Irgendwo tief im europäischen Wald begegnen sie sich. Grenzgänger, Schmugglerinnen, Flüchtlinge, Arbeiterinnen, Asylbewerber, Kontrolleure, Künstlerinnen, Instrumentalistinnen, Schauspieler, Journalisten, Stipendiaten, Logistiker, Studentinnen, Geister. Sie kommen von überall. Sie alle sind Stellvertreter unserer Zeit, und sie führen ein Gespräch. Über Herkunft und Gerechtigkeit, über Körper und Staat, Import und Export, Heimat und Migration, über Glück, Musik und den Tod. Dorothee Elmiger hat einen Roman geschrieben, der die brisanten Fragen unserer Gegenwart ausleuchtet. Und sie findet dafür eine Sprache, wie sie zuvor in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch nicht zu hören war.
"In "Schlafgänger" wird Elmiger politisch: ein kämpferischer Roman über Herkunft und Gerechtigkeit." -- BÖRSENBLATT
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wiebke Porombka hat ein Problem mit diesem Buch von Dorothee Elmiger. Zwar scheint ihr der Text mit seiner politischen Agenda, seinen Themen Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung (des Körpers) nah am Puls der Zeit und durch seinen engagierten Gestus auch äußerst human zu sein. Das Fehlen jeglicher Kommentierung seitens der Autorin, das Nebeneinander von Szenen, Motiven (der Schlaf z. B.) und Stimmen sowie das Verhandeln poetologischer Fragen, etwa nach dem Engagement von Literatur, führen laut Porombka jedoch dazu, dass die Lektüre mühsam und klischeegefährdet wird. So wichtig ihr der Text auch erscheint, so sehr fehlt ihr daran bald das sinnliche, körperliche Element von Literatur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2014Verfremdung
der Schweiz
Gespenstisch: Dorothee Elmigers
Roman „Schlafgänger“
„Der Journalist“, eine der Figuren in Dorothee Elmigers neuem Roman „Schlafgänger“, berichtet davon, wie Flüchtlinge sich die Fingerkuppen mit Schleifpapier oder an rauen Wänden verletzen, damit man von ihnen keine Fingerabdrücke nehmen kann. In den „Empfangszentren“ an der Grenze müssten die Beamten zuweilen zwei bis drei Wochen warten, bis sich die abgeschliffenen Fingerkuppen wieder erholten und also eine Identifizierung möglich sei. Elmigers Buch „Schlafgänger“ handelt von diesen Verletzungen, von den Körpern, die sie ertragen, von Grenzen und Entgrenzungen, von Fluchten und dem Wagnis, sich unter dem Druck der Verhältnisse ein anderes Leben schaffen zu müssen. Um eine Identität zu gewinnen, verleugnen die Flüchtlinge ihre Identität. Transitorische Gestalten im Niemandsland: Die Grenze trennt nicht nur das Alte vom Neuen, sondern stellt auch das Ich an sich in Frage – es sei denn, man gehört zu den Privilegierten, denen alle Orte offen stehen. „Schlafgänger“ ist ein artifizielles, trotz aller Geschichten und Anekdoten abstrakt und kühl wirkendes, auf merkwürdige Weise zerrissenes Buch.
Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion sei äußerst kompliziert, sagt eine sich mit „Grenzen“ beschäftigende Schriftstellerin in Elmigers Prosa-Sprechtheater. Der Stoff aber müsse immer von draußen kommen. Das Thema der „Schlafgänger“ drängt tatsächlich von draußen herein, es ist brisant und hochaktuell. Die junge Schweizer Autorin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, schreibt nicht zuletzt über die Enge ihres Landes und – auf poetisch verfremdete Weise – über die dort erbittert geführte Zuwanderungsdebatte der letzten Jahre, die in den umstrittenen Referendumsentscheid vom Februar mündete. Aber Elmiger löst sich von der Schweizer Befindlichkeit. Zurückgehend bis zu Dädalus’ Flucht und Ikarus’ Tod, erzählt sie von der Menschheits- als Migrationsgeschichte und der disziplinierenden Macht von Ordnungssystemen.
