Fünfzehn radikale Lebensäußerungen, geschrieben von einem der großen Ausnahmetalente der deutschsprachigen Literatur.
In fünfzehn Episoden sprengt Helene Hegemann mit luzidem Blick und großer sprachlicher Wucht sämtliche Kategorien, über die wir die Gegenwart zu begreifen versuchen.
Ein Pfau wird mit einem Golfschläger getötet und entlarvt die Doppelmoral der amerikanischen Kulturelite. Eine junge Frau will zu ihren Eltern in die österreichische Provinz fahren und verpasst immer wieder ihre Station. Ein Bad in der Wolga markiert das Ende einer zerstörerischen Beziehung. Ein Junge verliebt sich in einen anderen, während sie von fünfzig Wildschweinen umzingelt werden. Eine Snowboarderin wacht unter einer Schneedecke auf. Ein Gemälde von Monet stürzt einen Kunstexperten in eine tiefe Sinnkrise. Es sind versehrte, kraftvolle Figuren, die Helene Hegemann durch das Buch und eine Welt wandern lässt, in der Gewalt am gefährlichsten ist, wenn sie unterdrückt werden soll,in der das Abarbeiten an Widersprüchen schmerzhaft, aber auch ein großes Vergnügen sein kann. Nach und nach setzt sich ein perfide konstruiertes Psychogramm unserer Gesellschaft zusammen, das verstörend und beglückend zugleich ist.
»Ich lief auf die Wolga zu, zog im Gehen meine Klamotten aus. Ich blieb so lang unter Wasser, bis mein Körper wieder atmen wollte.«
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In fünfzehn Episoden sprengt Helene Hegemann mit luzidem Blick und großer sprachlicher Wucht sämtliche Kategorien, über die wir die Gegenwart zu begreifen versuchen.
Ein Pfau wird mit einem Golfschläger getötet und entlarvt die Doppelmoral der amerikanischen Kulturelite. Eine junge Frau will zu ihren Eltern in die österreichische Provinz fahren und verpasst immer wieder ihre Station. Ein Bad in der Wolga markiert das Ende einer zerstörerischen Beziehung. Ein Junge verliebt sich in einen anderen, während sie von fünfzig Wildschweinen umzingelt werden. Eine Snowboarderin wacht unter einer Schneedecke auf. Ein Gemälde von Monet stürzt einen Kunstexperten in eine tiefe Sinnkrise. Es sind versehrte, kraftvolle Figuren, die Helene Hegemann durch das Buch und eine Welt wandern lässt, in der Gewalt am gefährlichsten ist, wenn sie unterdrückt werden soll,in der das Abarbeiten an Widersprüchen schmerzhaft, aber auch ein großes Vergnügen sein kann. Nach und nach setzt sich ein perfide konstruiertes Psychogramm unserer Gesellschaft zusammen, das verstörend und beglückend zugleich ist.
»Ich lief auf die Wolga zu, zog im Gehen meine Klamotten aus. Ich blieb so lang unter Wasser, bis mein Körper wieder atmen wollte.«
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Rezensent Wolfgang Schneider arbeitet sich an den Erzählungen von Helene Hegemann ab. Gelangweilt hat er sich nicht, muss er zugeben. Hegemann verstehe sich auf Pointen, starke Sätze und markante Szenen, auch ihre Zeitgeistigkeit und Abgebrühtheit ringen dem Kritiker einen gewissen Respekt ab. Aber da sich Hegemann jeder Erzähllogik, Psychologie und literarischer Feinarbeit verweigert, wie Schneider meint, werden ihm die struktuellen Schwächen ihrer Erzählungen offensichtlich: Ohne echten Zusammenhang reihe Hegemann einfach Erlebnisse, Gedanken und Zitate mit großer "Lust am Grellen" aneinander. Hegemanns Posen des Überdruss gehen ihm dabei ebenso auf die Nerven wie die zur Schau gestellte Weitläufigkeit und die "kleinen nadelspitzen Gefühllosigkeiten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider arbeitet sich an den Erzählungen von Helene Hegemann ab. Gelangweilt hat er sich nicht, muss er zugeben. Hegemann verstehe sich auf Pointen, starke Sätze und markante Szenen, auch ihre Zeitgeistigkeit und Abgebrühtheit ringen dem Kritiker einen gewissen Respekt ab. Aber da sich Hegemann jeder Erzähllogik, Psychologie und literarischer Feinarbeit verweigert, wie Schneider meint, werden ihm die struktuellen Schwächen ihrer Erzählungen offensichtlich: Ohne echten Zusammenhang reihe Hegemann einfach Erlebnisse, Gedanken und Zitate mit großer "Lust am Grellen" aneinander. Hegemanns Posen des Überdruss gehen ihm dabei ebenso auf die Nerven wie die zur Schau gestellte Weitläufigkeit und die "kleinen nadelspitzen Gefühllosigkeiten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2022Traurigkeit im
Nudelwasser
Ihr Erzählungsband „Schlachtensee“ beweist,
dass Helene Hegemann die kurze Form
beherrscht wie die lange.
Und die Oden an das gemischte Gefühl
VON MIRYAM SCHELLBACH
Literatur in der kleinen Form erzählt für gewöhnlich von unerhörten Ereignissen. In den fünfzehn Episoden aus „Schlachtensee“ aber stehen die drastischen Elemente am Rand. Zwar fällt eine Frau vom Surfbrett und ertrinkt beinahe, ein Vater hat Krebs und sagt es seiner Tochter, eine Handvoll Tiere stirbt einen unnatürlichen Tod, und, wie immer im literarischen Kosmos von Helene Hegemann, werden Körperflüssigkeiten eifrig weitergereicht. Das alles wird aber nur nebenbei erzählt, ist diffuser Hintergrund der hegemannschen Prosa des Aushaltens. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die trotzdem essen, trinken, schlafen. Und vor allem ganz gewöhnlich sind.
