Mit unbändiger Phantasie zaubert Karen Russell Welten aufs Papier, die man nicht mehr vergisst. Da werden unter Wölfen aufgewachsene Mädchen in einem Umerziehungsheim zu wertvollen Gliedern der Gesellschaft zurechtgebogen, da verdient eine Familie ihren Lebensunterhalt mit Alligatorwrestling in einem Vergnügungspark, und orakelträumende Kinder werden von ihren Eltern in der Schlafanstalt für Traumgestörte abgegeben, damit sie das mentale Abheben in entspannte Traumwelten neu erlernen.
Russells Geschichten aus den Sümpfen Floridas und den Inseln im Golf von Mexiko erzählen von einem Amerika der Exzentriker und Rastlosen. Nicht zuletzt erzählen sie auch von Freundschaft und Initiation und führen uns auf souveräne Weise vor, wer wir sind und wie wir leben.
Russells Geschichten aus den Sümpfen Floridas und den Inseln im Golf von Mexiko erzählen von einem Amerika der Exzentriker und Rastlosen. Nicht zuletzt erzählen sie auch von Freundschaft und Initiation und führen uns auf souveräne Weise vor, wer wir sind und wie wir leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2008Jenseits von Swamplandia
Seh dich später, Alligator: Karen Russell phantasiert in ihrem Debüt über die Probleme einer nicht ungefährlichen Kindheit auf dem amerikanischen Lande.
Die Lykanthropen sind nicht, wie lange Zeit vermutet, ausgestorben. Sie heißen "Hwraa!", "Gwarr!" oder "Trrr!" und führen eine wenig beachtete Existenz. Dort, wo die Zivilisation ausfranst und in namenlose Wildnis übergeht, wären noch unheimliche Begegnungen mit Wolfsmenschen und ihren phantastischen Kollegen zu machen. Nur leider kommt man ja so selten raus aufs Land.
Dafür klärt einen jetzt Karen Russell in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Schlafanstalt für Traumgestörte", über die Ausprägungen einsamen Hinterwäldlertums auf. Die Schauplätze, welche die sechsundzwanzigjährige aus Florida stammende Autorin gewählt hat, sind äußerst randständig - was nicht heißen soll, dass dort, abseits der großen Städte, nichts los wäre. Die Sümpfe und Inseln Floridas oder die Spezialanstalten, in denen hochseltene Anomalien ausgemerzt werden, sind durchaus belebt; allerdings mit Außenseitern, Exzentrikern im wahrsten Sinne des Wortes.
Die zwölfjährige Protagonistin der Erzählung "Ava ringt mit dem Alligator" etwa lebt mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Osceola in Swamplandia, einer nur noch sporadisch von Touristen besuchten Reptilienfarm. Der Vater, Chief Bigtree, ist während des Sommers auf dem Festland, mit der toten Mutter kann nur noch per Hexenbrett kommuniziert werden. Swamplandia ist auch nicht unbedingt ein Ort für unbeschwerte Sommerfrischen: "Meilenweit Sumpf und Millionen und Abermillionen Geister und niemand außer uns Mädchen, daheim in unseren albernen Pyjamas."
Da verwundert es nicht, dass Osceola von einem Geist besessen ist, ständig nächtliche "Sumpfrendezvous" hat. Wegen dieses "nervigen Freunds" bleibt alle Arbeit - stinkiges Futterzeug für die Alligatoren köpfen, Bigtree-Latrinen spülen und die Gipszähne im Alligatorkopf bürsten - an Ava hängen. Eines Nachts kommt es wie befürchtet, Osceola brennt mit dem Geist durch, und Ava muss ihre Angst vor dem Sumpf überwinden, sich suchend in die dunklen Mangroven wagen.
Russells Helden, Heranwachsende im Zwischenreich von Kindheit und Erwachsenenwelt, streunen wie Ava durch phantastische, märchenhafte und nicht ganz harmlose Kulissen. Stellenweise entwirft die Autorin Szenerien mit dem Gruselpotential schauerromantischer Nachtstücke, etwa wenn die Brüder Waldo und Timothy in "Olivia überall" einen alten Wasserschrottplatz nach ihrer ertrunkenen Schwester durchtauchen. Natürlich dümpeln im brackigen Wasser nicht nur verrottende Fischkutter, sondern allerhand mysteriöses Getier.
Dem inneren Gedanken- und Phantasiestrom von Karen Russells Außenseitern kann man sich als Leser ebenso wenig entziehen wie den aberwitzigen Plots. Allerdings beginnen die beißende Ironie und der schwarzhumorige Ton, die in jedem Text vorherrschen, nach einer Weile zu befremden, vor allem, weil sie fast noch aus Kindermündern kommen. Und Kinder sind normalerweise noch keine Meister der Ironie.
