Produktdetails
- Fischer Taschenbücher
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- Gewicht: 265g
- ISBN-13: 9783596220861
- ISBN-10: 3596220866
- Artikelnr.: 24587263
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2009Leben von hinten gelesen ist Nebel
Zwanzig Jahre nach Hermann Burgers Selbstmord erscheint „Schilten” erneut
Hermann Burger, der sich vor genau zwanzig Jahren, am 28. Februar 1989, das Leben genommen hat, galt als Genie und Enfant terrible: Kurz vor seinem Tod machte er Schlagzeilen dadurch, dass er vom S. Fischer-Verlag, der ihm keinen neuen Ferrari als „Dienstwagen” zur Verfügung stellen wollte, schnell noch zu dem ein paar hundert Meter weiter liegenden Suhrkamp Verlag wechselte. Die manischen und die depressiven Phasen zeigten immer heftigere Züge; seinen Selbstmord nahm er erzählerisch wie essayistisch mehrfach vorweg. Der Verlag Nagel & Kimche legt jetzt in seiner Kollektion Schweizer Hauptwerke Hermann Burgers Romandebüt „Schilten” aus dem Jahr 1976 noch einmal auf, ein ungeheures Meisterstück, eine sprachliche Vollkommenheitsmaschine, und im Wissen um den weiteren Fortgang liest man diesen Roman jetzt mit der Erkenntnis: Diese Art von Schreiben endet tödlich.
Burger, geboren 1942, entstammte der Schweizer Zigarren-Dynastie Villiger und Burger, einer Familie von Fabrikanten im Aargau, und seine Literatur scheint dieses Motiv des Fabrizierenkönnens und -müssens immer wieder aufzunehmen. Es ist eine Überwältigungs-, Übertrumpfungs- und Überbietungsliteratur, geschult an den intensiv betriebenen linguistischen Verfahren seiner Zeit. Hermann Burger, der von dem Züricher Germanisten-Doyen Emil Staiger promoviert wurde, nahm die Sprache als Register und spielte alle Variationsmöglichkeiten durch. Dabei bediente er sich am liebsten der Permutationstechnik, des Vertauschens von Buchstaben, Silben und Wörtern. Die Handlung von „Schilten” könnte man knapp so zusammenfassen, dass „Leben” von hinten gelesen „Nebel” ergibt. Burger gewinnt diesem Phänomen ungeheure sprachliche Auf- und Abschwünge ab, eine spektakuläre Abfolge artistischer Attraktionen.
Im Mittelpunkt von „Schilten” steht die sprachliche Suada des Dorfschullehrers Armin Schildknecht, der seinen Schaffensbericht an den für ihn zuständigen Inspektor schreibt. Dieser Inspektor ist nie bis nach Schilten durchgedrungen, weitab gelegen hinten im Schilttal, von Aarau über die schwer zugängliche Leintal-Murbental-Bahn nach Schöllanden zu erreichen, mit dem Bus von Innerschilten und Außerschilten hinauf nach Aberschilten. Das Schilttal ist ein „Stumpen- und Sacktal”, hier hört alles auf, und der Stumpen als der Burgerfamilie zugehöriges Handelsprodukt ist hier in die entsprechende topographische Lage überführt; es handelt sich um ein Tal „mit der Schönheit einer topographischen Totenmaske”. Der Dorfschullehrer hebt im Orgelton an zu sprechen und hält diesen Ton fast vierhundert Seiten lang durch. Die Schule und der Friedhof, das ist der Kern seiner Erzählung, liegen eng benachbart, die Turnhalle ist gleichzeitig auch der Ort der Totenfeier, der Tod hat das Leben längst überwölbt.
