Trotz widriger Bedingungen gelingt es ihm hier, Fuß zu fassen. Quoyle wird Reporter für die "Schiffsmeldungen" beim Lokalblatt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Der Lebensdaumen
E. Annie Proulx gibt guten Rat / Von Eberhard Rathgeb
Da ist einer ganz unten angelangt, sozusagen mit dem Lebenskahn auf Grund gelaufen. Quoyle sitzt im Kummer fest. Er ist sechsunddreißig Jahre alt; er ist geboren in Brooklyn und schlägt sich durch in Städten des Staates New York. Er ist groß, dick, unbeholfen, schüchtern und unfähig zu allem, so redet er, so reden es ihm andere ein. Quoyle mit dem Riesenkinn lebt unter der Glocke der Einsamkeit. Die anderen sind anders, und er versteht nicht, wieso. Er geht eine Weile zur Universität, jobt rum, landet als drittklassiger Redakteur bei einer drittklassigen Zeitung, nennt einen Wohnwagen sein Zuhause.
Petal Bear heißt die Frau, bei der es funkt. Die beiden lieben sich einen stürmischen Monat lang, heiraten. Sechs für Quoyle qualvolle Ehejahre schließen sich an; sie entpuppt sich als notorische Fremdgängerin. Zwei Kinder wachsen heran, von ihm bemuttert. Eines Tages sind sie weg. Die Polizei findet die beiden Mädchen nackt, auf Spülmittel rutschend, in der Wohnung eines Videokameramanns. Petal hat ihm die Töchter verkauft, ist darauf mit ihrer neuen Flamme zu anderen Ufern aufgebrochen und auf der Autobahn in den Tod gefahren.
Die Geschichte steht erst am Anfang, während dem Helden der Mut fehlt, nur einen Schritt nach vorne zu machen. Er hat seine Töchter wieder, doch er fühlt sich verraten und verloren. Da taucht eine alte Tante in Lila auf, wischt den Kummer beiseite und weist auf die Lebensversicherung als Startkapital für eine neue Zukunft hin. Sie weiß auch schon, wohin es gehen sollte. Nach Hause, zum Ursprungsort, dorthin, wo der Stamm der Quoyles seine Wurzeln hat, nach Neufundland wolle sie, solle er mit den Kindern. Der Zufall schubst Quoyle, als er erfährt, daß dort oben in Killick-Claw beim "Gammy Bird" eine Stelle als Redakteur für Schiffsmeldungen frei ist. Vom Jammertal zur Zukunft sind es über zweitausend Kilometer, weit genug.
Auf seiner Heimaterde wächst Quoyle ein grüner Daumen für das Leben. Im Windschatten der zupackenden Tante lernt er, seine beiden linken Hände zu verwenden und seinen Kopf hochzuhalten. Die Gegend entspricht seiner Statur, beide sind sie von gleichem Format. Er eckt mit seiner Art und seinem Äußeren nirgendwo mehr an, findet Aufnahme bei Menschen, die mit der Gewalt des Meeres leben. Obwohl er nicht schwimmen kann und Angst vor dem Wasser hat, kauft er sich ein Boot, er will sein Erbe antreten. Aus den Schiffsmeldungen, die ursprünglich nur aus einer Auflistung der eingelaufenen und ankerlichtenden Schiffe bestanden, macht er eine feste Kolumne über ein Schiff im Hafen, und er hat damit Erfolg. Als schließlich der Chefredakteur woanders hingeht, übernimmt Quoyle seinen Platz.
An diesem Küstenstreifen liegen Herzen auf dem rechten Fleck. Aus Fremden werden Freunde, gute Bekannte zumindest, hilfsbereit und zuversichtlich. Der Wind weht rauh, und der "Gammy Bird" berichtet regelmäßig über Autounfälle, Verbrechen und sexuellen Mißbrauch Minderjähriger. Man legt sich in die Riemen, weist sich gegenseitig auf die Untiefen und Klippen hin, und man vergrößert dadurch die Hoffnung, den Weg durch alle Widrigkeiten zu schaffen, die mit Fischereigesetzen beginnen und bei Stürmen enden. So sieht die eine Art des Lebens aus, die alte, mit der Familie im Mittelpunkt: Sterben, wo man geboren wurde, war ihr Motto. Quoyle ist zurückgekommen und wird mit offenen Armen empfangen wie ein verlorener Sohn. Andere aber gehen fort, manche sehr weit, nach Australien etwa, und bleiben dort trotz des Heimwehs; sie tauchen nur in Gesprächen auf, es sind flüchtige Gestalten.
Jack Buggit ist der Herausgeber des "Gammy Bird" und ein leidenschaftlicher Fischer. Er fährt allein hinaus, und eines Tages kommt er nicht mehr zurück. Der Seenotrettungsdienst findet ihn, im Wasser liegend, die Leine einer Hummerfalle hat sich um sein Bein gewickelt und ihn ins Meer gerissen. Man bringt ihn an Land. Eine Totenwache wird abgehalten. Mittendrin fängt der Mensch im Sarg an, sich ins Leben zurückzuhusten. Das ist für Quoyle kaum zu glauben, doch mit eigenen Augen zu sehen. Wenn das Leben mit den Trümpfen so spielt, dann scheint es ihm, Quoyle, schließlich auch möglich, noch einmal zu heiraten. Was er tun kann, weil auch ihm endlich die "Richtige" über den Weg gelaufen ist. Der Held ist am Glück angelangt und der Roman an seinem Ende.