Dass es um das betont wenig Besondere geht, muss gesagt sein, denn Helene Hegemanns Bücher wurden oft so gelesen, als ließe sich aus ihnen etwas herausfinden über die jungen Leute heutzutage. Das war mit „Axolotl Roadkill“ so, ihrem ersten Roman, den sie 2010 als Siebzehnjährige veröffentlichte. Da wollte etwas über die Drogen-Exzesse einer Berliner Kindheit der Nullerjahre gelernt werden. Und in „Bungalow“, dem dritten Roman acht Jahre später, meinte man einen Blick auf die verarmte urbane Mittelschicht gewonnen zu haben. Nein, in „Schlachtensee“ lässt sich keine soziologische Prophetie hineindeuten. Ganz im Gegenteil, diese Geschichten sind mehr Abrissbirnen als Charakter- oder Milieustudien, sie sind Oden an das gemischte Gefühl, das Durchschnittliche. Selbst in ekstatischen Momenten, von denen es unzählige gibt in diesem Band, regiert das Bewusstsein der Figuren, zum Durchschnitt zu gehören.
In der Geschichte „Nadryw“ etwa zischt inmitten einer alkoholgeschwängerten Dreier-Abschlepp-Szene der Reflexionsblitz in den Kopf der Erzählerin: „Ich durchlebte einen Moment geistiger Erhellung. Ich muss es so bezeichnen. Ich stellte fest, dass das, was hier passierte, langweilig war. Was heißt langweilig. Viele Menschen hatten ein langweiliges Leben. Da passierte nichts, von wenigen Höhepunkten mal abgesehen, Fremdgehen alle zehn Jahre, Fernsehkrimi am Sonntag. Das verhielt sich in dem Kontext, in dem mir gerade die Unterhose ausgezogen wurde, jedoch nicht anders.“
Ihre Messung der Durchschnittsamplitude von Ekstasen nimmt die inzwischen dreißigjährige Helene Hegemann auf die ihr eigene Art vor: Kühl bis zur Kälte, anekdotisch, mit exaktem Blick für die Codes, den Habitus, die déformation professionelle der Wohlstandsverwahrlosten und der Armgebliebenen. Die Figuren in „Schlachtensee“ heißen Minute, Jacoby oder Safran, leben in Kanada, Nordfrankreich oder Russland, lieben lässig polyamourös, geben Geld aus, trinken, daten, bemitleiden sich für ihre vielen Lebensoptionen und kultivieren eine Haltung: ein bisschen neben der Spur sein. „Ich fühlte mich, als wäre meine Berechtigung hier zu leben, nicht ganz geklärt“, sagt eine Figur, die es sich in einer nicht besonders rechtfertigungsbedürftigen Hippiekommune in Kanada gemütlich macht. Manchmal haben diese Dreißigjährigen auch ethische Regungen. So eine Art Natur- und Tierschutzreflex, der aber in einer weinseligen Theoriedebatte verpufft.
„Die Pfauengeschichte“ ist eine Story, bei der man sich lange fragt, in welche Bewusstseinsschichten sie hineinreicht. Geht es um einen mit dem Golfschläger erschlagenen Pfau auf dem Grundstück eines Superreichen in South Carolina? Geht es um die Hypokrisie, mit der die Nachbarn des Golfschlägermörders sich über diese Anekdote moralisch entrüsten, während sie in einem Restaurant Gänsestopfleber dinieren? Auch das soll, der unentwegt kommentierenden Erzählerin zufolge, nicht die Pointe sein: „Man darf Gänsestopfleber essen und sich gleichzeitig über den Mord an einem Pfau echauffieren, das schließt sich nicht zwingend aus. Sie hält es nicht mal für einen allzu großen Widerspruch, sich in einem Maserati sitzend über soziale Ungerechtigkeiten zu beschweren. Das geht schon irgendwie. Das muss drin sein.“
Die Auflösung gibt es nicht. Helene Hegemann jongliert die Widersprüche, spitzt sie zu und unterspült sie dann mit allegorischen Bildern. Am Ende stolzieren drei Pfaue durch die Geschichte. Zwei Hennen, dazwischen ein „alter männlicher Pfau, der kaum noch Federn hat“. Der Verlust seines Pfauenrads hat ihn das Gleichgewicht gekostet: „Der Pfau scheint nicht zu verstehen, dass der hintere Teil seines Körpers nicht mehr vom vorderen ausbalanciert werden muss, der checkt nicht, dass ihm da was fehlt, deshalb stolpert der immer so nach vorne und donnert bei jedem zweiten Schritt mit der Nase gegen den Boden. Der ganze Körper denkt, da wäre hinten noch was dran. Dabei ist da nichts mehr. Nur sein nackter alter Arsch.“ Das könnte der lustigste Tiervergleich sein, den die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.