Diese Vision des Schweizer Urdorfs als Todeszone hat etwas Elementares, und Armin Schildknecht steigert sich in einen Sprach- und Evokationsrausch hinein, in dem Leben und Tod untrennbar ineinander übergehen. Der Roman verwischt dabei auf unnachvollziehbare Weise auch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Die genaue, pedantische Beschreibung der kleinsten Details entwickelt eine Hyperrealität. Durch konkrete, wiedererkennbare Häuser und Landschaften – im Aargauer Hinterland, vor allem in Schiltwald, fühlten sich die Bewohner durch Burgers Roman gemeint und reagierten mit wütenden Attacken – erzeugt der Roman filmische Klarheit. Gleichzeitig wird dies aber als literarische Arbeit am Mythos kenntlich.
„Schilten” ist ein Sprach-Exerzitium. Armin Schildknecht geht den grotesken und weit verzweigten Fehlplanungen beim Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert genauso nach wie dem grundsätzlichen Streit im Lager der Harmonium-Freunde: Saugluft oder Druckluft, und sein Orgelspiel bei den Begräbnisritualen wird zu einem ausschweifenden, barocken Wortgemälde. Er findet in seinen Variationen „Turnhalle 1” und „Turnhalle 2” Verben für jedes Sportgerät, die Orgel bringt alles zum Beben, Pferd und Barren und Boden: die Reckträger schlockern, das Tau schlingert, die Sprossenwand ächzt. Und die Materialsammlung, die alles umfasst, was überhaupt denkbar ist und die geradezu manisch angelegt worden sein muss, wird konsequent zu Ende gebracht: „und die Rundlaufspinne würde rotieren, gäbe es hier eine Rundlaufspinne”. Langsam kann der Leser bei Schildknecht die Entstehung eines Wahnsystems verfolgen, das aus in sich schlüssigen Einzelteilen entsteht. Es ist eine Art von Schweizer Realismus: Vernunft und Vernunft bringen, immer akribischer aufeinandergehäuft, Irrsinn hervor. Schildknecht fasst sein Programm luzide zusammen: „Überhaupt übertreibe ich nicht so viel. Das exorbitante Moment ergibt sich zwangsläufig aus der additiven Reihung von Fakten, die miteinander um ihre Faktizität wetteifern.”
Der Ortsteil „Aberschilten”, in dem sich das alles zuträgt, entspricht dem Aberwitz. Die Handlung besteht einzig und allein aus Sprache. Langsam wird klar, dass die Schulstunden, von denen Schildknecht spricht, die ganzen Einheiten, in denen Scheintote überführt und Verschollene erkannt werden, wie sie im dichten Winternebel in die Todeszone eingetreten sind – dass die gesamten Szenarien der ausschweifenden Schildknechtschen Didaktik vor leeren Bänken stattfinden. Er ist schon länger vom Dienst suspendiert worden und nähert sich dem Idealzustand des Lehrers an, nämlich ohne Schüler zu unterrichten.
Hermann Burger ist offenkundig von Thomas Bernhard beeinflusst, und er hat einmal erzählt, wie er Thomas Bernhard eines Tages besuchen wollte: Er sei vor der Tür gestanden, Bernhard habe geöffnet, ihn gesehen und die Tür wieder zugeschlagen, dabei sei ihm, Burger, die Hand gequetscht worden. Es spielt keine Rolle, ob diese Geschichte wirklich stimmt. Der Verdacht aber erhärtet sich, dass die Verstiegenheit, die Burger anhand seines „Scholarchen” Armin Schildknecht vorführt, eine spezifisch schweizerische ist und sich von der Bernhard-Rhetorik entfernt. Der monumental aufrauschende Orgelton von „Schilten” besagt mit jedem neuen Ansatz, dass hier jemand um sein Leben schreibt. Die Wortgewalt, die enzyklopädische Besessenheit entspringen nicht den l’art pour l’art-Welten eines Virtuosen, sondern sie sprechen von Verzweiflung. Diese Sprache ist radikal geschieden von allen kreatürlichen Erscheinungsformen des Lebens, sie ist Paradies und Hölle in einem. HELMUT BÖTTIGER
