Marktplatzangebote
32 Angebote ab € 1,35 €
  • Broschiertes Buch

Goethe, 14.November 1781 " ... behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt." 4. August 1803: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen." Frühjahr 1807: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen." 27.September 1826: "Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." Von dem angeblichen…mehr

Produktbeschreibung
Goethe, 14.November 1781 " ... behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt." 4. August 1803: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen." Frühjahr 1807: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen." 27.September 1826: "Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." Von dem angeblichen Giftmord, den die Freimaurer 1805 mit Wissen Goethes an Schiller verübten, bis zu der 1945 vom flüchtenden Gauleiter befohlenen, im letzten Augenblick noch verhinderten Sprengung seines Sarkophags und weiter bis in unsere Tage folgt die abenteuerliche Geschichte des (vermeintlichen) Schillerschen Schädels dem Strukturmodell des christlichen Heiligen- und Reliquienkultes. 1826 hat sich Goethe den Sc hädel des Freundes insgeheim ins eigene Haus bringen lassen. In der Nacht darauf entstand das letzte seiner großen naturphilosophischen Altersgedichte. Lebenslang mit anatomisch-osteologischen Studien befaßt, behandelt er hier die "Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt". Hier findet er seine Formel "Gott-Natur". Hier bewahrheitet sich seine Maxime: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2002

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückt!
Literaturwissenschaft als Kunst: Mit Goethe beugt sich Albrecht Schöne über Schillers Schädel

Albrecht Schönes Essay ist Germanistik vom Feinsten, Literaturwissenschaft als Kunst. Den Jungen, die ihre Themen oft rupfen, quälen und quetschen, bis die so Geschundenen ein wenig Saft absondern, zeigt der Altmeister, wie man ein weithin bekanntes Gedicht so auffrischen kann, daß es sprudelnd lebt und Leben schenkt. Alles fügt sich hier glücklich: ein fesselnder Gegenstand, lückenlose Kenntnisse, unaufdringliche Eleganz des Stils, Geschick in der Anordnung der Materien, ein fast triumphales Zusammenfinden aller Linien am Schluß, als sich die Schädellehre und die Schlacht von Murten, Dantes Paradiso und der Zwischenkieferknochen, Spinoza und die Unsterblichkeit ineinander verschlingen zum großen Zusammenhang des Seins. Hier wird ein Gedicht nicht dekonstruiert, bis nur noch befremdliche Splitter bleiben, sondern es wird aufgebaut aus allem, was auf es einwirkte, so daß ein großer Resonanzraum entsteht, der am Schluß jedes Wort und jede Zeile volltönend klingen läßt.

Aus den mephitischen Dünsten des Makabren steigt Schöne in immer reinere Lüfte auf. Was im Moderduft zerborstener Särge im Weimarer Kassengewölbe beginnt, endet im Sonnenlicht der Gott-Natur oder, um Goethes Schreibweise exakt abzubilden, der Formel "Gott=Natur". Anfang, Ziel und Mittelpunkt des Buches ist das 1826 entstandene Gedicht "Im ernsten Beinhaus war's wo ich beschaute", dem Johann Peter Eckermann später den Titel "Bei der Betrachtung von Schillers Schädel" gab.

Wie es kam, daß Goethe den (vermeintlichen) Schädel des 1805 verstorbenen Freundes fast ein Jahr lang bei sich zu Hause hatte, die ganze abenteuerliche Geschichte von Schillers unfeierlicher Bestattung in einer Massengruft, von der mühseligen Herausklaubung seiner mutmaßlichen Gebeine zwanzig Jahre später aus einem Wust schimmelnder Särge und verwesender Leichen, von der wundersamen Identifikation des "richtigen" aus 23 zur Wahl stehenden Schädeln durch eine Bürgermeister Schwabe zuteil gewordene jähe Erleuchtung ("Das muß Schillers Schädel sein!"), die diversen Aufenthalte des fraglichen Schädels bis zu seiner Bestattung in der Fürstengruft 1827, wo sich 1832 auch die Exuvien Goethes einfanden, die zweite Ausräumung des Kassengewölbes 1883, die einen zweiten Schiller zutage brachte, die Angst, alle beide möchten unecht sein, die Auslagerung und Beinahevernichtung 1945 und die treue, vom Westen her gleichwohl bis in unsere Tage diffamierte Bewahrung der Reliquien in der DDR-Zeit - das alles macht, sorgfältig recherchiert und fesselnd erzählt, den ersten Teil des Buches aus. Am Rande erfährt man, daß Goethes Sarg einst von Unbekannten aufgebrochen worden und seitdem undicht war, daß bei seiner 1970 vorgenommenen Öffnung das Gesicht des großen Toten von Hunderten von Fliegenlarven bedeckt war, die nur Augen und Mund freiließen, so daß es aussah wie ein von Miesmuscheln übersätes Stück Strandholz, daß das Gebein deshalb im Weimarer Museum für Ur- und Frühgeschichte "mazeriert", also gereinigt wurde, was im Westen polemisch als Präparation à la Lenin-Mausoleum verdächtigt wurde, als hätte man Goethe zum sozialistischen Heiligen machen wollen. Daß freilich die ganze Geschichte Züge einer protestantisch-profanen Mutation der alten katholischen Reliquienkulte aufweist, daran läßt Schöne keinen Zweifel.