Das sind die starken Momente in „Schlachtensee“, in denen Hegemanns Bilder so politisch knistern wie das des hinkenden Pfaus. Häufig geht es dabei um missverstandene Männlichkeit, um peinlich wenig reflektierte männliche Egos. In „Nadryw“ gibt es dann auch einen gescheiterten Dreier: floppt wegen mangelnder Beteiligung. „Arkadi fickt sie nicht. Stattdessen beginnt er, ihr einen Vortrag zu halten. Einen strengen Vortrag, mit erhobenem Zeigefinger.“ Dann gehen alle nach Hause. Helene Hegemanns große Fähigkeit ist, mit wenigen Worten Figuren mit viel Reibungsfläche kreieren zu können. Besonders sympathisch ist ihr Personal nicht, und doch will man sich gern in der Nähe ihrer auratischen Indifferenz aufhalten. „Sandkastenliteratur über dressierte Menschen mit dressierten Gefühlen“ gibt es hier nicht zu lesen, warnt einmal eine Erzählerin die Leserinnen und Leser des Bandes.
Der Schriftsteller Leif Randt hat in der Literaturzeitschrift Bella Triste einmal den Begriff „Post-Pragmatic Joy“ für die Gegenwartsliteratur, besonders seine eigene, geprägt. Eine Art Lebenshaltung des akzeptierenden Pragmatismus, aber auch eine ästhetische Stimmung: „Sachen so sagen, wie sie sind, ohne darunter leiden zu müssen. Wach sein, aber nicht überspannt, mittendrin, aber nicht verloren.“ Dieses ästhetische Therapeutikum hat von Anfang an zwei Probleme gehabt. Dieser Pragmatismus ist allzu leicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Und Gleichgültigkeit als Lebenshaltung ist banal, alltäglich, vertraut. Literatur darf und muss Banales beschreiben. Aber sie muss zeigen, dass sie weiß, dass sie das tut. Sie braucht eine Art eingebauten Reflexionsmotor, sonst hinkt sie möglicherweise selbst wie ein Pfau, der sein Rad verloren hat. Weil sie denkt, an dieser Haltung wäre mehr dran, als dran ist.
In Hegemanns Geschichten ist das glücklicherweise anders, die Figuren leiden unter ihrer Banalität. Das ist herrlich widersprüchliche Prosa, manchmal zynisch, niemals heiter oder lauwarm. Anders als über die Romane von Helene Hegemann werden über „Schlachtensee“ aber vermutlich keine literaturwissenschaftlichen Seminare abgehalten werden. Dafür sind die Geschichten zu leicht skizziert, im Grundton zu leise. Sie sind ein Nebenwerk einer Autorin, die einst als „Wunderkind“ der deutschsprachigen Literatur begrüßt wurde. Sie zeigt damit, dass sie die kurze wie die lange Form beherrscht.
Für die richtigen Fans gibt es auch ein bisschen Hegemann-Folklore. Das obligatorische Literaturverzeichnis, das seit dem Plagiatsskandal um „Axolotl Roadkill“ zum Arsenal der Unschuld ihrer Bücher gehört. Und ab und an kommt es zu einem dieser unverkennbaren Hegemann-Sätze, die das Leid durchlässiger Menschen an der Welt so gut in einem Bild zusammenfassen, dass die Traurigkeit einen beim Lesen anspringt. In „Himmel“, einer Geschichte über den Suizid, über Wolkenformationen und Goethe, monologisiert die Erzählerin: „Als ich aufwache, dämmert es. Ich gehe in die Küche, trinke eine Tasse aufgefangenes Nudelwasser von vorgestern und ahne, dass ich mich umbringen muss.“ Macht sie dann aber nicht, stattdessen liest sie Klassiker und observiert den Himmel. Helene Hegemann kann die Krassheit ihrer Bilder vortrefflich mit Idylle ausbalancieren.
Die Figuren leiden an ihrer
Banalität, die Traurigkeit springt
einen beim Lesen an
Helene Hegemann: Schlachtensee. Stories. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2022.
272 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nudelwasser
Ihr Erzählungsband „Schlachtensee“ beweist,
dass Helene Hegemann die kurze Form
beherrscht wie die lange.
Und die Oden an das gemischte Gefühl
VON MIRYAM SCHELLBACH
Literatur in der kleinen Form erzählt für gewöhnlich von unerhörten Ereignissen. In den fünfzehn Episoden aus „Schlachtensee“ aber stehen die drastischen Elemente am Rand. Zwar fällt eine Frau vom Surfbrett und ertrinkt beinahe, ein Vater hat Krebs und sagt es seiner Tochter, eine Handvoll Tiere stirbt einen unnatürlichen Tod, und, wie immer im literarischen Kosmos von Helene Hegemann, werden Körperflüssigkeiten eifrig weitergereicht. Das alles wird aber nur nebenbei erzählt, ist diffuser Hintergrund der hegemannschen Prosa des Aushaltens. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die trotzdem essen, trinken, schlafen. Und vor allem ganz gewöhnlich sind.
Dass es um das betont wenig Besondere geht, muss gesagt sein, denn Helene Hegemanns Bücher wurden oft so gelesen, als ließe sich aus ihnen etwas herausfinden über die jungen Leute heutzutage. Das war mit „Axolotl Roadkill“ so, ihrem ersten Roman, den sie 2010 als Siebzehnjährige veröffentlichte. Da wollte etwas über die Drogen-Exzesse einer Berliner Kindheit der Nullerjahre gelernt werden. Und in „Bungalow“, dem dritten Roman acht Jahre später, meinte man einen Blick auf die verarmte urbane Mittelschicht gewonnen zu haben. Nein, in „Schlachtensee“ lässt sich keine soziologische Prophetie hineindeuten. Ganz im Gegenteil, diese Geschichten sind mehr Abrissbirnen als Charakter- oder Milieustudien, sie sind Oden an das gemischte Gefühl, das Durchschnittliche. Selbst in ekstatischen Momenten, von denen es unzählige gibt in diesem Band, regiert das Bewusstsein der Figuren, zum Durchschnitt zu gehören.