HERMANN BURGER: Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman. Mit einem Nachwort von Thomas Strässle. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2009. 409 Seiten, 24,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Zwanzig Jahre nach Hermann Burgers Selbstmord erscheint „Schilten” erneut
Hermann Burger, der sich vor genau zwanzig Jahren, am 28. Februar 1989, das Leben genommen hat, galt als Genie und Enfant terrible: Kurz vor seinem Tod machte er Schlagzeilen dadurch, dass er vom S. Fischer-Verlag, der ihm keinen neuen Ferrari als „Dienstwagen” zur Verfügung stellen wollte, schnell noch zu dem ein paar hundert Meter weiter liegenden Suhrkamp Verlag wechselte. Die manischen und die depressiven Phasen zeigten immer heftigere Züge; seinen Selbstmord nahm er erzählerisch wie essayistisch mehrfach vorweg. Der Verlag Nagel & Kimche legt jetzt in seiner Kollektion Schweizer Hauptwerke Hermann Burgers Romandebüt „Schilten” aus dem Jahr 1976 noch einmal auf, ein ungeheures Meisterstück, eine sprachliche Vollkommenheitsmaschine, und im Wissen um den weiteren Fortgang liest man diesen Roman jetzt mit der Erkenntnis: Diese Art von Schreiben endet tödlich.
Burger, geboren 1942, entstammte der Schweizer Zigarren-Dynastie Villiger und Burger, einer Familie von Fabrikanten im Aargau, und seine Literatur scheint dieses Motiv des Fabrizierenkönnens und -müssens immer wieder aufzunehmen. Es ist eine Überwältigungs-, Übertrumpfungs- und Überbietungsliteratur, geschult an den intensiv betriebenen linguistischen Verfahren seiner Zeit. Hermann Burger, der von dem Züricher Germanisten-Doyen Emil Staiger promoviert wurde, nahm die Sprache als Register und spielte alle Variationsmöglichkeiten durch. Dabei bediente er sich am liebsten der Permutationstechnik, des Vertauschens von Buchstaben, Silben und Wörtern. Die Handlung von „Schilten” könnte man knapp so zusammenfassen, dass „Leben” von hinten gelesen „Nebel” ergibt. Burger gewinnt diesem Phänomen ungeheure sprachliche Auf- und Abschwünge ab, eine spektakuläre Abfolge artistischer Attraktionen.
Im Mittelpunkt von „Schilten” steht die sprachliche Suada des Dorfschullehrers Armin Schildknecht, der seinen Schaffensbericht an den für ihn zuständigen Inspektor schreibt. Dieser Inspektor ist nie bis nach Schilten durchgedrungen, weitab gelegen hinten im Schilttal, von Aarau über die schwer zugängliche Leintal-Murbental-Bahn nach Schöllanden zu erreichen, mit dem Bus von Innerschilten und Außerschilten hinauf nach Aberschilten. Das Schilttal ist ein „Stumpen- und Sacktal”, hier hört alles auf, und der Stumpen als der Burgerfamilie zugehöriges Handelsprodukt ist hier in die entsprechende topographische Lage überführt; es handelt sich um ein Tal „mit der Schönheit einer topographischen Totenmaske”. Der Dorfschullehrer hebt im Orgelton an zu sprechen und hält diesen Ton fast vierhundert Seiten lang durch. Die Schule und der Friedhof, das ist der Kern seiner Erzählung, liegen eng benachbart, die Turnhalle ist gleichzeitig auch der Ort der Totenfeier, der Tod hat das Leben längst überwölbt.
Diese Vision des Schweizer Urdorfs als Todeszone hat etwas Elementares, und Armin Schildknecht steigert sich in einen Sprach- und Evokationsrausch hinein, in dem Leben und Tod untrennbar ineinander übergehen. Der Roman verwischt dabei auf unnachvollziehbare Weise auch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Die genaue, pedantische Beschreibung der kleinsten Details entwickelt eine Hyperrealität. Durch konkrete, wiedererkennbare Häuser und Landschaften – im Aargauer Hinterland, vor allem in Schiltwald, fühlten sich die Bewohner durch Burgers Roman gemeint und reagierten mit wütenden Attacken – erzeugt der Roman filmische Klarheit. Gleichzeitig wird dies aber als literarische Arbeit am Mythos kenntlich.
