Unter dem Künstlernamen Armin Schildknecht arbeitet der 30-jährige Peter Stirner im abgelegenen Dorf Schilten im Kanton Aargau als Lehrer. Allerdings unterrichtet er längst nicht mehr das, was der Lehrplan vorsieht. Der nahe gelegene Friedhof bestimmt das Thema: Todeskunde. In seinem Debüt von 1976, einem der wichtigsten Romane der Nachkriegszeit in der Schweiz und nun in der Kollektion endlich wieder zugänglich, zeichnet Hermann Burger minutiös eine Obsession und dabei so subtil wie gnadenlos die Psyche eines ganzen Landes.
Als Hermann Burgers "Schilten" vor mehr als dreißig Jahren erschien, waren die Reaktionen ambivalent. Einerseits kam man nicht darum herum, dem sprachbesessenen Schriftsteller für seinen Erstling Respekt zu zollen, den skurrilen Erfindungsreichtum zu loben, die überschäumende Imaginationskraft zu bewundern, die verbale Präzisionsarbeit zu preisen. Andererseits wurde diese Anerkennung von kleinlichen Einwürfen und selbstgerechten Mäkeleien relativiert. Verlor sich die obsessive Beschreibungswut nicht in nichtssagenden Details? Kam nicht der Germanist dem Schriftsteller in die Quere? Zwar, so gestand man dem damals vierunddreißigjährigen Burger zu, half die von pulsierendem Rhythmus getragene Sprache über manche Klippe hinweg. Ein Rezensent aber resümierte pikiert: "Ob das genügt?" Es genügt, kann man aus heutiger Sicht und im Vergleich zur übrigen Schweizer Literatur sagen. Hermann Burgers Romandebüt, das Maß an Franz Kafka und Thomas Bernhard nahm, steht immer noch singulär in der deutschsprachigen Literaturlandschaft und überragt Romane von Zeitgenossen an verblüffender Originalität und störrischer Eigenwilligkeit. Jetzt ist der pedantische Rechenschaftsbericht des Dorfpädagogen, der die Lebenskunde mit der Todesphilosophie verwechselt und in hinterlistigen Volten zur Erkenntnis führt, dass die Phänomene des Lebens vor der Erkenntnis seiner Endlichkeit nichtig sind, wieder zugänglich. Der Germanist Thomas Strässle hat zur Neuauflage ein artiges Nachwort beigesteuert, das man sich angesichts der grandios sprachspielerischen Qualitäten dieses Werkes etwas blitzender und phantasievoller gewünscht hätte. (Hermann Burger: "Schilten". Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman. Mit einem Nachwort von Thomas Strässle. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2009. 410 S., geb., 24,90 [Euro].) pire
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Peer Teuwsen begrüßt es außerordentlich, dass dieser Roman von 1976 nun wieder lieferbar ist, dessen Autor Hermann Burger er als Schweizer Version eines Thomas Bernhard vorstellt. Denn aus Teuwsens Sicht handelt es sich bei dieser "Brandrede gegen die Obrigkeit" nicht nur um ein "präzises Dokument des Wahnsinns", sondern auch um ein beispielloses Stück Schweizer Literatur - ja: eines ihrer "witzigsten und wichtigsten" Bücher. Brandredner, also Protagonist des Romans, sei ein Lehrer, der - in einem leeren Schulhaus gefangen - einen wütenden Monolog gegen seinen Schulinspektor liefere. Dieser sei auch als Hilferuf eines Pädagogen zu lesen - und aus Teuwsens heutiger Sicht sogar als ziemlich prophetischer. Was Burger Buch auch heute noch für den Rezensenten zum Ereignis macht, ist die Tatsache, dass hier jemand sein Anschauungsmaterial für große Literatur in der Enge findet, der er eine "im wahrsten Sinne irrwitzige Sprache" entgegenhält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das ist eines der wichtigsten und witzigsten Bücher der neueren Schweizer Literatur!« Thomas Strässle SRF Literaturclub 20241112