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Ihr Schicksal ist kaum bekannt: Bis in die siebziger Jahre hinein wurden mehr als eine halbe Million Kinder sowohl in kirchlichen wie staatlichen Heimen Westdeutschlands oft seelisch und körperlich schwer mißhandelt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham - selbst gegenüber Angehörigen.
Manchmal genügte den Ämtern der denunziatorische Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen. In diesen Institutionen regierten
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Produktbeschreibung
Ihr Schicksal ist kaum bekannt: Bis in die siebziger Jahre hinein wurden mehr als eine halbe Million Kinder sowohl in kirchlichen wie staatlichen Heimen Westdeutschlands oft seelisch und körperlich schwer mißhandelt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham - selbst gegenüber Angehörigen.

Manchmal genügte den Ämtern der denunziatorische Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen. In diesen Institutionen regierten Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, mit aller Härte. Die "Heimkampagne", ausgelöst von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, und die Proteste der 68er brachten einen Wandel. Die Erlebnisberichte in diesem Buch enthüllen das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde.
Autorenporträt
Peter Wensierski, geboren 1954, ist seit 1993 im Deutschland-Ressort des Spiegel. Als Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist berichtete er zuvor über gesellschaftspolitische Themen aus Ost- und Westdeutschland. Er erhielt den Bundesfilmpreis und den Europäischen Fernsehpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2006

Nichts für Zartbesaitete
Geschichte der Heimkinder in der frühen Bundesrepublik

Der Alltag in der Nachkriegszeit war schwierig für Familien: Viele Väter waren im Krieg gefallen, die Mütter gezwungen, Geld zu verdienen. Ihre Kinder waren früh auf sich alleine gestellt. Nicht immer ging das gut. Dort, wo Kinder "verwahrlosten", schritten die Jugendbehörden ein: Mehr als eine halbe Million deutsche Kinder und Jugendliche waren bis in die siebziger Jahre in etwa 3000 Erziehungsheimen untergebracht, 80 Prozent davon in kirchlicher Hand. Waisenkinder oder straffällig gewordene Jugendliche waren dort nach Peter Wensierskis Angaben in der Minderheit, der Großteil waren Kinder alleinerziehender Mütter und generell unehelich geborene Kinder.

Akribisch schildert der Autor persönliche Schicksale von Mißhandlung, Demütigung und Ausbeutung in deutschen Heimen der Nachkriegszeit. Das Buch ist nichts für zartbesaitete Leser. Seitenweise schnürt die Lektüre einem die Kehle zu: Wensierski gibt wieder, wie Kinder vor Tellern mit erbrochenem Essen sitzen bleiben müssen und gezwungen werden, das Erbrochene aufzuessen. Oder von Strafen, die man auch Folter nennen kann, von grausamsten Prügeln bis zum Untertauchen in mit eiskaltem Wasser gefüllten Badewannen.

Wensierski läßt ehemalige Heimkinder zu Wort kommen, die bis heute traumatisiert sind von den Erlebnissen ihrer Kindheit. Gisela Nurthen ist eine von ihnen. Anfang der sechziger Jahre war sie in einem katholischen Kinderheim. Sie hat zeit ihres Lebens die schrecklichen Erlebnisse nicht überwunden, mehrere gescheiterte Ehen hinter sich und leidet unter Depressionen. Nach Wensierskis Recherchen ist sie nicht allein, Dutzende Berichte hat er zusammengetragen. Aus vielen drastischen und unentschuldbaren Einzelfällen werden jedoch im Handumdrehen "einige hunderttausend Heimzöglinge", die "unter heute unvorstellbaren Bedingungen" aufwuchsen.

Die Recherchen konzentrieren sich auf die Opfer. Gerne wüßte man mehr über die "Täter", die vielen Frauen und Männer, die alles hinter sich gelassen haben, um ihr Leben "Gott zu weihen", und warum gute Vorsätze in Überforderung und Schrecken enden können. Unerwähnt bleibt unter anderem, daß viele Erzieher und Erzieherinnen mit kriegs- und fluchtbedingt komplizierten Lebensläufen über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten. Schwestern, die teilweise einen ganz anderen Berufswunsch hatten, wurden - weil Fachkräfte fehlten - in Kinderheimen eingesetzt. Das entschuldigt nicht, erklärt aber eine gewisse Unmotiviertheit und Überforderung. Dazu kommt, daß die Heimgruppen damals wesentlich größer als heute waren. Nicht selten war ein "Erzieher" oder eine "Erzieherin" allein - rund um die Uhr - für mehr als 30 Kinder verantwortlich. Heute hingegen besteht in Kinderheimen eine Gruppe aus etwa neun Kindern, um die sich bis zu fünf pädagogische Fachkräfte kümmern. Auch die Macht, die größere Gruppen auf ihre Pädagogen ausüben können - heute wie damals -, erwähnt Wensierski nicht. Eine Gruppe von 30 Kindern kann einen Erzieher das Fürchten lehren und dazu bringen, in seiner Not unüberlegt und ungerecht zu handeln.

Völlig unreflektiert bleibt bei dem Autor die Tatsache, daß in der Nachkriegszeit andere Erziehungsmethoden als heute herrschten - in den Familien, den Schulen und eben auch in den Heimen. Schläge gehörten damals zum normalen Schulalltag. Insofern überzeichnet Wensierski einseitig zu Lasten der Kirchen, wenn er die in den Heimen üblichen Strafen zu "Schlägen im Namen des Herrn" programmatisch hochstilisiert. Weil es in sein Bild nicht paßt, daß einige ehemalige Heimkinder auch Jahre später noch freundlichen Kontakt mit ihren Lehrern und Ausbildern haben, erklärt er deren Anhänglichkeit kurzerhand damit, daß die Opfer den Tätern beweisen wollten, daß sie mittlerweile "brav" seien.

Wensierski hat in "Schläge im Namen des Herrn" - wie schon zuvor mit seinen Reportagen über das Thema Heimkinder - schlimme Mißstände aufgedeckt. Wie schon in seinem letzten Buch "Gottes heimliche Kinder", in dem er über Kinder katholischer Priester berichtet, liegt ihm jedoch daran, "die Kirche" als "uneinsichtige Täterin" darzustellen, die sich der Aufklärung widersetzt. Das stimmt aber so nicht. Das Haus der Orden, die katholische Caritas und die evangelische Diakonie geben zu, daß Schlimmes passiert ist, haben sich teilweise öffentlich entschuldigt und rufen dazu auf, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern zu helfen.

ANTONIA VON ALTEN

Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 207 S., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Matthias Drobinski mochte "manchmal gar nicht mehr weiterlesen", derart "entsetzlich", schreibt er, glichen sich die von Peter Wensierski über Jahre gesammelten und in diesem Buch festgehaltenen Erinnerungen Erwachsener an den Alltag in kirchlichen Heimen in den 50er und 60er Jahren. Entsetzlich vor allem wegen der laut Drobinski bei den Opfern bis heute nachwirkenden brutalen Erniedrigung und Drangsalierung durch sadistische Kirchenpädagogen. Staunend vermerkt der Rezensent die dennoch gewahrte Nüchternheit im Stil und die Faktentreue des Textes, die ihn von vergleichbaren Erlebnisberichten mit Opferperspektive absetzten. Die weich gezeichneten 50er und 60er Jahre haben für Drobinski durch diese Lektüre einen tiefen Kratzer bekommen. Die hierdurch bereits angeschobene Geschichtsrevision, wünscht er sich, möge "zur Pflicht der Heime" werden.

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