Dafür lässt sie in einem Waldgebiet eine Reihe von Figuren auftreten, Sprechpuppen, die sich Episoden aus ihrem Leben berichten, Statthalter unserer Gegenwart, die sich ins Wort fallen, Schlaflose und Schlaftrunkene, Aufklärer und Ausgestoßene. Im Vergleich zu ihrem ersten Buch „Einladung an die Waghalsigen“ wirkt „Schlafgänger“ noch fragmentierter. Assoziativ sind die Gedankenfetzen aneinander geklebt, die zersplitterte Form von Elmigers Roman verweist auf die Unübersichtlichkeit der eingestreuten Realitätspartikel. So entsteht ein dekonstruktivistisches Verwirrspiel, das den Leser haltlos zwischen den Sätzen hängen lässt. Die Grenze verläuft nicht nur willkürlich zwischen Ländern, sondern auch zwischen den Figuren und den Sprechakten, mit denen Elmiger operiert.
Der Journalist, der Logistiker, die Übersetzerin, die Schriftstellerin, sie und einige mehr sind selbst Grenzgänger. Sie regeln den Verkehr von Gedanken und Waren, die im Gegensatz zu Körpern umstandslos alle Grenzen passieren. Wir wohnen ihren Begegnungen bei, die in einer unbenannten Schwellenregion stattfinden. Schlafgänger waren im 19. Jahrhundert jene in die Städte strömenden Arbeiter, die sich keinen eigenen Schlafplatz leisten konnten und stundenweise ein Bett bezogen, bevor sie zurück an die Maschinen gezwungen wurden. Die Schlafgänger bei Elmiger haben ebenfalls keine Heimat, kommen nicht zur Ruhe, sie sind Schlafwandler durch die Debatten und Verwerfungen der Gegenwart. Im Schlaf, sagt die Übersetzerin, „sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen“. Nicht nur die Alpen sind damit gemeint. Man könnte „Gebirge“ auch durch „Gebilde“ ersetzen und würde der Angst, von welcher dieses Buch handelt, nahe kommen.
Die Flüchtlinge als Gespenster, die in Europa umgehen? Ein Gespensterbuch also, spielend in „Gespensterluft“? Elmigers Gestalten jedenfalls flirren transparent und unfassbar durch den Roman, schwatzen und schwadronieren in Robert-Walser-haften Sätzen. Manchmal verliert der Leser den Faden nach wenigen Zeilen, als würde mit dem Leben der Figuren auch die Sprache entzwei gerissen. „Schlafgänger“ ist eins dieser Bücher, die aus dem Traum geboren scheinen, in dem das Tagesgeschehen auf verschrobene Weise wiederkehrt. Konsistenz und Kontingenz stehen in einem prekären Verhältnis. In dieser Spannung verharrt man, mal genervt, mal aufgeschreckt, das macht die Lektüre interessant, anstrengend, verwirrend. Es verbirgt sich in der Form dieses Romans die Erkenntnis, dass „erst die Berührung des anderen, und sei diese Berührung zärtlich oder nicht“ ein Bewusstsein dafür schaffe, „dass es Dinge, Menschen gebe, die ganz unabhängig von einem selbst existierten und doch in einem deutlichen Zusammenhang. Durch die Berührung, sagte er, plötzlich laut, verstehe ich erst, dass es andere gibt, aber auch: dass ich getrennt bin von ihnen und allein.“
ULRICH RÜDENAUER
Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Roman. DuMont Verlag, Köln 2014. 142 Seiten, 18 Euro, E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Schweiz
Gespenstisch: Dorothee Elmigers
Roman „Schlafgänger“
„Der Journalist“, eine der Figuren in Dorothee Elmigers neuem Roman „Schlafgänger“, berichtet davon, wie Flüchtlinge sich die Fingerkuppen mit Schleifpapier oder an rauen Wänden verletzen, damit man von ihnen keine Fingerabdrücke nehmen kann. In den „Empfangszentren“ an der Grenze müssten die Beamten zuweilen zwei bis drei Wochen warten, bis sich die abgeschliffenen Fingerkuppen wieder erholten und also eine Identifizierung möglich sei. Elmigers Buch „Schlafgänger“ handelt von diesen Verletzungen, von den Körpern, die sie ertragen, von Grenzen und Entgrenzungen, von Fluchten und dem Wagnis, sich unter dem Druck der Verhältnisse ein anderes Leben schaffen zu müssen. Um eine Identität zu gewinnen, verleugnen die Flüchtlinge ihre Identität. Transitorische Gestalten im Niemandsland: Die Grenze trennt nicht nur das Alte vom Neuen, sondern stellt auch das Ich an sich in Frage – es sei denn, man gehört zu den Privilegierten, denen alle Orte offen stehen. „Schlafgänger“ ist ein artifizielles, trotz aller Geschichten und Anekdoten abstrakt und kühl wirkendes, auf merkwürdige Weise zerrissenes Buch.
Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion sei äußerst kompliziert, sagt eine sich mit „Grenzen“ beschäftigende Schriftstellerin in Elmigers Prosa-Sprechtheater. Der Stoff aber müsse immer von draußen kommen. Das Thema der „Schlafgänger“ drängt tatsächlich von draußen herein, es ist brisant und hochaktuell. Die junge Schweizer Autorin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, schreibt nicht zuletzt über die Enge ihres Landes und – auf poetisch verfremdete Weise – über die dort erbittert geführte Zuwanderungsdebatte der letzten Jahre, die in den umstrittenen Referendumsentscheid vom Februar mündete. Aber Elmiger löst sich von der Schweizer Befindlichkeit. Zurückgehend bis zu Dädalus’ Flucht und Ikarus’ Tod, erzählt sie von der Menschheits- als Migrationsgeschichte und der disziplinierenden Macht von Ordnungssystemen.
Dafür lässt sie in einem Waldgebiet eine Reihe von Figuren auftreten, Sprechpuppen, die sich Episoden aus ihrem Leben berichten, Statthalter unserer Gegenwart, die sich ins Wort fallen, Schlaflose und Schlaftrunkene, Aufklärer und Ausgestoßene. Im Vergleich zu ihrem ersten Buch „Einladung an die Waghalsigen“ wirkt „Schlafgänger“ noch fragmentierter. Assoziativ sind die Gedankenfetzen aneinander geklebt, die zersplitterte Form von Elmigers Roman verweist auf die Unübersichtlichkeit der eingestreuten Realitätspartikel. So entsteht ein dekonstruktivistisches Verwirrspiel, das den Leser haltlos zwischen den Sätzen hängen lässt. Die Grenze verläuft nicht nur willkürlich zwischen Ländern, sondern auch zwischen den Figuren und den Sprechakten, mit denen Elmiger operiert.
Der Journalist, der Logistiker, die Übersetzerin, die Schriftstellerin, sie und einige mehr sind selbst Grenzgänger. Sie regeln den Verkehr von Gedanken und Waren, die im Gegensatz zu Körpern umstandslos alle Grenzen passieren. Wir wohnen ihren Begegnungen bei, die in einer unbenannten Schwellenregion stattfinden. Schlafgänger waren im 19. Jahrhundert jene in die Städte strömenden Arbeiter, die sich keinen eigenen Schlafplatz leisten konnten und stundenweise ein Bett bezogen, bevor sie zurück an die Maschinen gezwungen wurden. Die Schlafgänger bei Elmiger haben ebenfalls keine Heimat, kommen nicht zur Ruhe, sie sind Schlafwandler durch die Debatten und Verwerfungen der Gegenwart. Im Schlaf, sagt die Übersetzerin, „sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen“. Nicht nur die Alpen sind damit gemeint. Man könnte „Gebirge“ auch durch „Gebilde“ ersetzen und würde der Angst, von welcher dieses Buch handelt, nahe kommen.