Wenn sich alles zum Guten wendet, scheint es von Anfang an darauf angelegt worden zu sein. Die Autorin ist klug und hat vorgebaut. Der Held saß auf der ersten Seite schon tief in der Klemme, denn sein Äußeres hatte ihm einen bösen Streich gespielt, der alle anderen zum Lachen reizen mußte. Quoyle, der Quasimodo im Wohnwagen, aß einsam seine Ravioli aus der Dose und welkte dahin. Doch das Trauerblümchen wurde nicht zertreten, sondern fiel in die Fänge eines Vamps, der wider seine Natur sofort zum Altar schritt und ihm Kinder gebar. Quasimodo-Quoyle hoffte auf Liebe in ihren Armen und erntete Verachtung. Auf Seite vierzig endlich war sein Fall rundum desolat. Blümchen-Quoyle konnte nun gerettet werden, und so wurde er in Heimaterde verpflanzt. Sofort wendete sich das Blatt. Mag es am Wetter, an der frischen Luft, an der anderen Umgebung gelegen haben, die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Quasimodo schrumpfte zusammen, und zurück blieb Quoyle, ein Mann in Wort und Tat, ruhig und besonnen, guter Vater, guter Freund, guter Ehemann und ein guter Chefredakteur, der weiß, was die Leute lesen wollen.
"Schiffsmeldungen" gehört zu den Erzählungen, die Zuspruch geben sollen. Quoyle hält die Hoffnung warm, daß nicht aller Tage Abend ist, und E. Annie Proulx hat dafür Gespräche und Geschichten erfunden, erlesen und zusammengetragen, bis der Roman trotz seiner leichten Konstruktion seetüchtig war. Einiges ist Manierismus oder nur Ballast für mehr Tiefgang, so die Motti aus dem "Ashley-Buch der Knoten", so die Manie für unvollständige Sätze, gleichsam das SOS der vom Schiffbruch bedrohten Existenz. Doch das wirft keinen Schatten auf den Platz an der Sonne, den der Held an der Küste Neufundlands findet, irgendwo dort oben, wo Meer, Kälte, Sturm die Menschen zueinandertreiben und die Fische sich gute Nacht sagen.
E. Annie Proulx: "Schiffsmeldungen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Hofmann. Paul List Verlag, München 1995. 393 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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E. Annie Proulx gibt guten Rat / Von Eberhard Rathgeb
Da ist einer ganz unten angelangt, sozusagen mit dem Lebenskahn auf Grund gelaufen. Quoyle sitzt im Kummer fest. Er ist sechsunddreißig Jahre alt; er ist geboren in Brooklyn und schlägt sich durch in Städten des Staates New York. Er ist groß, dick, unbeholfen, schüchtern und unfähig zu allem, so redet er, so reden es ihm andere ein. Quoyle mit dem Riesenkinn lebt unter der Glocke der Einsamkeit. Die anderen sind anders, und er versteht nicht, wieso. Er geht eine Weile zur Universität, jobt rum, landet als drittklassiger Redakteur bei einer drittklassigen Zeitung, nennt einen Wohnwagen sein Zuhause.
Petal Bear heißt die Frau, bei der es funkt. Die beiden lieben sich einen stürmischen Monat lang, heiraten. Sechs für Quoyle qualvolle Ehejahre schließen sich an; sie entpuppt sich als notorische Fremdgängerin. Zwei Kinder wachsen heran, von ihm bemuttert. Eines Tages sind sie weg. Die Polizei findet die beiden Mädchen nackt, auf Spülmittel rutschend, in der Wohnung eines Videokameramanns. Petal hat ihm die Töchter verkauft, ist darauf mit ihrer neuen Flamme zu anderen Ufern aufgebrochen und auf der Autobahn in den Tod gefahren.
Die Geschichte steht erst am Anfang, während dem Helden der Mut fehlt, nur einen Schritt nach vorne zu machen. Er hat seine Töchter wieder, doch er fühlt sich verraten und verloren. Da taucht eine alte Tante in Lila auf, wischt den Kummer beiseite und weist auf die Lebensversicherung als Startkapital für eine neue Zukunft hin. Sie weiß auch schon, wohin es gehen sollte. Nach Hause, zum Ursprungsort, dorthin, wo der Stamm der Quoyles seine Wurzeln hat, nach Neufundland wolle sie, solle er mit den Kindern. Der Zufall schubst Quoyle, als er erfährt, daß dort oben in Killick-Claw beim "Gammy Bird" eine Stelle als Redakteur für Schiffsmeldungen frei ist. Vom Jammertal zur Zukunft sind es über zweitausend Kilometer, weit genug.
