"Schilfland" ist eine persönliche Hommage an einen besonderen Ort, dessen einzige Konstante die Veränderung zu sein scheint.Das Anklamer Stadtbruch im äußersten Nordosten unserer Republik ist eines der letzten echten Wildnisgebiete Deutschlands. 1995 durch eine Sturmflut weiträumig überflutet, bekam das Gebiet die einmalige Chance, sich ohne menschliches Zutun entwickeln zu können. Entstanden ist ein Naturparadies, das geprägt ist von einer Artenvielfalt, die in Deutschland heute einzigartig ist: Seeadler, Reiher und Limikolen brüten im Bruch. Rothirsch, Biber und Fischotter durchstreifen den Schilfwald, und an warmen Sommertagen tanzen Schmetterlinge und Libellen über dem Wasser. Bis zum Horizont erstrecken sich Schilf, Wasserflächen und die bleichen Stämme ertrunkener Wälder. Das Anklamer Stadtbruch wurde im Laufe der Jahre zu einem Ort pulsierenden Lebens, an dem Biodiversität ein Zuhause gefunden hat und natürliche Zyklen ungestört ablaufen dürfen. 2018 konnte die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe das Anklamer Stadtbruch und angrenzende Bereiche erwerben und damit dieses einzigartige Gebiet dauerhaft bewahren. Die sechs Fotograf_innen Sandra Bartocha, Silko Bednarz, Volker Bohlmann, Frank Brehe, Dieter Damschen und Claudia Müller, alle Mitglieder der Gesellschaft für Naturfotografie (GDT), legen mit diesem Bildband ein intimes Porträt einer faszinierenden Landschaft mit ihrer einzigartigen Flora und Fauna vor, begleitet von den informativen und zugleich emotionalen Texten von Frank Brehe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2022Schon ziemlich lange mag es sein
Oft lernen wir erst neu zu schätzen, was zu verschwinden droht. Das erklärt vermutlich die anhaltende Konjunktur des sogenannten "nature writing". "Schilfland" leistet nun fotografisch, was immer mehr Autoren mit der Kraft ihrer Worte versuchen: die Beschwörung der Schönheiten und Eigentümlichkeiten einer Natur, die nicht bloß als Objekt menschlicher Interessen in den Blick genommen wird. Der vorliegende Band bietet folglich nicht weniger die dokumentarische Erschließung und Erforschung einer regionalen Landschaft als pure Poesie. Wer diese Bilder eingehend betrachtet, ist zunächst verblüfft, dann verzaubert. Man könnte auch sagen: irritiert. Denn das Anklamer Stadtbruch legt Zeugnis ab von gewaltigen Veränderungen, die hier in erdgeschichtlich kurzer Zeit in häufigem Wechsel stattfanden. Am Ende der Weichsel-Kaltzeit vor fünfzehntausend Jahren, als die etwa tausend Meter starken Eispanzer in kurzer Zeit abschmolzen, lag der Wasserspiegel im Nordosten Deutschlands dreißig Meter über dem heutigen Niveau. Eine riesige Seen- und Hafflandschaft war die Folge. Es kam zur invasiven Neuansiedlung von Vegetation, später zur Bildung von Moorlandschaften, die seit einem Erlass von Friedrich II. im Jahr 1750 allmählich und bis in die DDR-Zeit trockengelegt wurden. Das Anklamer Bruch in der heutigen Form aber ist das Ergebnis einer Naturkatastrophe, einer Springflut 1995, die zu neuerlichen Wassereinbrüchen führte, die dann belassen wurden. Spätestens seit die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe das Stadtbruch 2018 erwarb, entstand dort eine "dynamische Wildnis", deren konkreter Formenreichtum die lichtdurchflutet filigranen Farbfotos dominiert. Natürlich spielt das Schilfgras des Titels eine bedeutende Rolle. Es breitet sich am Übergang von Wasser und Land aus und bietet zahlreichen Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum. Die Fotos zeigen aber auch vermoderndes Totholz, eine erstaunliche Fülle diverser Blüten, vitale Birken und faszinierende Landschaften, deren geometrische Strukturen durch insulare Moorformationen be-stimmt werden: ein Stück unerwarteter Wildnis in Deutschland, das hier zum Gegenstand eines ästhetischen Experiments wird. lem
"Schilfland" von Sandra Bartocha, Silko
Bednarz, Volker Bohlmann, Dieter Damschen und Claudia Müller (Fotos) sowie Frank Brehe (Texte). Tecklenborg Verlag, Steinfurt 2021. 112 Seiten, 75 Abbildungen. Gebunden, 29,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Oft lernen wir erst neu zu schätzen, was zu verschwinden droht. Das erklärt vermutlich die anhaltende Konjunktur des sogenannten "nature writing". "Schilfland" leistet nun fotografisch, was immer mehr Autoren mit der Kraft ihrer Worte versuchen: die Beschwörung der Schönheiten und Eigentümlichkeiten einer Natur, die nicht bloß als Objekt menschlicher Interessen in den Blick genommen wird. Der vorliegende Band bietet folglich nicht weniger die dokumentarische Erschließung und Erforschung einer regionalen Landschaft als pure Poesie. Wer diese Bilder eingehend betrachtet, ist zunächst verblüfft, dann verzaubert. Man könnte auch sagen: irritiert. Denn das Anklamer Stadtbruch legt Zeugnis ab von gewaltigen Veränderungen, die hier in erdgeschichtlich kurzer Zeit in häufigem Wechsel stattfanden. Am Ende der Weichsel-Kaltzeit vor fünfzehntausend Jahren, als die etwa tausend Meter starken Eispanzer in kurzer Zeit abschmolzen, lag der Wasserspiegel im Nordosten Deutschlands dreißig Meter über dem heutigen Niveau. Eine riesige Seen- und Hafflandschaft war die Folge. Es kam zur invasiven Neuansiedlung von Vegetation, später zur Bildung von Moorlandschaften, die seit einem Erlass von Friedrich II. im Jahr 1750 allmählich und bis in die DDR-Zeit trockengelegt wurden. Das Anklamer Bruch in der heutigen Form aber ist das Ergebnis einer Naturkatastrophe, einer Springflut 1995, die zu neuerlichen Wassereinbrüchen führte, die dann belassen wurden. Spätestens seit die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe das Stadtbruch 2018 erwarb, entstand dort eine "dynamische Wildnis", deren konkreter Formenreichtum die lichtdurchflutet filigranen Farbfotos dominiert. Natürlich spielt das Schilfgras des Titels eine bedeutende Rolle. Es breitet sich am Übergang von Wasser und Land aus und bietet zahlreichen Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum. Die Fotos zeigen aber auch vermoderndes Totholz, eine erstaunliche Fülle diverser Blüten, vitale Birken und faszinierende Landschaften, deren geometrische Strukturen durch insulare Moorformationen be-stimmt werden: ein Stück unerwarteter Wildnis in Deutschland, das hier zum Gegenstand eines ästhetischen Experiments wird. lem
"Schilfland" von Sandra Bartocha, Silko
Bednarz, Volker Bohlmann, Dieter Damschen und Claudia Müller (Fotos) sowie Frank Brehe (Texte). Tecklenborg Verlag, Steinfurt 2021. 112 Seiten, 75 Abbildungen. Gebunden, 29,50 Euro.
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