Die Flüchtlinge als Gespenster, die in Europa umgehen? Ein Gespensterbuch also, spielend in „Gespensterluft“? Elmigers Gestalten jedenfalls flirren transparent und unfassbar durch den Roman, schwatzen und schwadronieren in Robert-Walser-haften Sätzen. Manchmal verliert der Leser den Faden nach wenigen Zeilen, als würde mit dem Leben der Figuren auch die Sprache entzwei gerissen. „Schlafgänger“ ist eins dieser Bücher, die aus dem Traum geboren scheinen, in dem das Tagesgeschehen auf verschrobene Weise wiederkehrt. Konsistenz und Kontingenz stehen in einem prekären Verhältnis. In dieser Spannung verharrt man, mal genervt, mal aufgeschreckt, das macht die Lektüre interessant, anstrengend, verwirrend. Es verbirgt sich in der Form dieses Romans die Erkenntnis, dass „erst die Berührung des anderen, und sei diese Berührung zärtlich oder nicht“ ein Bewusstsein dafür schaffe, „dass es Dinge, Menschen gebe, die ganz unabhängig von einem selbst existierten und doch in einem deutlichen Zusammenhang. Durch die Berührung, sagte er, plötzlich laut, verstehe ich erst, dass es andere gibt, aber auch: dass ich getrennt bin von ihnen und allein.“
ULRICH RÜDENAUER
Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Roman. DuMont Verlag, Köln 2014. 142 Seiten, 18 Euro, E-Book 14,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2014Über Leid zu schreiben ist ausbeuterisch
Aber was bleibt dann als Schriftstellerin noch zu tun? Dorothee Elmiger macht ihren Roman "Schlafgänger" zum politischen Schlachtfeld
Mit Blick auf den weithin beklagten Mangel an politischer Ambition in der aktuellen deutschsprachigen Literatur und mehr noch angesichts des jüngsten Volksentscheids in ihrer Heimat scheint es, als habe die junge Schweizer Autorin Dorothee Elmiger mit ihrem zweiten Roman "Schlafgänger" das Buch der Stunde geschrieben. Nicht nur Themen wie Zuwanderungsbeschränkung und Fremdenfeindlichkeit werden darin diskutiert, es geht auch um Grenzen, Ausgrenzungen und vor allem darum, welchen Einfluss diese Mechanismen auf den Körper des Einzelnen haben.
Elmiger schaut auf Flüchtlinge, denen durch äußere Zuweisungen, durch Gesetze und Ordnungen, die Daseinsberechtigung abgesprochen wird, die sich beim Versuch, Grenzen zu überwinden, selbst ihrer individuellen Merkmale berauben, indem sie sich die Fingerkuppen abschleifen. Elmigers Prinzip ist es dabei, nicht zu kommentieren, sondern durch das Nebeneinanderstellen von Szenen das Absurde gesellschaftlicher Ordnungen sichtbar zu machen. So werden immer wieder auch Reisende herbeizitiert, denen das Überqueren von Grenzen gestattet ist, während es anderen versagt bleibt.
Das Motiv des Schlafs, das den Roman durchzieht, dient der Autorin zur Verdeutlichung des Unmenschlichen solcher Praktiken. Als anthropologisches Grundbedürfnis ist der Schlaf Symbol der Gleichheit, die indes dort unterlaufen wird, wo Menschen die Befriedigung dieses Bedürfnisses verwehrt wird. So wie die titelgebenden, aus der Industrialisierung bekannten Schlafgänger, die sich nur für ein paar Stunden in fremde Betten einmieten und auch dort zumeist keinen Schlaf finden konnten, unbehauste Menschen waren, so steht es heute um jene, denen mit der Staatszugehörigkeit auch die Identität entzogen wird.
Für Elmiger schreibt sich diese universelle Verlorenheit als Signatur in die Körper dieser Menschen ein: Auf dem unterirdischen Bahnsteig des Zürcher Flughafens, so wird es in einer Szene beschrieben, liegt ein Mann schreiend am Boden und schlägt auf sich selbst ein, während zwei Uniformierte auf ihn einreden, ohne ihn zu berühren. Der Beobachterin ist klar, dass es sich um einen Flüchtling handeln muss und dass "weder die unbekannte Sprache des Mannes zu diesem Schluss führte noch die Tatsache, dass dies der Flughafen war, sondern allein der Anblick des Körpers, der auf dem Bahnsteig lag und sich in diesem Moment in einem verlassenen Raum zu befinden schien, der anderen, mir nicht bekannten Gesetzen und Regeln unterlag".
Vorgeordnet sind den zutiefst humanen und wütenden Betrachtungen Elmigers zwei poetologische Fragen, die ihren Roman nicht weniger engagiert machen, wohl aber dessen Lektüre mühsam: die nach der Legitimität von politischem Erzählen einerseits und der Wirkungsmacht von Literatur andererseits. Dass Elmiger diese Fragen für sich bereits beantwortet hat und dem Leser nun das Resultat präsentiert, bedingt die Form, die die 1985 in Wetzikon geborene Autorin ihrem Roman zugrunde legt. Wie schon in ihrem Debüt "Einladung an die Waghalsigen" aus dem Jahr 2010, dem Entwurf einer postapokalyptischen Trümmerlandschaft, die sich aus Diskursfragmenten zusammensetzt, arbeitet Elmiger in "Schlafgänger" mit Textbausteinen, die in diesem Fall jeweils einer Figurenrede entsprechen.
Stets bleibt ein wenig unklar, wann die Personen tatsächlich auf derselben Raum-Zeit-Achse wandeln und wann sie nur zufällig dieselben Themen streifen. Auch wenn der explizite Rahmen unausgesprochen bleibt, verweist Elmigers Konstruktion aber immerhin vage auf literarische Vorbilder wie Hoffmanns "Serapionsbrüder" oder Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter".
Die Sprecher - sie als Figuren oder Personen zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus - werden zu Trägern verschiedener Positionen und unterschiedlicher Annäherungsweisen an die Wirklichkeit, die mitunter nah an, wenn nicht jenseits der Grenze des Klischees liegen: Während der Student seine Ausführungen stets mit kulturtheoretischem Wissen unterfüttert, ist der Journalist der Verfechter des Faktischen. In seine Reden montiert Elmiger immer wieder Stimmen aus den Medien, die sich auch im Schriftbild vom übrigen Text abheben.
Die skrupulöseste unter den Rednern ist die Schriftstellerin. Sie hat zwar gerade den Versuch unternommen, sich dem Phänomen der Grenzen und ihrer Auswirkungen auf den menschlichen Körper literarisch zu nähern. Zugleich aber ist ihr dieses Unterfangen unbehaglich: "In einem Brief schrieb die Schriftstellerin, sie habe nach dem Gang durch den Wald ihre Arbeit an dem Text, der die Grenze behandle, verworfen, sie sei Schriftstellerin, schrieb die Schriftstellerin, und der Umstand, dass die missliche Lage an ebendieser Grenze ihr schriftstellerisches Kapital darstelle, sei unerträglich ..."
Der Schriftstellerin ist bei solchen Aussagen aber nicht recht über den Weg zu trauen, zu oft widersprechen sich ihre Bekundungen. Dennoch hat es den Anschein, als machte Elmiger sie zum Sprachrohr ihrer eigenen Zweifel an der Legitimität des politischen Schreibens: Inwiefern ist es lauter, sich am Elend anderer zu bereichern, und sei es nur symbolisch, indem man sich auf diese Weise einen Inhalt schafft? Das literarische Verfügen über fremde Körper meint eben auch, sie zu Objekten zu machen und sie sich anzueignen.
Dass Elmiger die Wirkungsmacht von Literatur hoch einschätzt, macht ihr Unternehmen noch problematischer. Das Nacherzählen von Folter und körperlicher Demütigung etwa, heißt es an einer Stelle, vollziehe den Prozess der Demütigung selbst noch einmal. Nur das Nicht-Erzählen des Leids wird in diesem Sinne zur humanen Geste.