Was veranlaßte Goethe, der doch sonst dem Tod und seinen Zeichen aus dem Wege ging, wo immer er konnte, zu der düsteren Idee, den Schädel des Freundes fast ein Jahr lang bei sich zu Hause aufzubewahren und zu betrachten? Nicht das schaurige Memento mori war's. Er war kein Hieronymus im Gehäus, kein Hamlet vor Yoricks Schädel. Es ging viel banaler zu: Goethe trieb osteologische Studien. Der Geist forme sich den Schädel, so hatte er bei dem Phrenologen Franz Joseph Gall gelernt, und hatte ergriffen und erschüttert die Buckel und Einbuchtungen des mutmaßlichen Gefäßes abgefühlt, in dem einst der "Wallenstein" erdacht worden sein mußte. Außerdem suchte und fand er auch an "Schillers Schädel" das os intermaxillare, jenen Zwischenkieferknochen, der für ihn lange vor Darwin den Zusammenhang von Menschen- und Tierwelt bewies. Die Natur macht keine Sprünge. "Sie könnte zum Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen, auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes heransteigt." Ein paar Sprossen weiter ist dann der Mensch zu finden. Vielleicht ist er auf Dauer gar nicht das Höchste. Es sei wahrscheinlich, so berichtet Charlotte von Stein über Goethes Studien, "daß wir erst Pflanzen und Tiere waren; was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wird uns wohl unbekannt bleiben".

Anders als der Vulgärdarwinismus von heute wollte Goethe den Menschen nicht reduktionistisch auf den Affen zurückführen, sondern umgekehrt die triumphale Aufstiegsbewegung beweisen, die "gottgedachte Spur", die vom urzeugerischen, gestaltenwimmelnden Meer zum Menschen führt und bei ihm nicht zu enden braucht. Deshalb las er aus Schillers Schädel: "Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! / Der Blick, der Mich an jenes Meer entrückte / Das flutend strömt gesteigerte Gestalten."

Goethes Religiosität wird von Albrecht Schöne ernst genommen wie in der Goethe-Forschung schon lange nicht mehr. Des frommen Heiden Pantheismus erscheint als kräftige Lebensart, nicht als Verwässerung des Christentums. In allen vier Evangelien, so sagte Goethe zu Eckermann kurz vor seinem Tode, sei "der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen? so sage ich: Durchaus! - Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. - Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren? so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns. Fragt man mich aber, ob ich geneigt sei, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu bücken? so sage ich: Verschont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten vom Leibe!"

Albrecht Schöne: "Schillers Schädel". Verlag C. H. Beck, München 2002. 110 S., br., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Abhandlung des emeritierten Göttinger Literaturwissenschaftlers Albrecht Schöne über Goethes Interesse am Totenschädel Schillers ist für Ina Hartwig "ein betörendes philologisches Kabinettstück". Dabei gehe es dem Goethe-Kenner aber nicht nur um Schillers Schädel, der während seiner langen Irrfahrt auch ein halbes Jahr in Goethes Haus verweilte, sondern um Dichtung, im besonderen um Goethes "Terzinen-Gedicht" "Im ernsten Beinhaus war's wo ich beschaute", informiert die Rezensentin - nach Schöne "das letzte der großen naturphilosophischen Altersgedichte" des Meisters. Darüber hinaus aber halte Schöne auch noch, verspricht Hartwig, für ganz unterschiedliche Leserinteressen und -neigungen eine "schwindelerregende" Werkgenese bereit: Ostelogen und Phrenologen, Sittenkundler und "Schauerromantiker", Göttinger und Weimarer "Lokalpatrioten" kämen hier voll auf ihre Kosten. An dem Band hat die Rezensentin aber auch gar nichts auszusetzen: "Wunderbar klar und leichthändig", "gelehrt" und "scharfzüngig" habe sich der "Göttinger Emeritus" auf eine spannende und überaus lesenswerte Spurensuche begeben, lobt Hartwig.

© Perlentaucher Medien GmbH
'Albrecht Schönes Essay ist Germanistik vom Feinsten, Literaturwissenschaft als Kunst.' Hermann Kurzke, Frankfurter Allgemeine Zeitung

'... ein betörendes philologisches Kabinettstück.' Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau