Der Vater trifft sich mit dubiosen Russen auf dem Schwarzmarkt, die Mutter ist Schauspielerin in Pigalle. Der Sohn, in Paris auf sich allein gestellt, verkehrt mit rätselhaften Frauen: Mit Madeleine Péraud, einer Esoterikspezialistin, teilt er die Liebe zu bestimmten Büchern. Sie bietet ihm an, bei ihr einzuziehen. Madame Hubersen entführt ihn abends nach Versailles. Mit einer dritten Frau, die in einer fremden Wohnung einen Mann erschossen hat, wird er fliehen und ihr helfen, die Spuren zu verwischen. Fünfzig Jahre später versucht der Erzähler, seine Jugenderinnerungen wie Teile eines Puzzles zusammenzufügen. Nobelpreisträger Modiano vermischt dabei auf unnachahmliche Weise Traum und Wirklichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2019Verschwinden sollen auch die menschlichen Details
Aber an Straßen und Bücher muss man erinnern: Patrick Modianos erstes Buch nach dem Literaturnobelpreis
Bücher von Patrick Modiano zu lesen ist oft so, als treffe man alte Bekannte wieder. Den Erzähler Jean D. kennt man noch aus Modianos letzten Romanen, vor allem aus "Gräser der Nacht" (2014), als er sich in eine Frau verliebte, die plötzlich verschwand - was weibliche Figuren bei Modiano häufiger tun. Man erkennt Paris wieder und die sechziger Jahre, Raum und Zeit, in denen Modianos Bücher mit Vorliebe spielen. Auch die alten Kladden sind wieder da, jene Notizbücher, in denen Jean D. nach Spuren seines vergangenen Lebens sucht. "Das einzige Mittel, diese schmalen Dossiers zu entschärfen", schreibt er nun, "besteht darin, einzelne Passagen abzuschreiben und sie dann unter die Seiten eines Romans zu mischen, wie ich es vor dreißig Jahre getan habe. Auf diese Weise wird man nie erfahren, ob sie in die Wirklichkeit gehören oder in den Bereich des Traums."
Damit wäre auch das poetologische Prinzip von Modiano umschrieben. Stets gleitet durch seine Bücher ein Erinnerungsstrom, der eine Mischung aus Unbestimmtheit und Präzision ist, aus Melancholie und Leichtigkeit - vielleicht auch aus Wirklichkeit und Traum, so wie es Jean D. in Modianos jüngstem Buch "Schlafende Erinnerungen" erläutert. Das erzählerische Programm besteht darin, zugleich mit offenen Karten zu spielen und ein Rätsel zu bleiben, und weil dieses Kunststück fast niemand so elegant beherrscht wie der Franzose Modiano, wurde ihm vor fünf Jahren der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Nun, da sein erstes Buch nach dieser Auszeichnung erschienen ist, wurde mit Erleichterung festgestellt, dass sich der Schriftsteller durch diese Ehre nicht hat irritieren lassen. Das kann man so sehen.
Sein neues Buch spielt wieder in den sechziger Jahren, die Jean D. als eine "Zeit der Begegnungen" in Erinnerung hat. Er erinnert sich an Montmartre und Montparnasse, an Cafés im Morgengrauen und Hotels in der Nacht und vor allem an einige Frauen. An Geneviève Dalame, Madeleine Péraud und Madame Hubersen, an Martine Hayward und eine weitere, deren Namen er nicht nennen möchte - "ich misstraue nach fünfzig Jahren noch immer den allzu genauen Details, die ihre Identifizierung erlauben könnten". Denn die namenlose Dame hat einen Mord begangen, aus Versehen, wie sie versichert, aber Genaueres gibt sie nicht preis. Was insofern konsequent ist, als sich dieser Mord damit umstandslos in eine Reihe von mysteriösen Todesfällen eingliedert, die sich durch Modianos Werk zieht. Der Tod als eine spezielle Form des Verschwindens ist ein wiederkehrendes Motiv bei Modiano, dessen Alter Ego Jean D. im jüngsten Werk einer weiteren, diesmal aktiven Form des Verschwindens nachspüren darf: dem Weglaufen nicht nur vor der Polizei, sondern vor allen möglichen Menschen, denen er in jungen Jahren begegnet ist.
