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Erster Roman seit dem mehrfach ausgezeichneten Bestseller Tauben fliegen auf, für den Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhielt
Zoltán Kertész, blauäugiger Sohn eines »Halbzigeuners« und einer Tagelöhnerin mit ständig wechselnden Liebhabern, ist der Außenseiter in einem kleinen Ort in Serbien. Als Kind ist er dem Vater in voller Fahrt vom Motorrad gefallen, und der Bäcker, dem er die Mehlsäcke nicht schnell genug durch die Backstube schleppte, hat ihm den Kopf blutig geschlagen. Seither hat er das »Schläfenflattern«, sitzt am liebsten in seiner…mehr

Produktbeschreibung
Erster Roman seit dem mehrfach ausgezeichneten Bestseller Tauben fliegen auf, für den Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis erhielt

Zoltán Kertész, blauäugiger Sohn eines »Halbzigeuners« und einer Tagelöhnerin mit ständig wechselnden Liebhabern, ist der Außenseiter in einem kleinen Ort in Serbien. Als Kind ist er dem Vater in voller Fahrt vom Motorrad gefallen, und der Bäcker, dem er die Mehlsäcke nicht schnell genug durch die Backstube schleppte, hat ihm den Kopf blutig geschlagen. Seither hat er das »Schläfenflattern«, sitzt am liebsten in seiner Scheune und löst Kreuzworträtsel. Als 1991 der jugoslawische Bürgerkrieg ausbricht, sehen das die Eltern als Chance für den Sohn: In der Volksarmee soll der »Taugenichts«, der »Idiot« zuerst zum Mann und dann zum Helden werden. Aber Zoltán passt auch dort nicht ins System, stellt die falschen Fragen und die auch noch stotternd. Als sein einziger Freund bei einem Trainingsmarsch in derFolge sinnloser Schleiferei tot zusammenbricht, verweigert sich Zoltán endgültig einer Ordnung, die alle Macht dem Stärkeren zugesteht.

Vom sanften Widerstand der Phantasie gegen die Beschränkungen eines Systems, das nur Befehl, Gehorsam und Unterwerfung kennt, erzählt Melinda Nadj Abonji in ihrem Roman Schildkrötensoldat - in einer schwingenden, musikalischen Sprache und in eindringlichen, die Kraft des vogelwilden Denkens beschwörenden Bildern.
Autorenporträt
Nadj Abonji, MelindaMelinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej, Serbien, geboren. Anfang der siebziger Jahre übersiedelte sie mit ihrer Familie in die Schweiz. Sie lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Zürich. Für ihren Roman Tauben fliegen auf erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In "Schildkrötensoldat" berichtet die Erfolgsautorin Melinda Nadj Abonji aus zweifacher Perspektive vom Balkankrieg, so Karl-Markus Gauß. Da gibt es einmal Zoltán, der eine tragische Kindheit durchleben musste und die Realität des Krieges und der Vorbereitungen darauf so viel klarer wahrnimmt als alle anderen um ihn herum und dennoch oder vielleicht sogar genau deswegen seinen Kameraden als "nicht ganz richtig im Kopf" auffällt. Auf der anderen Seite folgt die Geschichte seiner Cousine Hanna bezeihungsweise Anna, deren Name beliebig vertauscht wird, und die hier und da betäubt von Xanax auf dem Weg zurück in ihre Heimat Jugoslawien ist, die es eigentlich nicht mehr gibt. Gauß findet zurückhaltendes Gefallen an dem zweiten Buch Abonjis, das sich zum Teil sprachlichem Balkankitsch hingibt und nicht alle Erzählstränge konsistent verbinden kann, aber dennoch emotional berührend geschrieben ist, findet der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2017

Bei uns bekommt die Moral Keuchhusten!
Suche nach einem untergegangenen Land: Melinda Nadj Abonjis neuer Roman ist ein leuchtendes Requiem

Im Sommer 1979 ist die Welt in der serbischen Provinz Vojvodina noch in Ordnung: Zoltan, der Lieblingscousin der Erzählerin, steht lachend im Hof, "verdreckt und erhaben", mit seinen leuchtend blauen Augen, in die der ganze strahlende Himmel eingeflossen sein muss. Dieser ungewöhnliche und eigensinnige Junge - die Nachbarn im Dorf nennen ihn kindisch und zurückgeblieben - ist der eindrucksvolle und liebenswerte Held in Melinda Nadj Abonjis neuem Roman "Schildkrötensoldat". In sorgsam komponierter, rhythmisch schwingender Sprache erzählt er die bedrückende, tragische und hochpolitische Lebensgeschichte eines Unangepassten, ein Schicksal, das tief mit dem Untergang des Landes Jugoslawien verbunden ist.