In der Geschichte „Nadryw“ etwa zischt inmitten einer alkoholgeschwängerten Dreier-Abschlepp-Szene der Reflexionsblitz in den Kopf der Erzählerin: „Ich durchlebte einen Moment geistiger Erhellung. Ich muss es so bezeichnen. Ich stellte fest, dass das, was hier passierte, langweilig war. Was heißt langweilig. Viele Menschen hatten ein langweiliges Leben. Da passierte nichts, von wenigen Höhepunkten mal abgesehen, Fremdgehen alle zehn Jahre, Fernsehkrimi am Sonntag. Das verhielt sich in dem Kontext, in dem mir gerade die Unterhose ausgezogen wurde, jedoch nicht anders.“
Ihre Messung der Durchschnittsamplitude von Ekstasen nimmt die inzwischen dreißigjährige Helene Hegemann auf die ihr eigene Art vor: Kühl bis zur Kälte, anekdotisch, mit exaktem Blick für die Codes, den Habitus, die déformation professionelle der Wohlstandsverwahrlosten und der Armgebliebenen. Die Figuren in „Schlachtensee“ heißen Minute, Jacoby oder Safran, leben in Kanada, Nordfrankreich oder Russland, lieben lässig polyamourös, geben Geld aus, trinken, daten, bemitleiden sich für ihre vielen Lebensoptionen und kultivieren eine Haltung: ein bisschen neben der Spur sein. „Ich fühlte mich, als wäre meine Berechtigung hier zu leben, nicht ganz geklärt“, sagt eine Figur, die es sich in einer nicht besonders rechtfertigungsbedürftigen Hippiekommune in Kanada gemütlich macht. Manchmal haben diese Dreißigjährigen auch ethische Regungen. So eine Art Natur- und Tierschutzreflex, der aber in einer weinseligen Theoriedebatte verpufft.
„Die Pfauengeschichte“ ist eine Story, bei der man sich lange fragt, in welche Bewusstseinsschichten sie hineinreicht. Geht es um einen mit dem Golfschläger erschlagenen Pfau auf dem Grundstück eines Superreichen in South Carolina? Geht es um die Hypokrisie, mit der die Nachbarn des Golfschlägermörders sich über diese Anekdote moralisch entrüsten, während sie in einem Restaurant Gänsestopfleber dinieren? Auch das soll, der unentwegt kommentierenden Erzählerin zufolge, nicht die Pointe sein: „Man darf Gänsestopfleber essen und sich gleichzeitig über den Mord an einem Pfau echauffieren, das schließt sich nicht zwingend aus. Sie hält es nicht mal für einen allzu großen Widerspruch, sich in einem Maserati sitzend über soziale Ungerechtigkeiten zu beschweren. Das geht schon irgendwie. Das muss drin sein.“
Die Auflösung gibt es nicht. Helene Hegemann jongliert die Widersprüche, spitzt sie zu und unterspült sie dann mit allegorischen Bildern. Am Ende stolzieren drei Pfaue durch die Geschichte. Zwei Hennen, dazwischen ein „alter männlicher Pfau, der kaum noch Federn hat“. Der Verlust seines Pfauenrads hat ihn das Gleichgewicht gekostet: „Der Pfau scheint nicht zu verstehen, dass der hintere Teil seines Körpers nicht mehr vom vorderen ausbalanciert werden muss, der checkt nicht, dass ihm da was fehlt, deshalb stolpert der immer so nach vorne und donnert bei jedem zweiten Schritt mit der Nase gegen den Boden. Der ganze Körper denkt, da wäre hinten noch was dran. Dabei ist da nichts mehr. Nur sein nackter alter Arsch.“ Das könnte der lustigste Tiervergleich sein, den die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.
Das sind die starken Momente in „Schlachtensee“, in denen Hegemanns Bilder so politisch knistern wie das des hinkenden Pfaus. Häufig geht es dabei um missverstandene Männlichkeit, um peinlich wenig reflektierte männliche Egos. In „Nadryw“ gibt es dann auch einen gescheiterten Dreier: floppt wegen mangelnder Beteiligung. „Arkadi fickt sie nicht. Stattdessen beginnt er, ihr einen Vortrag zu halten. Einen strengen Vortrag, mit erhobenem Zeigefinger.“ Dann gehen alle nach Hause. Helene Hegemanns große Fähigkeit ist, mit wenigen Worten Figuren mit viel Reibungsfläche kreieren zu können. Besonders sympathisch ist ihr Personal nicht, und doch will man sich gern in der Nähe ihrer auratischen Indifferenz aufhalten. „Sandkastenliteratur über dressierte Menschen mit dressierten Gefühlen“ gibt es hier nicht zu lesen, warnt einmal eine Erzählerin die Leserinnen und Leser des Bandes.
Der Schriftsteller Leif Randt hat in der Literaturzeitschrift Bella Triste einmal den Begriff „Post-Pragmatic Joy“ für die Gegenwartsliteratur, besonders seine eigene, geprägt. Eine Art Lebenshaltung des akzeptierenden Pragmatismus, aber auch eine ästhetische Stimmung: „Sachen so sagen, wie sie sind, ohne darunter leiden zu müssen. Wach sein, aber nicht überspannt, mittendrin, aber nicht verloren.“ Dieses ästhetische Therapeutikum hat von Anfang an zwei Probleme gehabt. Dieser Pragmatismus ist allzu leicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Und Gleichgültigkeit als Lebenshaltung ist banal, alltäglich, vertraut. Literatur darf und muss Banales beschreiben. Aber sie muss zeigen, dass sie weiß, dass sie das tut. Sie braucht eine Art eingebauten Reflexionsmotor, sonst hinkt sie möglicherweise selbst wie ein Pfau, der sein Rad verloren hat. Weil sie denkt, an dieser Haltung wäre mehr dran, als dran ist.