Von den anderen Frauen erfährt man nicht viel. Über Geneviève Dalame immerhin, dass sie sich, genauso wie Jean D., für Okkultismus interessierte und über Madeleine Péraud offenbar in einen "Kreis" geriet, in dem "Magie" betrieben wurde. Kurz darauf verschwand sie zum ersten Mal. Sechs Jahre später tauchte sie wieder auf, an der Hand ihren Sohn, aber ob dieses Kind auch der Sohn des Erzählers ist oder überhaupt sein könnte, bleibt ungewiss. Wie alle anderen bleibt auch die Beschreibung dieser Begegnung flüchtig, obwohl Jean D., wie es seit je seine Art ist, mit Details nicht spart. Er erinnert sich an Straßen mit Hausnummern, an Uhrzeiten und die Titel einzelner Bücher. Aber diese Details tragen nichts bei zur Charakterisierung von Menschen und Beziehungen, sondern sie erzeugen eine Stimmung, die, weil sie mehrere Widersprüche in sich vereint, der bevorzugte Lebensraum des Erzählers ist.
Was dieser Raum bietet, sind Möglichkeiten. Ob reale oder fiktive, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass sich in ihm die Wahrnehmungsebenen verschieben dürfen, dass die Zeiten ineinanderfließen und die Dinge des Lebens endlich zusammenkommen. Die Würfel fallen. "Seite für Seite sagte ich mir: Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe . . . das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine schreiben." Das ist ein schönes Bild für ein Unterfangen, das zwar hoffnungslos ist, aber so nachvollziehbar, dass man Jean D. auf seiner Spurensuche durch Paris mit Leichtigkeit folgen kann. Ob man es auch gerne tut, ist dann nur noch eine Frage der Stimmung.
LENA BOPP
Patrick Modiano:
"Schlafende Erinnerungen".
Aus dem Französischen
von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2018. 111 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber an Straßen und Bücher muss man erinnern: Patrick Modianos erstes Buch nach dem Literaturnobelpreis
Bücher von Patrick Modiano zu lesen ist oft so, als treffe man alte Bekannte wieder. Den Erzähler Jean D. kennt man noch aus Modianos letzten Romanen, vor allem aus "Gräser der Nacht" (2014), als er sich in eine Frau verliebte, die plötzlich verschwand - was weibliche Figuren bei Modiano häufiger tun. Man erkennt Paris wieder und die sechziger Jahre, Raum und Zeit, in denen Modianos Bücher mit Vorliebe spielen. Auch die alten Kladden sind wieder da, jene Notizbücher, in denen Jean D. nach Spuren seines vergangenen Lebens sucht. "Das einzige Mittel, diese schmalen Dossiers zu entschärfen", schreibt er nun, "besteht darin, einzelne Passagen abzuschreiben und sie dann unter die Seiten eines Romans zu mischen, wie ich es vor dreißig Jahre getan habe. Auf diese Weise wird man nie erfahren, ob sie in die Wirklichkeit gehören oder in den Bereich des Traums."
Damit wäre auch das poetologische Prinzip von Modiano umschrieben. Stets gleitet durch seine Bücher ein Erinnerungsstrom, der eine Mischung aus Unbestimmtheit und Präzision ist, aus Melancholie und Leichtigkeit - vielleicht auch aus Wirklichkeit und Traum, so wie es Jean D. in Modianos jüngstem Buch "Schlafende Erinnerungen" erläutert. Das erzählerische Programm besteht darin, zugleich mit offenen Karten zu spielen und ein Rätsel zu bleiben, und weil dieses Kunststück fast niemand so elegant beherrscht wie der Franzose Modiano, wurde ihm vor fünf Jahren der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Nun, da sein erstes Buch nach dieser Auszeichnung erschienen ist, wurde mit Erleichterung festgestellt, dass sich der Schriftsteller durch diese Ehre nicht hat irritieren lassen. Das kann man so sehen.
Sein neues Buch spielt wieder in den sechziger Jahren, die Jean D. als eine "Zeit der Begegnungen" in Erinnerung hat. Er erinnert sich an Montmartre und Montparnasse, an Cafés im Morgengrauen und Hotels in der Nacht und vor allem an einige Frauen. An Geneviève Dalame, Madeleine Péraud und Madame Hubersen, an Martine Hayward und eine weitere, deren Namen er nicht nennen möchte - "ich misstraue nach fünfzig Jahren noch immer den allzu genauen Details, die ihre Identifizierung erlauben könnten". Denn die namenlose Dame hat einen Mord begangen, aus Versehen, wie sie versichert, aber Genaueres gibt sie nicht preis. Was insofern konsequent ist, als sich dieser Mord damit umstandslos in eine Reihe von mysteriösen Todesfällen eingliedert, die sich durch Modianos Werk zieht. Der Tod als eine spezielle Form des Verschwindens ist ein wiederkehrendes Motiv bei Modiano, dessen Alter Ego Jean D. im jüngsten Werk einer weiteren, diesmal aktiven Form des Verschwindens nachspüren darf: dem Weglaufen nicht nur vor der Polizei, sondern vor allen möglichen Menschen, denen er in jungen Jahren begegnet ist.
