Das Angebot des "Führers" an den 18-jährigen Baldur von Schirach ist verlockend: "Solche jungen Männer braucht die Partei, braucht Deutschland!" Der angehende Student der Germanistik und Kunstgeschichte kann diesem Ruf Hitlers nicht widerstehen, es beginnt eine steile Karriere.1930 wird er zum Reichsjugendführer ernannt, als treuer Paladin seines Herrn schwört er die "Hitlerjugend" auf die "braune Revolution" ein. Er träumt von einem faschistischen Europa unter deutscher Führung und lässt als Gauleiter von Wien die jüdische Bevölkerung in die Todeslager deportieren.1946 wird Baldur von Schirach, inzwischen Vater von vier Kindern, in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Seine Familie muss mit den düsteren Schatten der NS-Verstrickungen leben ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2021Mit Pathos für den Führermythos
Oliver Rathkolb legt eine Biographie von Baldur von Schirach vor
Baldur von Schirach ist als Führer der HJ, der Hitlerjugend, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert. Weniger bekannt ist er als dichtender Schöngeist, mit starker Neigung zum Pathos. Der 1907 geborene Schirach entstammte dem adlig-rechtsbürgerlichen Milieu der Stadt Weimar. Von seinem Vater, Garde-Rittmeister und Intendant des städtischen Nationaltheaters, lernte er die deutschnationale Einstellung. In einem Knabeninternat erzogen, kam er auch früh mit dem Prinzip jugendlicher Selbstführung und -verwaltung in Kontakt. In der "Knappenschaft" verband der marschierende Heranwachsende völkische Gesinnung mit sozialem Militarismus. Bereits in jungen Jahren las sich Schirach zudem in antisemitischer Literatur ein. Von den Werken des Schriftstellers und völkischen Kulturpolitikers Adolf Bartels wurde er ebenso beeinflusst wie von dem "Bayreuther Denker" Houston Stewart Chamberlain, einem deutsch-britischen Populärwissenschaftler und Rassisten. Auch Henry Fords Buch "Der internationale Jude" (1922) prägte ihn: "Ich las es und wurde Antisemit", behauptete er später.
Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb hat nun eine quellennahe Biographie vorgelegt, die das Bild eines umtriebigen Antisemiten vermittelt, der sich in der Pose des zivilisierten und großzügigen Nazi-Mäzens gefiel. Schon der Siebzehnjährige Gymnasiast begegnete Hitler bei dessen erster Weimarer Rede. Schirach bewachte die Unterkunft, in der sich Hitler zwischen zwei Auftritten ausruhte. Als der Parteiführer dann auch noch in der elterlichen Villa zum Tee erschienen war, kannte die Verehrung keine Grenzen mehr.
Schirach trat gleich mit Erreichen der Volljährigkeit in NSDAP und SA ein. Ermuntert durch eine kurze Bemerkung Hitlers ("wenn Sie studieren, dann kommen Sie doch zu mir nach München"), suchte er die Nähe seines Idols. Im Umkreis der Verlegerfamilie Elsa und Hugo Bruckmann, in deren Salon Hitler verkehrte, gelingt es Schirach, Hitler davon zu überzeugen, ihm die Leitung des nationalsozialistischen Studentenbundes zu übertragen. Als er für Hitler im November 1927 einen proppenvollen Auftritt vor akademischem Publikum im Bürgerbräukeller arrangierte, begann eine steile Karriere. Mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren wurde er zum "Reichsjugendführer" der HJ.
Als jugendlicher Draufgänger mit unbarmherzigem Durchsetzungsvermögen gegen innerparteiliche Konkurrenten, als begabter Organisator und politischer Mobilisator bürgerlicher und adliger Gruppen gelingt dem Hitlerverehrer der Aufbau der HJ. Der Netzwerker heiratete 1932 zudem die Tochter des Hitler-Fotografen Heinrich Hoffmann: Trauzeugen waren Hitler und Röhm. Den "Führermythos" beschwor er in zahlreichen Propagandabüchern, in denen er selbst als Poet mit Neigung zu pathetischen Versen über die "Märtyrer" der "Bewegung" schrieb.
Nach der Auflösung aller Jugendverbände im Jahr 1933 systematisierte Schirach die HJ-Fahrten und -Zeltlager, stets nach der Maxime "Jugend führt Jugend". Mit dem konsequenten Ausbau seiner Propaganda in Filmen, Büchern und Liedgut mauserte sich Schirach 1936 zum Staatssekretär. Er machte die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend zur Pflicht, so dass diese auf sechs Millionen Mitglieder anwuchs. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere strebte er auch nach der Kontrolle über die Schulerziehung. Dabei geriet er in Konflikt mit dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust, den er durch seine besseren internationalen Kontakte auszustechen versuchte, vor allem durch seine Kooperation mit Renato Ricci, dem italienischen Präsidenten der faschistischen Jugendorganisationen. Im Machtkonflikt mit Rust konnte sich Schirach letztlich nicht durchsetzen. Mit Kriegsbeginn begann sein Stern weiter zu sinken, weil Fragen der Erziehungsdiktatur hinter den Kriegserfordernissen zurücktraten.