Das ist das Dilemma, in dem Elmiger steckt. Auch wenn man durch das variierende Wiederholen von Szenen und Motiven, die von unterschiedlichen Sprechern vorgetragen werden, hin und wieder choreographische Elemente in ihrer Diskursmontage ausmachen kann, widerfährt diesem Text doch etwas Ähnliches wie den Menschen, die er zum Gegenstand hat: Er wird in einem Maße seiner Körperlichkeit, seiner natürlichen Sinnlichkeit beraubt, dass er sich vor dem Leser aufzulösen droht.
WIEBKE POROMBKA
Dorothee Elmiger: "Schlafgänger". Roman. Dumont Verlag, Köln 2014. 142 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber was bleibt dann als Schriftstellerin noch zu tun? Dorothee Elmiger macht ihren Roman "Schlafgänger" zum politischen Schlachtfeld
Mit Blick auf den weithin beklagten Mangel an politischer Ambition in der aktuellen deutschsprachigen Literatur und mehr noch angesichts des jüngsten Volksentscheids in ihrer Heimat scheint es, als habe die junge Schweizer Autorin Dorothee Elmiger mit ihrem zweiten Roman "Schlafgänger" das Buch der Stunde geschrieben. Nicht nur Themen wie Zuwanderungsbeschränkung und Fremdenfeindlichkeit werden darin diskutiert, es geht auch um Grenzen, Ausgrenzungen und vor allem darum, welchen Einfluss diese Mechanismen auf den Körper des Einzelnen haben.
Elmiger schaut auf Flüchtlinge, denen durch äußere Zuweisungen, durch Gesetze und Ordnungen, die Daseinsberechtigung abgesprochen wird, die sich beim Versuch, Grenzen zu überwinden, selbst ihrer individuellen Merkmale berauben, indem sie sich die Fingerkuppen abschleifen. Elmigers Prinzip ist es dabei, nicht zu kommentieren, sondern durch das Nebeneinanderstellen von Szenen das Absurde gesellschaftlicher Ordnungen sichtbar zu machen. So werden immer wieder auch Reisende herbeizitiert, denen das Überqueren von Grenzen gestattet ist, während es anderen versagt bleibt.
Das Motiv des Schlafs, das den Roman durchzieht, dient der Autorin zur Verdeutlichung des Unmenschlichen solcher Praktiken. Als anthropologisches Grundbedürfnis ist der Schlaf Symbol der Gleichheit, die indes dort unterlaufen wird, wo Menschen die Befriedigung dieses Bedürfnisses verwehrt wird. So wie die titelgebenden, aus der Industrialisierung bekannten Schlafgänger, die sich nur für ein paar Stunden in fremde Betten einmieten und auch dort zumeist keinen Schlaf finden konnten, unbehauste Menschen waren, so steht es heute um jene, denen mit der Staatszugehörigkeit auch die Identität entzogen wird.
Für Elmiger schreibt sich diese universelle Verlorenheit als Signatur in die Körper dieser Menschen ein: Auf dem unterirdischen Bahnsteig des Zürcher Flughafens, so wird es in einer Szene beschrieben, liegt ein Mann schreiend am Boden und schlägt auf sich selbst ein, während zwei Uniformierte auf ihn einreden, ohne ihn zu berühren. Der Beobachterin ist klar, dass es sich um einen Flüchtling handeln muss und dass "weder die unbekannte Sprache des Mannes zu diesem Schluss führte noch die Tatsache, dass dies der Flughafen war, sondern allein der Anblick des Körpers, der auf dem Bahnsteig lag und sich in diesem Moment in einem verlassenen Raum zu befinden schien, der anderen, mir nicht bekannten Gesetzen und Regeln unterlag".