In Hegemanns Geschichten ist das glücklicherweise anders, die Figuren leiden unter ihrer Banalität. Das ist herrlich widersprüchliche Prosa, manchmal zynisch, niemals heiter oder lauwarm. Anders als über die Romane von Helene Hegemann werden über „Schlachtensee“ aber vermutlich keine literaturwissenschaftlichen Seminare abgehalten werden. Dafür sind die Geschichten zu leicht skizziert, im Grundton zu leise. Sie sind ein Nebenwerk einer Autorin, die einst als „Wunderkind“ der deutschsprachigen Literatur begrüßt wurde. Sie zeigt damit, dass sie die kurze wie die lange Form beherrscht.
Für die richtigen Fans gibt es auch ein bisschen Hegemann-Folklore. Das obligatorische Literaturverzeichnis, das seit dem Plagiatsskandal um „Axolotl Roadkill“ zum Arsenal der Unschuld ihrer Bücher gehört. Und ab und an kommt es zu einem dieser unverkennbaren Hegemann-Sätze, die das Leid durchlässiger Menschen an der Welt so gut in einem Bild zusammenfassen, dass die Traurigkeit einen beim Lesen anspringt. In „Himmel“, einer Geschichte über den Suizid, über Wolkenformationen und Goethe, monologisiert die Erzählerin: „Als ich aufwache, dämmert es. Ich gehe in die Küche, trinke eine Tasse aufgefangenes Nudelwasser von vorgestern und ahne, dass ich mich umbringen muss.“ Macht sie dann aber nicht, stattdessen liest sie Klassiker und observiert den Himmel. Helene Hegemann kann die Krassheit ihrer Bilder vortrefflich mit Idylle ausbalancieren.
Die Figuren leiden an ihrer
Banalität, die Traurigkeit springt
einen beim Lesen an
Helene Hegemann: Schlachtensee. Stories. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2022.
272 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2022Was könnte gegenwärtiger sein als eine Oligarchennovelle?
Mit geringer Erzähllogik Groteskes und Krasses aneinanderreihen, um es als Figur auszugeben: Helene Hegemanns Kurzgeschichtenband "Schlachtensee"
Mit siebzehn Jahren wurde Helene Hegemann zum "Wunderkind der Bohème". Ihr Roman "Axolotl Roadkill" wurde für seine vermeintliche "Authentizität" bejubelt und von vorwiegend älteren Kritikern als brisanter Report aus der jugendlichen Feierzone gelesen. Als sich dann aber herausstellte, dass Hegemann mehr zitiert als erlebt hatte, schlug die Stimmung jäh um: Plagiat, Machwerk! Bis man nach langen Debatten schließlich übereinkam, gerade darin eine besonders zeitgemäße Form des Schreibens zu sehen. Zwölf Jahre und einige Bücher später ist Helene Hegemann eine arrivierte Autorin - und doch versprechen sich viele von ihr immer noch eine erhöhte Dosis Gegenwärtigkeit.
Was könnte gegenwärtiger sein als eine Oligarchennovelle? Um Wohlstandsverwahrlosung auf höchstem Niveau geht es in der mit sechzig Seiten längsten Geschichte von Hegemanns neuem Erzählband "Schlachtensee". Die Ich-Erzählerin schildert Erlebnisse mit dem milliardenschweren Russen Arkadij und den Frauen in seinem Bannkreis. Der Oligarch ist nach der skrupellosen Phase des Vermögenserwerbs ins Spätstadium des Philanthropen übergegangen, gründet Stiftungen und Kinderkrankenhäuser. Die Erzählerin vergisst aber nicht, dass an seinem Geld "Gehirnmasse" klebt. Und dass er Freunde hat, vor denen man sich in Acht nehmen muss, auch wenn Arkadij zu martialischem Gefasel neigt: "Er setzte zu einem ausführlichen Monolog über Kumpels an, die im Jugoslawienkrieg schwangere Frauen getötet hätten und in deren Gesichtern man seitdem das Jenseits sehe. Blabla." Dergleichen als "Blabla" abzutun erfordert einige Abgebrühtheit. Ist es ein Versuch, die Souveränität über die monströse Männlichkeit zurückzugewinnen? Jedenfalls versucht die Erzählerin zu ergründen, was sie an solchen Männern fasziniert: "Man fährt als Frau nicht auf Macht als solche ab bei diesem im Brei ihrer Außenwirkung versunkenen Berserkern, man fährt auf eine spezielle Eigenschaft ab, die zu Macht führt." Das ist, eher selten bei Hegemann, mal ein Ansatz von subtilerer Psychologie. Es lässt sich hinzufügen: Das Überbordende, Exzessive der Oligarchenexistenz kommt Hegemanns Poetik der Überbietung maximal entgegen. Weniger Normal geht nicht.