Erst auf dem zweiten Blick offenbaren sich die Ursachen für deren Witz- und Wortgewandtheit. Russells junge Protagonisten sind Überlebenskünstler, sie haben entweder unter dem Versagen oder der gänzlichen Abwesenheit ihrer Eltern zu leiden. Die Geschichten sind Variationen auf das Hänsel-und-Gretel-Thema, verlassene Kinder, abenteuernd in der Wildnis, auf der Suche nach einem Zuhause. Ohne schlaue Verstellungskunst wären sie verloren. So lesen sich die im positiven Sinne unterhaltsamen Stücke auch als Kommentare auf eine zu frühe, aus der Not geborene Emanzipation von den Eltern.
Am besten gelingt die Mischung aus wilder Komik und bitterer Ironie im Glanzstück des Bandes, der Erzählung "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim". Nonnen versprechen im Wald hausenden Werwölfen, ihren Kindern mit Hilfe des "Handbuchs des Jesuitenordens zum lykanthropischen Kulturschock" eine "bessere Kultur" angedeihen zu lassen. Die Eltern stimmen zu; sie wollen, dass es die Kinder einmal besser haben: "Sie wollten, dass wir Zahnspangen trugen, Handtücher benutzten, ganz und gar zweisprachig wurden."
Die struppigen Mädchen namens Gwarr! oder Trrr! kommen in ein Umerziehungsheim und heißen fortan Jeanette oder Mirabelle. Sie lernen, sich die Kleider nicht vom Leib zu reißen, Kompetenzpunkte zu sammeln und die Hausheilige abzustauben. Der unbeliebten Klassenstreberin gelingt als Erster eine Art Lächeln. Aber natürlich fordert der Weg in die Zivilisation auch seine Opfer. Einige Unbelehrbare werden immer heimatlos bleiben, und sie müssen "in weißen Tennisschuhen und Hosenröcken ihren alten Rudeln" hinterherhumpeln.
FRANZISKA SENG
Karen Russell: "Schlafanstalt für Traumgestörte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Malte Krutzsch. Verlag Kein & Aber, Zürich 2008. 304 Seiten, geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seh dich später, Alligator: Karen Russell phantasiert in ihrem Debüt über die Probleme einer nicht ungefährlichen Kindheit auf dem amerikanischen Lande.
Die Lykanthropen sind nicht, wie lange Zeit vermutet, ausgestorben. Sie heißen "Hwraa!", "Gwarr!" oder "Trrr!" und führen eine wenig beachtete Existenz. Dort, wo die Zivilisation ausfranst und in namenlose Wildnis übergeht, wären noch unheimliche Begegnungen mit Wolfsmenschen und ihren phantastischen Kollegen zu machen. Nur leider kommt man ja so selten raus aufs Land.
Dafür klärt einen jetzt Karen Russell in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Schlafanstalt für Traumgestörte", über die Ausprägungen einsamen Hinterwäldlertums auf. Die Schauplätze, welche die sechsundzwanzigjährige aus Florida stammende Autorin gewählt hat, sind äußerst randständig - was nicht heißen soll, dass dort, abseits der großen Städte, nichts los wäre. Die Sümpfe und Inseln Floridas oder die Spezialanstalten, in denen hochseltene Anomalien ausgemerzt werden, sind durchaus belebt; allerdings mit Außenseitern, Exzentrikern im wahrsten Sinne des Wortes.
Die zwölfjährige Protagonistin der Erzählung "Ava ringt mit dem Alligator" etwa lebt mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Osceola in Swamplandia, einer nur noch sporadisch von Touristen besuchten Reptilienfarm. Der Vater, Chief Bigtree, ist während des Sommers auf dem Festland, mit der toten Mutter kann nur noch per Hexenbrett kommuniziert werden. Swamplandia ist auch nicht unbedingt ein Ort für unbeschwerte Sommerfrischen: "Meilenweit Sumpf und Millionen und Abermillionen Geister und niemand außer uns Mädchen, daheim in unseren albernen Pyjamas."
Da verwundert es nicht, dass Osceola von einem Geist besessen ist, ständig nächtliche "Sumpfrendezvous" hat. Wegen dieses "nervigen Freunds" bleibt alle Arbeit - stinkiges Futterzeug für die Alligatoren köpfen, Bigtree-Latrinen spülen und die Gipszähne im Alligatorkopf bürsten - an Ava hängen. Eines Nachts kommt es wie befürchtet, Osceola brennt mit dem Geist durch, und Ava muss ihre Angst vor dem Sumpf überwinden, sich suchend in die dunklen Mangroven wagen.