Vorgeordnet sind den zutiefst humanen und wütenden Betrachtungen Elmigers zwei poetologische Fragen, die ihren Roman nicht weniger engagiert machen, wohl aber dessen Lektüre mühsam: die nach der Legitimität von politischem Erzählen einerseits und der Wirkungsmacht von Literatur andererseits. Dass Elmiger diese Fragen für sich bereits beantwortet hat und dem Leser nun das Resultat präsentiert, bedingt die Form, die die 1985 in Wetzikon geborene Autorin ihrem Roman zugrunde legt. Wie schon in ihrem Debüt "Einladung an die Waghalsigen" aus dem Jahr 2010, dem Entwurf einer postapokalyptischen Trümmerlandschaft, die sich aus Diskursfragmenten zusammensetzt, arbeitet Elmiger in "Schlafgänger" mit Textbausteinen, die in diesem Fall jeweils einer Figurenrede entsprechen.
Stets bleibt ein wenig unklar, wann die Personen tatsächlich auf derselben Raum-Zeit-Achse wandeln und wann sie nur zufällig dieselben Themen streifen. Auch wenn der explizite Rahmen unausgesprochen bleibt, verweist Elmigers Konstruktion aber immerhin vage auf literarische Vorbilder wie Hoffmanns "Serapionsbrüder" oder Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter".
Die Sprecher - sie als Figuren oder Personen zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus - werden zu Trägern verschiedener Positionen und unterschiedlicher Annäherungsweisen an die Wirklichkeit, die mitunter nah an, wenn nicht jenseits der Grenze des Klischees liegen: Während der Student seine Ausführungen stets mit kulturtheoretischem Wissen unterfüttert, ist der Journalist der Verfechter des Faktischen. In seine Reden montiert Elmiger immer wieder Stimmen aus den Medien, die sich auch im Schriftbild vom übrigen Text abheben.
Die skrupulöseste unter den Rednern ist die Schriftstellerin. Sie hat zwar gerade den Versuch unternommen, sich dem Phänomen der Grenzen und ihrer Auswirkungen auf den menschlichen Körper literarisch zu nähern. Zugleich aber ist ihr dieses Unterfangen unbehaglich: "In einem Brief schrieb die Schriftstellerin, sie habe nach dem Gang durch den Wald ihre Arbeit an dem Text, der die Grenze behandle, verworfen, sie sei Schriftstellerin, schrieb die Schriftstellerin, und der Umstand, dass die missliche Lage an ebendieser Grenze ihr schriftstellerisches Kapital darstelle, sei unerträglich ..."
Der Schriftstellerin ist bei solchen Aussagen aber nicht recht über den Weg zu trauen, zu oft widersprechen sich ihre Bekundungen. Dennoch hat es den Anschein, als machte Elmiger sie zum Sprachrohr ihrer eigenen Zweifel an der Legitimität des politischen Schreibens: Inwiefern ist es lauter, sich am Elend anderer zu bereichern, und sei es nur symbolisch, indem man sich auf diese Weise einen Inhalt schafft? Das literarische Verfügen über fremde Körper meint eben auch, sie zu Objekten zu machen und sie sich anzueignen.
Dass Elmiger die Wirkungsmacht von Literatur hoch einschätzt, macht ihr Unternehmen noch problematischer. Das Nacherzählen von Folter und körperlicher Demütigung etwa, heißt es an einer Stelle, vollziehe den Prozess der Demütigung selbst noch einmal. Nur das Nicht-Erzählen des Leids wird in diesem Sinne zur humanen Geste.
Das ist das Dilemma, in dem Elmiger steckt. Auch wenn man durch das variierende Wiederholen von Szenen und Motiven, die von unterschiedlichen Sprechern vorgetragen werden, hin und wieder choreographische Elemente in ihrer Diskursmontage ausmachen kann, widerfährt diesem Text doch etwas Ähnliches wie den Menschen, die er zum Gegenstand hat: Er wird in einem Maße seiner Körperlichkeit, seiner natürlichen Sinnlichkeit beraubt, dass er sich vor dem Leser aufzulösen droht.
WIEBKE POROMBKA
Dorothee Elmiger: "Schlafgänger". Roman. Dumont Verlag, Köln 2014. 142 S., geb., 18,- [Euro].
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