Wegen ihrer vielen Abschweifungen lässt sich diese Geschichte (wie auch die meisten anderen) kaum nacherzählen. Mit geringer Erzähllogik folgen tendenziell krasse oder groteske Erlebnisse in episodischer Reihung aufeinander. Etwa so: "Ihr schwuler Heilpraktiker rief an. Wir gingen mit ihm in ein Bordell. Er war gar nicht schwul. Maria war einfach davon ausgegangen, dass Heilpraktiker immer schwul wären. Wir setzten uns an den Tresen, tranken acht Tequila und ließen uns von einer brasilianischen Prostituierten Fotos vom Abiball ihrer Tochter zeigen." Schöne Pointe. Es endet mit einem Bad in der verseuchten Wolga, wobei die Erzählerin beinahe mit einer verwesten Kuh kollidiert und sich eine üble Krankheit einfängt. Die notorische Liebe zu Russland - Achtung, Aktualität! - wird auf eine harte Probe gestellt.
Ungemein weltläufig geht es in den fünfzehn Geschichten zu. Krasnoslobodsk, Kalifornien, Kanada, Ägypten, die Schweiz - man kennt sich aus; versteht sich von selbst, dass man weit herumkommt. Nur der titelgebende Berliner Schlachtensee ist eine trügerische Fährte, er spielt im Buch keine Rolle, auch wenn die vielleicht beste Story in einem Kaff an einem Badesee spielt, wo es Wildschweine von bedrohlicher Zahl und Größe gibt. Sie wirken wie "Zeppeline auf Kokain". Das mag auch daran liegen, dass die Figuren - feierfreudige junge Menschen - Drogen und Drinks in hoher Dosis konsumieren. Im Zentrum des bisweilen ins Traumhafte kippenden Geschehens steht eine gleichgeschlechtliche Liebesgeschichte. Ein junger Mann namens Minute verliebt sich in Dustin, der eine ruhige Ausstrahlung mit gemeißelten Wangenknochen und einer soldatischen Anmutung verbindet, als hätte sich eine "bildschöne Militärhistorikerin von einem Gangsterboss schwängern lassen", wie es schön anschaulich, aber auch schön sinnfrei heißt. Die Lust am Grellen macht sich auch in dieser Geschichte geltend, in der es beim nächtlichen Bad im See zu einem regelrechten Wildschwein-Massaker kommt. Aber die zögerliche Annäherung der beiden jungen Männer bleibt im Kontrast dazu dezent gezeichnet, eine Verhaltenheit, die der Geschichte guttut und ihr eine funktionierende Spannungskurve verleiht.
Tiere kommen übrigens viel zu Schaden. Kranke Hunde, grausam zugerichtete Katzen, erschlagene Pfauen - das Motiv des kreatürlichen Leids verdichtet sich von Geschichte zu Geschichte. Es spiegelt die Fragilität der menschlichen Existenz, von der auch die Bevorzugten nicht verschont werden. So handelt die Erzählung "Schwarzach, St. Veit" von einer Frau, die von ihrer Schönheit lebt und als Model international Erfolg hat. Ihre glanzvolle Identität wird aber buchstäblich geschreddert auf der desaströsen Weihnachtsheimreise ins Alpendorf ihrer Eltern. Schönheit und Hässlichkeit werden zur Frage der Perspektive. Hier brilliert der katastrophische Erzählwitz der Autorin.
In den meisten Geschichten dominiert ein Lebensgefühl, das an einer Stelle auf eine knappe Formel gebracht wird: "Eine Mischung aus Langeweile und klirrender Verzweiflung." Dazu versteht sich Hegemann auf die Tricks der erzählerischen Coolness: dieses beiläufige Auskennertum, diese leicht überdrüssige Weltläufigkeit, kleine nadelspitze Gefühllosigkeiten, dazu ein paar Prisen Zeitgeist, etwa in Genderfragen. Und auf keinen Fall zu ambitioniert rüberkommen. Dazu verhelfen gewollte sprachliche Nachlässigkeiten und die gelegentlich beim Erzählen über die Schulter geworfenen Selbstkommentare: "Nebenbei bemerkt geht mir diese beschissene indirekte Rede auf den Keks. Ich lasse das jetzt."
Hier wird aber auch deutlich, dass Hegemann zu dekonstruktiv veranlagt ist, um das Erschaffen fiktiver Welten völlig ernst zu betreiben. Man hat den Eindruck, bei diesen Erzählungen wurden aus einer großen Menge von Entwürfen und Notizen die stärksten und coolsten Passagen zusammengeschnitten. An akribischer Plotarbeit und sorgfältiger Psychologie ist Hegemann dagegen wenig interessiert. Deshalb überzeugen ihre Figuren auch nicht als Charaktere. Eine gewisse, zum Bündel geschnürte Menge an schrillen Erlebnissen und schrägen Gedanken wird einfach als Figur deklariert. Weil die Strukturschwäche ihrer Geschichten offenkundig ist, hat Hegemann Gegenmaßnahmen ergriffen. Sie lässt Personal aus einer Geschichte in anderen wieder auftauchen, als wären allein durch Namensidentitäten schon Sinnzusammenhänge hergestellt. Und sie verlautbart in programmatischen Einschüben, dass das Leben eben nicht nach "Schema" verlaufe. Leser, die es gern etwas linearer und begründeter hätten, werden angepoltert: "Lesen Sie bitte weiterhin ihre amerikanische Sandkastenliteratur über dressierte Menschen mit dressierten Gefühlen, Ablenkungsmanöver, mit denen man das Kulturbürgertum bei Laune hält, damit der Rest der Welt in Ruhe seine Waffengeschäfte abwickeln kann."