1940 wurde der kulturbeflissene Schirach als "Reichsstatthalter" nach Wien abgeschoben. Er löste den volkstümlich-derben Josef Bürkel, Bäckerssohn aus der Südpfalz, ab, der ohnehin nicht zur Wiener Tradition gepasst hatte. Mit ausladenden Gesten und Banketten zelebrierte Schirach die ambitionierte Wiener Hochkultur. Er versuchte seine nationalen wie internationalen Gäste regelmäßig durch die Wiederbelebung der klassischen österreichischen Kulturtraditionen mit Grillparzer- und Mozart-Wochen zu beeindrucken. Das brachte ihm jedoch den Zorn von Goebbels und Hitler ein, die diese Inszenierungen als Konkurrenz zur Berliner Zentrale interpretierten. Nach einer für die NS-Führung zu liberalen Kunstausstellung und persönlichen Zerwürfnissen mit Hitler im Sommer 1943 galt Schirach als Ablösekandidat. Mangels angemessenen Ersatzes blieb er jedoch bis zum Schluss auf seinem Posten.
Über die Deportation der Wiener Juden war Schirach, entgegen seinen Beteuerungen vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, stets gut informiert. Er hatte öffentlich beteuert, seine Stadt bis zum Herbst 1942 "judenfrei" und danach auch "tschechenfrei" machen zu wollen. Rathkolb zeigt auf, wie umfassend sich Schirach mit ehemals jüdischen Kunstgütern eindeckte und durch "Arisierungen" systematisch bereicherte.
Vor dem Nürnberger Tribunal gab er offen die nationalsozialistischen Massenverbrechen an den Juden zu. Seine Strategie, sich als verblendeter Hitler-Fanboy zu verkaufen, der von der Judenvernichtung nicht viel gewusst haben will, ging tatsächlich auf. Er kam mit zwanzig Jahren Gefängnishaft davon. 1966 entlassen, versilberte er seine ehemalige Spitzenstellung im Dritten Reich und verkaufte seine Memoiren an den Höchstbieter. Artikelserien erschienen im "Stern", und er gab zahlreiche Exklusivinterviews. Über seine letzten Lebensjahre weiß man jedoch nicht viel. Seine Frau Henriette hatte sich bereits kurz nach Kriegsende von ihm scheiden lassen, und auch seine vier Kinder hatte er durch herrische Auftritte verprellt. Er starb 1974 vereinsamt an Herzversagen in einer Pension im rheinland-pfälzischen Kröv.
SVEN REICHARDT
Oliver Rathkolb: "Schirach". Eine Generation zwischen Goethe und Hitler.
Molden Verlag, Wien/Graz 2020. 351 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Oliver Rathkolb legt eine Biographie von Baldur von Schirach vor
Baldur von Schirach ist als Führer der HJ, der Hitlerjugend, im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert. Weniger bekannt ist er als dichtender Schöngeist, mit starker Neigung zum Pathos. Der 1907 geborene Schirach entstammte dem adlig-rechtsbürgerlichen Milieu der Stadt Weimar. Von seinem Vater, Garde-Rittmeister und Intendant des städtischen Nationaltheaters, lernte er die deutschnationale Einstellung. In einem Knabeninternat erzogen, kam er auch früh mit dem Prinzip jugendlicher Selbstführung und -verwaltung in Kontakt. In der "Knappenschaft" verband der marschierende Heranwachsende völkische Gesinnung mit sozialem Militarismus. Bereits in jungen Jahren las sich Schirach zudem in antisemitischer Literatur ein. Von den Werken des Schriftstellers und völkischen Kulturpolitikers Adolf Bartels wurde er ebenso beeinflusst wie von dem "Bayreuther Denker" Houston Stewart Chamberlain, einem deutsch-britischen Populärwissenschaftler und Rassisten. Auch Henry Fords Buch "Der internationale Jude" (1922) prägte ihn: "Ich las es und wurde Antisemit", behauptete er später.
Der Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb hat nun eine quellennahe Biographie vorgelegt, die das Bild eines umtriebigen Antisemiten vermittelt, der sich in der Pose des zivilisierten und großzügigen Nazi-Mäzens gefiel. Schon der Siebzehnjährige Gymnasiast begegnete Hitler bei dessen erster Weimarer Rede. Schirach bewachte die Unterkunft, in der sich Hitler zwischen zwei Auftritten ausruhte. Als der Parteiführer dann auch noch in der elterlichen Villa zum Tee erschienen war, kannte die Verehrung keine Grenzen mehr.
Schirach trat gleich mit Erreichen der Volljährigkeit in NSDAP und SA ein. Ermuntert durch eine kurze Bemerkung Hitlers ("wenn Sie studieren, dann kommen Sie doch zu mir nach München"), suchte er die Nähe seines Idols. Im Umkreis der Verlegerfamilie Elsa und Hugo Bruckmann, in deren Salon Hitler verkehrte, gelingt es Schirach, Hitler davon zu überzeugen, ihm die Leitung des nationalsozialistischen Studentenbundes zu übertragen. Als er für Hitler im November 1927 einen proppenvollen Auftritt vor akademischem Publikum im Bürgerbräukeller arrangierte, begann eine steile Karriere. Mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren wurde er zum "Reichsjugendführer" der HJ.