„Schilten” ist ein Sprach-Exerzitium. Armin Schildknecht geht den grotesken und weit verzweigten Fehlplanungen beim Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert genauso nach wie dem grundsätzlichen Streit im Lager der Harmonium-Freunde: Saugluft oder Druckluft, und sein Orgelspiel bei den Begräbnisritualen wird zu einem ausschweifenden, barocken Wortgemälde. Er findet in seinen Variationen „Turnhalle 1” und „Turnhalle 2” Verben für jedes Sportgerät, die Orgel bringt alles zum Beben, Pferd und Barren und Boden: die Reckträger schlockern, das Tau schlingert, die Sprossenwand ächzt. Und die Materialsammlung, die alles umfasst, was überhaupt denkbar ist und die geradezu manisch angelegt worden sein muss, wird konsequent zu Ende gebracht: „und die Rundlaufspinne würde rotieren, gäbe es hier eine Rundlaufspinne”. Langsam kann der Leser bei Schildknecht die Entstehung eines Wahnsystems verfolgen, das aus in sich schlüssigen Einzelteilen entsteht. Es ist eine Art von Schweizer Realismus: Vernunft und Vernunft bringen, immer akribischer aufeinandergehäuft, Irrsinn hervor. Schildknecht fasst sein Programm luzide zusammen: „Überhaupt übertreibe ich nicht so viel. Das exorbitante Moment ergibt sich zwangsläufig aus der additiven Reihung von Fakten, die miteinander um ihre Faktizität wetteifern.”
Der Ortsteil „Aberschilten”, in dem sich das alles zuträgt, entspricht dem Aberwitz. Die Handlung besteht einzig und allein aus Sprache. Langsam wird klar, dass die Schulstunden, von denen Schildknecht spricht, die ganzen Einheiten, in denen Scheintote überführt und Verschollene erkannt werden, wie sie im dichten Winternebel in die Todeszone eingetreten sind – dass die gesamten Szenarien der ausschweifenden Schildknechtschen Didaktik vor leeren Bänken stattfinden. Er ist schon länger vom Dienst suspendiert worden und nähert sich dem Idealzustand des Lehrers an, nämlich ohne Schüler zu unterrichten.
Hermann Burger ist offenkundig von Thomas Bernhard beeinflusst, und er hat einmal erzählt, wie er Thomas Bernhard eines Tages besuchen wollte: Er sei vor der Tür gestanden, Bernhard habe geöffnet, ihn gesehen und die Tür wieder zugeschlagen, dabei sei ihm, Burger, die Hand gequetscht worden. Es spielt keine Rolle, ob diese Geschichte wirklich stimmt. Der Verdacht aber erhärtet sich, dass die Verstiegenheit, die Burger anhand seines „Scholarchen” Armin Schildknecht vorführt, eine spezifisch schweizerische ist und sich von der Bernhard-Rhetorik entfernt. Der monumental aufrauschende Orgelton von „Schilten” besagt mit jedem neuen Ansatz, dass hier jemand um sein Leben schreibt. Die Wortgewalt, die enzyklopädische Besessenheit entspringen nicht den l’art pour l’art-Welten eines Virtuosen, sondern sie sprechen von Verzweiflung. Diese Sprache ist radikal geschieden von allen kreatürlichen Erscheinungsformen des Lebens, sie ist Paradies und Hölle in einem. HELMUT BÖTTIGER
HERMANN BURGER: Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman. Mit einem Nachwort von Thomas Strässle. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2009. 409 Seiten, 24,90 Euro.
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»Das ist eines der wichtigsten und witzigsten Bücher der neueren Schweizer Literatur!« Thomas Strässle SRF Literaturclub 20241112