Das ist schwach und etwas gestrig räsoniert. Waffengeschäfte sind gerade ein heikles Thema, an dem die Schwarz-WeißMoral Schiffbruch erleidet. Davon abgesehen ist auch in Hegemanns Geschichten viel mehr Artefakt und Dressur, als es dieser Stoßseufzer des Authentischen verbergen kann. Der Klappentext bewirbt die Erzählungen zwar als "Psychogramm unserer Gesellschaft". Mit dem größten Teil unserer Gesellschaft hat das (von materiellen Sorgen verschonte) Bohème-Milieu, das Hegemann in Szene setzt, aber wenig zu tun.
Eine langweilige Lektüre ist "Schlachtensee" jedoch nicht. Auch die schwachen Geschichten haben immer noch viele starke Sätze. Man liest sie für die Hegemann-Momente, für die knapp umrissenen Bilder und Szenen, für die lakonischen, leicht ins Absurde gedrehten Pointen. Ein Mensch müsse begreifen, heißt es in der Oligarchengeschichte, "dass er der Welt, in die man ihn hineingeboren hat, ein bisschen Unterhaltung schulde". Daran hat sich Helene Hegemann gehalten. WOLFGANG SCHNEIDER
Helene Hegemann: "Schlachtensee". Stories.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 272 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit geringer Erzähllogik Groteskes und Krasses aneinanderreihen, um es als Figur auszugeben: Helene Hegemanns Kurzgeschichtenband "Schlachtensee"
Mit siebzehn Jahren wurde Helene Hegemann zum "Wunderkind der Bohème". Ihr Roman "Axolotl Roadkill" wurde für seine vermeintliche "Authentizität" bejubelt und von vorwiegend älteren Kritikern als brisanter Report aus der jugendlichen Feierzone gelesen. Als sich dann aber herausstellte, dass Hegemann mehr zitiert als erlebt hatte, schlug die Stimmung jäh um: Plagiat, Machwerk! Bis man nach langen Debatten schließlich übereinkam, gerade darin eine besonders zeitgemäße Form des Schreibens zu sehen. Zwölf Jahre und einige Bücher später ist Helene Hegemann eine arrivierte Autorin - und doch versprechen sich viele von ihr immer noch eine erhöhte Dosis Gegenwärtigkeit.
Was könnte gegenwärtiger sein als eine Oligarchennovelle? Um Wohlstandsverwahrlosung auf höchstem Niveau geht es in der mit sechzig Seiten längsten Geschichte von Hegemanns neuem Erzählband "Schlachtensee". Die Ich-Erzählerin schildert Erlebnisse mit dem milliardenschweren Russen Arkadij und den Frauen in seinem Bannkreis. Der Oligarch ist nach der skrupellosen Phase des Vermögenserwerbs ins Spätstadium des Philanthropen übergegangen, gründet Stiftungen und Kinderkrankenhäuser. Die Erzählerin vergisst aber nicht, dass an seinem Geld "Gehirnmasse" klebt. Und dass er Freunde hat, vor denen man sich in Acht nehmen muss, auch wenn Arkadij zu martialischem Gefasel neigt: "Er setzte zu einem ausführlichen Monolog über Kumpels an, die im Jugoslawienkrieg schwangere Frauen getötet hätten und in deren Gesichtern man seitdem das Jenseits sehe. Blabla." Dergleichen als "Blabla" abzutun erfordert einige Abgebrühtheit. Ist es ein Versuch, die Souveränität über die monströse Männlichkeit zurückzugewinnen? Jedenfalls versucht die Erzählerin zu ergründen, was sie an solchen Männern fasziniert: "Man fährt als Frau nicht auf Macht als solche ab bei diesem im Brei ihrer Außenwirkung versunkenen Berserkern, man fährt auf eine spezielle Eigenschaft ab, die zu Macht führt." Das ist, eher selten bei Hegemann, mal ein Ansatz von subtilerer Psychologie. Es lässt sich hinzufügen: Das Überbordende, Exzessive der Oligarchenexistenz kommt Hegemanns Poetik der Überbietung maximal entgegen. Weniger Normal geht nicht.
Wegen ihrer vielen Abschweifungen lässt sich diese Geschichte (wie auch die meisten anderen) kaum nacherzählen. Mit geringer Erzähllogik folgen tendenziell krasse oder groteske Erlebnisse in episodischer Reihung aufeinander. Etwa so: "Ihr schwuler Heilpraktiker rief an. Wir gingen mit ihm in ein Bordell. Er war gar nicht schwul. Maria war einfach davon ausgegangen, dass Heilpraktiker immer schwul wären. Wir setzten uns an den Tresen, tranken acht Tequila und ließen uns von einer brasilianischen Prostituierten Fotos vom Abiball ihrer Tochter zeigen." Schöne Pointe. Es endet mit einem Bad in der verseuchten Wolga, wobei die Erzählerin beinahe mit einer verwesten Kuh kollidiert und sich eine üble Krankheit einfängt. Die notorische Liebe zu Russland - Achtung, Aktualität! - wird auf eine harte Probe gestellt.