Eine scheue und zugleich innige Freundschaft verbindet Zoltan mit seiner in die Schweiz ausgewanderten Cousine Anna, die Zoltan wegen dessen Phantasie und Empfindsamkeit bewundert und wegen dessen Unbedingtheit auch ein bisschen fürchtet. Sein verwahrlostes Elternhaus indes besuchte sie schon als Kind ungern - es riecht hier nicht nur nach Armut und Alkohol, sondern auch nach Traurigkeit und Verderben. Zoltans Eltern trinken und prügeln, fluchen und betrügen einander. Ihr Sohn hört aufmerksam dabei zu und wiederholt flüsternd die Schimpftiraden, um sie aufzubewahren und den Wörtern eine andere, glücklichere Wahrheit abzulauschen, in ihre "glänzenden Ritzen" zu kriechen, wie er Anna erklärt.

"Schildkrötensoldat" ist der dritte Roman von Melinda Nadj Abonji, und seine Stärke liegt vor allem in der virtuosen Sprachradikalität und Kraft seiner poetischen Bilder. Sie habe nie Geschichten erzählen, sondern vor allem Sprache erfinden wollen, hat die Autorin gesagt, und für jedes ihrer Bücher sei das eine andere. Man merkt den klingenden Sätzen, raffiniert wechselnden Tempi und rhythmischen Wiederholungen an, das Abonji auch Musikerin ist und viel mit dem Ohr arbeitet - das wurde schon in ihrem Debüt, "Im Schaufenster im Frühling" (2004), deutlich. Doch anders als in ihrem preisgekrönten letzten Roman, "Tauben fliegen auf" (2010), der von den Schmerzen der Anpassung einer serbischen, in die Schweiz ausgewanderten Familie erzählte und viel Autobiographisches enthielt, sind es im neuen Buch konzentrierte und leuchtende poetische Bilder, die Handlung und Figuren tragen und in denen sich die Erinnerungen und Empfindungen der Erzählerin auflösen.

"Ich habe den Dreck . . . an meinen Fingerkuppen beobachtet, Ländereien, Schlösser, Burgen mit Zinnen, Rinnsale und Flüsse, Sumpf- und Moorlandschaften mit allerlei Tieren" - solche Beobachtungen versucht Zoltan seinen Kameraden bei der Jugoslawischen Volksarmee so vergeblich zu erklären wie seine Bewunderung für Ameisen, eine besonders anrührende Szene. Mit Beginn des Kosovo-Krieges 1991 war er zwangsrekrutiert worden, und anfangs steht er, schildkrötenartig den Kopf einziehend, wie ein reiner Tor alle Schikanen durch, ja konterkariert sie mit seinen kindlich-ernsthaften Fragen. Der Leutnant reagiert mit immer härteren Strafen, und schließlich bricht bei Zoltan Epilepsie aus, verursacht auch durch die schon als Kind erlittene Gewalt. So entgeht er dem Einsatz bei der Zerstörung Vukovars - das dortige Massaker an serbischen Zivilisten sollte ein Wendepunkt dieses Krieges werden.

Zoltan ist jedoch nicht nur ein Träumer und Phantast, sondern auch ein feiner Realist und leidenschaftlicher Gärtner, für den das Streicheln eines samtigen Lindenblatts im Frühling die schönste Berührung ist, die er sich vorstellen kann. Zu Hause in der Scheune hat er sein eigenes Welttheater aus Schneckenhäusern, Käferpanzern, Nussschalen und funkelnden Steinen gebaut, geordnet durch ein kunstvolles Fadensystem. Hierher kommt die Erzählerin nach seinem Tod, sie sucht den Anfang seines Sterbens. Und sie findet - in einer grandiosen und beklemmenden Szene - eine Rächerin, die momentweise zum verstörten Todesengel wird: Zoltans Mutter, die in ihrem Wüten und Klagen an Klytämnestra erinnert, die mörderische Königin in Sophokles' Tragödie "Elektra", die aus Verblendung und gekränkter Eitelkeit ihre Kinder opfert. Krieg und Sterben in Vukovar wetterleuchten hinter dieser Szene in einem erzählerisch klugen und überzeugenden Schlusskapitel, das sich nicht anmaßt, das Rätsel der unvermittelt ausbrechenden Gewalt zwischen Nachbarn zu lösen, und doch dieser historisch genau verorteten Gewalt hartnäckig nachspürt.

"Bei uns bekommt die Moral Keuchhusten oder weiche Knie!", schreit Zoltans Mutter, "unter diesem Himmel erschlägt uns das Schicksal, kapierst du?" Nicht nur seine schöne Sprache zeichnet das Buch aus, auch die humorvolle Leichtigkeit, mit der es Schicksalhaftes, Zufälliges und Alltägliches miteinander verbindet: ein Requiem für ein verschwundenes Land, für seine Gerüche, sein Licht, seine Menschen.

NICOLE HENNEBERG

Melinda Nadj Abondji: "Schildkrötensoldat".

Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

173 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ihr jüngstes Buch, ein bitterer und ergreifender Aufschrei gegen Krieg und Gewalt, erzählt die Geschichte eines für alles Militärische vollkommen ungeeigenten, Pflanzen, Tiere und Kreuzworträtsel liebenden sanftmütigen Tagträumers: 'Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod?' Das ist die zentrale Frage, die dieser hochpoetische und hochreflektierte Roman aufwirft.« Klaus Hübner Der Tagesspiegel 20180424