Als jugendlicher Draufgänger mit unbarmherzigem Durchsetzungsvermögen gegen innerparteiliche Konkurrenten, als begabter Organisator und politischer Mobilisator bürgerlicher und adliger Gruppen gelingt dem Hitlerverehrer der Aufbau der HJ. Der Netzwerker heiratete 1932 zudem die Tochter des Hitler-Fotografen Heinrich Hoffmann: Trauzeugen waren Hitler und Röhm. Den "Führermythos" beschwor er in zahlreichen Propagandabüchern, in denen er selbst als Poet mit Neigung zu pathetischen Versen über die "Märtyrer" der "Bewegung" schrieb.
Nach der Auflösung aller Jugendverbände im Jahr 1933 systematisierte Schirach die HJ-Fahrten und -Zeltlager, stets nach der Maxime "Jugend führt Jugend". Mit dem konsequenten Ausbau seiner Propaganda in Filmen, Büchern und Liedgut mauserte sich Schirach 1936 zum Staatssekretär. Er machte die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend zur Pflicht, so dass diese auf sechs Millionen Mitglieder anwuchs. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere strebte er auch nach der Kontrolle über die Schulerziehung. Dabei geriet er in Konflikt mit dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust, den er durch seine besseren internationalen Kontakte auszustechen versuchte, vor allem durch seine Kooperation mit Renato Ricci, dem italienischen Präsidenten der faschistischen Jugendorganisationen. Im Machtkonflikt mit Rust konnte sich Schirach letztlich nicht durchsetzen. Mit Kriegsbeginn begann sein Stern weiter zu sinken, weil Fragen der Erziehungsdiktatur hinter den Kriegserfordernissen zurücktraten.
1940 wurde der kulturbeflissene Schirach als "Reichsstatthalter" nach Wien abgeschoben. Er löste den volkstümlich-derben Josef Bürkel, Bäckerssohn aus der Südpfalz, ab, der ohnehin nicht zur Wiener Tradition gepasst hatte. Mit ausladenden Gesten und Banketten zelebrierte Schirach die ambitionierte Wiener Hochkultur. Er versuchte seine nationalen wie internationalen Gäste regelmäßig durch die Wiederbelebung der klassischen österreichischen Kulturtraditionen mit Grillparzer- und Mozart-Wochen zu beeindrucken. Das brachte ihm jedoch den Zorn von Goebbels und Hitler ein, die diese Inszenierungen als Konkurrenz zur Berliner Zentrale interpretierten. Nach einer für die NS-Führung zu liberalen Kunstausstellung und persönlichen Zerwürfnissen mit Hitler im Sommer 1943 galt Schirach als Ablösekandidat. Mangels angemessenen Ersatzes blieb er jedoch bis zum Schluss auf seinem Posten.
Über die Deportation der Wiener Juden war Schirach, entgegen seinen Beteuerungen vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, stets gut informiert. Er hatte öffentlich beteuert, seine Stadt bis zum Herbst 1942 "judenfrei" und danach auch "tschechenfrei" machen zu wollen. Rathkolb zeigt auf, wie umfassend sich Schirach mit ehemals jüdischen Kunstgütern eindeckte und durch "Arisierungen" systematisch bereicherte.
Vor dem Nürnberger Tribunal gab er offen die nationalsozialistischen Massenverbrechen an den Juden zu. Seine Strategie, sich als verblendeter Hitler-Fanboy zu verkaufen, der von der Judenvernichtung nicht viel gewusst haben will, ging tatsächlich auf. Er kam mit zwanzig Jahren Gefängnishaft davon. 1966 entlassen, versilberte er seine ehemalige Spitzenstellung im Dritten Reich und verkaufte seine Memoiren an den Höchstbieter. Artikelserien erschienen im "Stern", und er gab zahlreiche Exklusivinterviews. Über seine letzten Lebensjahre weiß man jedoch nicht viel. Seine Frau Henriette hatte sich bereits kurz nach Kriegsende von ihm scheiden lassen, und auch seine vier Kinder hatte er durch herrische Auftritte verprellt. Er starb 1974 vereinsamt an Herzversagen in einer Pension im rheinland-pfälzischen Kröv.
SVEN REICHARDT
Oliver Rathkolb: "Schirach". Eine Generation zwischen Goethe und Hitler.
Molden Verlag, Wien/Graz 2020. 351 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Sven Reichardt referiert Oliver Rathkolbs Biografie gekonnt. Baldur von Schirach lernt er bei Rathkolb nicht nur als gnadenlos ehrgeizigen Hitler-Fan, "Reichsjugendführer" der HJ und späteren Staatssekretär kennen, sondern auch als dichtenden Schöngeist mit Pathosfaible. "Quellennah" schildert ihm der Zeithistoriker Rathkolb Schirachs Hitler-Verehrung wie auch sein Geschick, seine Hände in Nürnberg in Unschuld zu waschen und seine Memoiren nach dem Krieg meistbietend zu verhökern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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