Ungemein weltläufig geht es in den fünfzehn Geschichten zu. Krasnoslobodsk, Kalifornien, Kanada, Ägypten, die Schweiz - man kennt sich aus; versteht sich von selbst, dass man weit herumkommt. Nur der titelgebende Berliner Schlachtensee ist eine trügerische Fährte, er spielt im Buch keine Rolle, auch wenn die vielleicht beste Story in einem Kaff an einem Badesee spielt, wo es Wildschweine von bedrohlicher Zahl und Größe gibt. Sie wirken wie "Zeppeline auf Kokain". Das mag auch daran liegen, dass die Figuren - feierfreudige junge Menschen - Drogen und Drinks in hoher Dosis konsumieren. Im Zentrum des bisweilen ins Traumhafte kippenden Geschehens steht eine gleichgeschlechtliche Liebesgeschichte. Ein junger Mann namens Minute verliebt sich in Dustin, der eine ruhige Ausstrahlung mit gemeißelten Wangenknochen und einer soldatischen Anmutung verbindet, als hätte sich eine "bildschöne Militärhistorikerin von einem Gangsterboss schwängern lassen", wie es schön anschaulich, aber auch schön sinnfrei heißt. Die Lust am Grellen macht sich auch in dieser Geschichte geltend, in der es beim nächtlichen Bad im See zu einem regelrechten Wildschwein-Massaker kommt. Aber die zögerliche Annäherung der beiden jungen Männer bleibt im Kontrast dazu dezent gezeichnet, eine Verhaltenheit, die der Geschichte guttut und ihr eine funktionierende Spannungskurve verleiht.
Tiere kommen übrigens viel zu Schaden. Kranke Hunde, grausam zugerichtete Katzen, erschlagene Pfauen - das Motiv des kreatürlichen Leids verdichtet sich von Geschichte zu Geschichte. Es spiegelt die Fragilität der menschlichen Existenz, von der auch die Bevorzugten nicht verschont werden. So handelt die Erzählung "Schwarzach, St. Veit" von einer Frau, die von ihrer Schönheit lebt und als Model international Erfolg hat. Ihre glanzvolle Identität wird aber buchstäblich geschreddert auf der desaströsen Weihnachtsheimreise ins Alpendorf ihrer Eltern. Schönheit und Hässlichkeit werden zur Frage der Perspektive. Hier brilliert der katastrophische Erzählwitz der Autorin.
In den meisten Geschichten dominiert ein Lebensgefühl, das an einer Stelle auf eine knappe Formel gebracht wird: "Eine Mischung aus Langeweile und klirrender Verzweiflung." Dazu versteht sich Hegemann auf die Tricks der erzählerischen Coolness: dieses beiläufige Auskennertum, diese leicht überdrüssige Weltläufigkeit, kleine nadelspitze Gefühllosigkeiten, dazu ein paar Prisen Zeitgeist, etwa in Genderfragen. Und auf keinen Fall zu ambitioniert rüberkommen. Dazu verhelfen gewollte sprachliche Nachlässigkeiten und die gelegentlich beim Erzählen über die Schulter geworfenen Selbstkommentare: "Nebenbei bemerkt geht mir diese beschissene indirekte Rede auf den Keks. Ich lasse das jetzt."
Hier wird aber auch deutlich, dass Hegemann zu dekonstruktiv veranlagt ist, um das Erschaffen fiktiver Welten völlig ernst zu betreiben. Man hat den Eindruck, bei diesen Erzählungen wurden aus einer großen Menge von Entwürfen und Notizen die stärksten und coolsten Passagen zusammengeschnitten. An akribischer Plotarbeit und sorgfältiger Psychologie ist Hegemann dagegen wenig interessiert. Deshalb überzeugen ihre Figuren auch nicht als Charaktere. Eine gewisse, zum Bündel geschnürte Menge an schrillen Erlebnissen und schrägen Gedanken wird einfach als Figur deklariert. Weil die Strukturschwäche ihrer Geschichten offenkundig ist, hat Hegemann Gegenmaßnahmen ergriffen. Sie lässt Personal aus einer Geschichte in anderen wieder auftauchen, als wären allein durch Namensidentitäten schon Sinnzusammenhänge hergestellt. Und sie verlautbart in programmatischen Einschüben, dass das Leben eben nicht nach "Schema" verlaufe. Leser, die es gern etwas linearer und begründeter hätten, werden angepoltert: "Lesen Sie bitte weiterhin ihre amerikanische Sandkastenliteratur über dressierte Menschen mit dressierten Gefühlen, Ablenkungsmanöver, mit denen man das Kulturbürgertum bei Laune hält, damit der Rest der Welt in Ruhe seine Waffengeschäfte abwickeln kann."
Das ist schwach und etwas gestrig räsoniert. Waffengeschäfte sind gerade ein heikles Thema, an dem die Schwarz-WeißMoral Schiffbruch erleidet. Davon abgesehen ist auch in Hegemanns Geschichten viel mehr Artefakt und Dressur, als es dieser Stoßseufzer des Authentischen verbergen kann. Der Klappentext bewirbt die Erzählungen zwar als "Psychogramm unserer Gesellschaft". Mit dem größten Teil unserer Gesellschaft hat das (von materiellen Sorgen verschonte) Bohème-Milieu, das Hegemann in Szene setzt, aber wenig zu tun.
Eine langweilige Lektüre ist "Schlachtensee" jedoch nicht. Auch die schwachen Geschichten haben immer noch viele starke Sätze. Man liest sie für die Hegemann-Momente, für die knapp umrissenen Bilder und Szenen, für die lakonischen, leicht ins Absurde gedrehten Pointen. Ein Mensch müsse begreifen, heißt es in der Oligarchengeschichte, "dass er der Welt, in die man ihn hineingeboren hat, ein bisschen Unterhaltung schulde". Daran hat sich Helene Hegemann gehalten. WOLFGANG SCHNEIDER
Helene Hegemann: "Schlachtensee". Stories.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 272 S., geb., 23,- Euro.
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»[Hegemanns] Hinwendung zu den menschlichen Abgründen [entwickelt] eine ungeahnte Sogwirkung, der sich nur schwer zu entziehen ist.« Vogue 20220813