Auf seiner Heimaterde wächst Quoyle ein grüner Daumen für das Leben. Im Windschatten der zupackenden Tante lernt er, seine beiden linken Hände zu verwenden und seinen Kopf hochzuhalten. Die Gegend entspricht seiner Statur, beide sind sie von gleichem Format. Er eckt mit seiner Art und seinem Äußeren nirgendwo mehr an, findet Aufnahme bei Menschen, die mit der Gewalt des Meeres leben. Obwohl er nicht schwimmen kann und Angst vor dem Wasser hat, kauft er sich ein Boot, er will sein Erbe antreten. Aus den Schiffsmeldungen, die ursprünglich nur aus einer Auflistung der eingelaufenen und ankerlichtenden Schiffe bestanden, macht er eine feste Kolumne über ein Schiff im Hafen, und er hat damit Erfolg. Als schließlich der Chefredakteur woanders hingeht, übernimmt Quoyle seinen Platz.
An diesem Küstenstreifen liegen Herzen auf dem rechten Fleck. Aus Fremden werden Freunde, gute Bekannte zumindest, hilfsbereit und zuversichtlich. Der Wind weht rauh, und der "Gammy Bird" berichtet regelmäßig über Autounfälle, Verbrechen und sexuellen Mißbrauch Minderjähriger. Man legt sich in die Riemen, weist sich gegenseitig auf die Untiefen und Klippen hin, und man vergrößert dadurch die Hoffnung, den Weg durch alle Widrigkeiten zu schaffen, die mit Fischereigesetzen beginnen und bei Stürmen enden. So sieht die eine Art des Lebens aus, die alte, mit der Familie im Mittelpunkt: Sterben, wo man geboren wurde, war ihr Motto. Quoyle ist zurückgekommen und wird mit offenen Armen empfangen wie ein verlorener Sohn. Andere aber gehen fort, manche sehr weit, nach Australien etwa, und bleiben dort trotz des Heimwehs; sie tauchen nur in Gesprächen auf, es sind flüchtige Gestalten.
Jack Buggit ist der Herausgeber des "Gammy Bird" und ein leidenschaftlicher Fischer. Er fährt allein hinaus, und eines Tages kommt er nicht mehr zurück. Der Seenotrettungsdienst findet ihn, im Wasser liegend, die Leine einer Hummerfalle hat sich um sein Bein gewickelt und ihn ins Meer gerissen. Man bringt ihn an Land. Eine Totenwache wird abgehalten. Mittendrin fängt der Mensch im Sarg an, sich ins Leben zurückzuhusten. Das ist für Quoyle kaum zu glauben, doch mit eigenen Augen zu sehen. Wenn das Leben mit den Trümpfen so spielt, dann scheint es ihm, Quoyle, schließlich auch möglich, noch einmal zu heiraten. Was er tun kann, weil auch ihm endlich die "Richtige" über den Weg gelaufen ist. Der Held ist am Glück angelangt und der Roman an seinem Ende.
Wenn sich alles zum Guten wendet, scheint es von Anfang an darauf angelegt worden zu sein. Die Autorin ist klug und hat vorgebaut. Der Held saß auf der ersten Seite schon tief in der Klemme, denn sein Äußeres hatte ihm einen bösen Streich gespielt, der alle anderen zum Lachen reizen mußte. Quoyle, der Quasimodo im Wohnwagen, aß einsam seine Ravioli aus der Dose und welkte dahin. Doch das Trauerblümchen wurde nicht zertreten, sondern fiel in die Fänge eines Vamps, der wider seine Natur sofort zum Altar schritt und ihm Kinder gebar. Quasimodo-Quoyle hoffte auf Liebe in ihren Armen und erntete Verachtung. Auf Seite vierzig endlich war sein Fall rundum desolat. Blümchen-Quoyle konnte nun gerettet werden, und so wurde er in Heimaterde verpflanzt. Sofort wendete sich das Blatt. Mag es am Wetter, an der frischen Luft, an der anderen Umgebung gelegen haben, die Wirkung ließ nicht auf sich warten. Quasimodo schrumpfte zusammen, und zurück blieb Quoyle, ein Mann in Wort und Tat, ruhig und besonnen, guter Vater, guter Freund, guter Ehemann und ein guter Chefredakteur, der weiß, was die Leute lesen wollen.
"Schiffsmeldungen" gehört zu den Erzählungen, die Zuspruch geben sollen. Quoyle hält die Hoffnung warm, daß nicht aller Tage Abend ist, und E. Annie Proulx hat dafür Gespräche und Geschichten erfunden, erlesen und zusammengetragen, bis der Roman trotz seiner leichten Konstruktion seetüchtig war. Einiges ist Manierismus oder nur Ballast für mehr Tiefgang, so die Motti aus dem "Ashley-Buch der Knoten", so die Manie für unvollständige Sätze, gleichsam das SOS der vom Schiffbruch bedrohten Existenz. Doch das wirft keinen Schatten auf den Platz an der Sonne, den der Held an der Küste Neufundlands findet, irgendwo dort oben, wo Meer, Kälte, Sturm die Menschen zueinandertreiben und die Fische sich gute Nacht sagen.
E. Annie Proulx: "Schiffsmeldungen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Hofmann. Paul List Verlag, München 1995. 393 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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