Russells Helden, Heranwachsende im Zwischenreich von Kindheit und Erwachsenenwelt, streunen wie Ava durch phantastische, märchenhafte und nicht ganz harmlose Kulissen. Stellenweise entwirft die Autorin Szenerien mit dem Gruselpotential schauerromantischer Nachtstücke, etwa wenn die Brüder Waldo und Timothy in "Olivia überall" einen alten Wasserschrottplatz nach ihrer ertrunkenen Schwester durchtauchen. Natürlich dümpeln im brackigen Wasser nicht nur verrottende Fischkutter, sondern allerhand mysteriöses Getier.
Dem inneren Gedanken- und Phantasiestrom von Karen Russells Außenseitern kann man sich als Leser ebenso wenig entziehen wie den aberwitzigen Plots. Allerdings beginnen die beißende Ironie und der schwarzhumorige Ton, die in jedem Text vorherrschen, nach einer Weile zu befremden, vor allem, weil sie fast noch aus Kindermündern kommen. Und Kinder sind normalerweise noch keine Meister der Ironie.
Erst auf dem zweiten Blick offenbaren sich die Ursachen für deren Witz- und Wortgewandtheit. Russells junge Protagonisten sind Überlebenskünstler, sie haben entweder unter dem Versagen oder der gänzlichen Abwesenheit ihrer Eltern zu leiden. Die Geschichten sind Variationen auf das Hänsel-und-Gretel-Thema, verlassene Kinder, abenteuernd in der Wildnis, auf der Suche nach einem Zuhause. Ohne schlaue Verstellungskunst wären sie verloren. So lesen sich die im positiven Sinne unterhaltsamen Stücke auch als Kommentare auf eine zu frühe, aus der Not geborene Emanzipation von den Eltern.
Am besten gelingt die Mischung aus wilder Komik und bitterer Ironie im Glanzstück des Bandes, der Erzählung "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim". Nonnen versprechen im Wald hausenden Werwölfen, ihren Kindern mit Hilfe des "Handbuchs des Jesuitenordens zum lykanthropischen Kulturschock" eine "bessere Kultur" angedeihen zu lassen. Die Eltern stimmen zu; sie wollen, dass es die Kinder einmal besser haben: "Sie wollten, dass wir Zahnspangen trugen, Handtücher benutzten, ganz und gar zweisprachig wurden."
Die struppigen Mädchen namens Gwarr! oder Trrr! kommen in ein Umerziehungsheim und heißen fortan Jeanette oder Mirabelle. Sie lernen, sich die Kleider nicht vom Leib zu reißen, Kompetenzpunkte zu sammeln und die Hausheilige abzustauben. Der unbeliebten Klassenstreberin gelingt als Erster eine Art Lächeln. Aber natürlich fordert der Weg in die Zivilisation auch seine Opfer. Einige Unbelehrbare werden immer heimatlos bleiben, und sie müssen "in weißen Tennisschuhen und Hosenröcken ihren alten Rudeln" hinterherhumpeln.
FRANZISKA SENG
Karen Russell: "Schlafanstalt für Traumgestörte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Malte Krutzsch. Verlag Kein & Aber, Zürich 2008. 304 Seiten, geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Franziska Seng hat sich bestens mit den Erzählungen von Karen Russell unterhalten, in denen es von frühreifen Außenseitern, Geistern und Werwölfen wimmelt. Die aus Florida stammende 26-jährige Autorin durchstreift in ihrem erzählerischen Debüt Sümpfe und verlassene Landstriche, und erzählt beispielsweise von einem Geschwisterpaar, das allein auf einer Krokodilfarm lebt und von Geistern besucht wird, oder von zwei Brüdern, die in einem "Wasserschrottplatz" nach ihrer toten Schwester suchen und dabei allerlei Gruselgestalten begegnen, erklärt die Rezensentin. Wenn sie der ironisch-abgeklärte Ton, den die überwiegend sehr jungen Protagonisten an den Tag legen, auch zunächst stört, nicht zuletzt weil sie Kinder nicht für ironiefähig hält, so hat sie schließlich ein Einsehen. Denn Russel erzähle von "Überlebenskünstlern", die sich ohne Eltern und mit einer gehörigen Portion Unabhängigkeit durchs Leben schlagen müssen, so Seng einverstanden, für die die humor- und ironiegesättigte Erzählung von der Umerziehung der Werwolfskinder in "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim" den Höhepunkt eines insgesamt gelungenen Bandes darstellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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