Von den anderen Frauen erfährt man nicht viel. Über Geneviève Dalame immerhin, dass sie sich, genauso wie Jean D., für Okkultismus interessierte und über Madeleine Péraud offenbar in einen "Kreis" geriet, in dem "Magie" betrieben wurde. Kurz darauf verschwand sie zum ersten Mal. Sechs Jahre später tauchte sie wieder auf, an der Hand ihren Sohn, aber ob dieses Kind auch der Sohn des Erzählers ist oder überhaupt sein könnte, bleibt ungewiss. Wie alle anderen bleibt auch die Beschreibung dieser Begegnung flüchtig, obwohl Jean D., wie es seit je seine Art ist, mit Details nicht spart. Er erinnert sich an Straßen mit Hausnummern, an Uhrzeiten und die Titel einzelner Bücher. Aber diese Details tragen nichts bei zur Charakterisierung von Menschen und Beziehungen, sondern sie erzeugen eine Stimmung, die, weil sie mehrere Widersprüche in sich vereint, der bevorzugte Lebensraum des Erzählers ist.
Was dieser Raum bietet, sind Möglichkeiten. Ob reale oder fiktive, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass sich in ihm die Wahrnehmungsebenen verschieben dürfen, dass die Zeiten ineinanderfließen und die Dinge des Lebens endlich zusammenkommen. Die Würfel fallen. "Seite für Seite sagte ich mir: Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe . . . das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine schreiben." Das ist ein schönes Bild für ein Unterfangen, das zwar hoffnungslos ist, aber so nachvollziehbar, dass man Jean D. auf seiner Spurensuche durch Paris mit Leichtigkeit folgen kann. Ob man es auch gerne tut, ist dann nur noch eine Frage der Stimmung.
LENA BOPP
Patrick Modiano:
"Schlafende Erinnerungen".
Aus dem Französischen
von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2018. 111 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein zauberhaft dünnes Buch, das man nie ganz verstehen wird, das man am schönsten begreift, wenn man es nicht vollends zu verstehen versucht." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 22.09.18
"Ein wirklich atmosphärisch sehr dichtes Buch, das in seiner Kürze auch wieder in große Tiefen vordringt." Katharina Borchardt, SWR 2 Lesenswert, 02.09.18
"Es liegt ein Zauber auf diesen Sätzen, auf den vielen Namen der Menschen, Straßen und Orte, auf den Büchern, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 28.08.18
"Das ist der Rhythmus von Modianos Erzählen, daraus entsteht dieser unnachahmliche Sog." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.08.18
"Es hat immer wieder sowas verhangenes, schwebendes, sowas traumhaftes." Gerrit Bartels, DLF Kultur Buchkritik, 21.08.18
"Das Dunkel aber liegt von Anfang an über dem Roman, es färbt die Stimmung dieser unglaublich fesselnden Prosa, der man sich umso weniger entziehen kann, je weniger sie preisgibt." Ulrich Rüdenauer, Stuttgarter Zeitung, 11.01.19
"Ein wirklich atmosphärisch sehr dichtes Buch, das in seiner Kürze auch wieder in große Tiefen vordringt." Katharina Borchardt, SWR 2 Lesenswert, 02.09.18
"Es liegt ein Zauber auf diesen Sätzen, auf den vielen Namen der Menschen, Straßen und Orte, auf den Büchern, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 28.08.18
"Das ist der Rhythmus von Modianos Erzählen, daraus entsteht dieser unnachahmliche Sog." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.08.18
"Es hat immer wieder sowas verhangenes, schwebendes, sowas traumhaftes." Gerrit Bartels, DLF Kultur Buchkritik, 21.08.18
"Das Dunkel aber liegt von Anfang an über dem Roman, es färbt die Stimmung dieser unglaublich fesselnden Prosa, der man sich umso weniger entziehen kann, je weniger sie preisgibt." Ulrich Rüdenauer, Stuttgarter Zeitung, 11.01.19
Das Faszinosum dieser Unpräzision, dass alles irgendwie körperlos ist, macht, dass man - auch dank der Übersetzerin - immer weiter liest und bis zuletzt gefesselt ist. Rudolf von Bitter Süddeutsche Zeitung 20200707