»Von schmerzhafter Intensität und hervorragend komponiert. Kein Wort ist hier zu viel, keines zu wenig.« Brigitte WIR
Niemand hätte gedacht, dass sie bleiben würde. Nachdem passiert war, was alle nur das Unglück nannten: der Schuss im Chicorée-Treibhaus. Sie blieb, aber sie wollte nicht wie eine Nonne leben. Deshalb gab sie eine Anzeige auf, unmissverständlich. Die Begegnungen mit den unbekannten Männern verliefen stets nach demselben Muster: kennenlernen, erzählen, eine gemeinsame Nacht. Dabei ließ sie die Erinnerung an ihren toten Mann jahrelang nicht los. Und immer wieder die Frage: Warum hatte er es getan? - Bis zu jenem eiskalten Tag und jener schlaflosen Nacht.
Niemand hätte gedacht, dass sie bleiben würde. Nachdem passiert war, was alle nur das Unglück nannten: der Schuss im Chicorée-Treibhaus. Sie blieb, aber sie wollte nicht wie eine Nonne leben. Deshalb gab sie eine Anzeige auf, unmissverständlich. Die Begegnungen mit den unbekannten Männern verliefen stets nach demselben Muster: kennenlernen, erzählen, eine gemeinsame Nacht. Dabei ließ sie die Erinnerung an ihren toten Mann jahrelang nicht los. Und immer wieder die Frage: Warum hatte er es getan? - Bis zu jenem eiskalten Tag und jener schlaflosen Nacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Die Zeit lässt sich nicht kneten wie ein Kuchenteig
Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor hat eine frühe Novelle neu bearbeitet. Ebenfalls neu übersetzt, erscheint nun "Schlaflose Nacht" zum Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse.
Von Rose-Maria Gropp
Der Name der Frau, die erzählt, fällt kein einziges Mal. Der Name des Mannes, mit dem sie verheiratet war, schon. Er hieß Ton, er war ein studierter Jurist und arbeitete als Bauer. Die Frau und Ton lernten sich als Studenten kennen, sie heirateten, zogen gemeinsam aufs Land. Nach etwas mehr als vierzehn Monaten tötete sich Ton mit einem Pistolenschuss, er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er tat es "hinter dem großen Gewächshaus für experimentelle Treibhauskultur - er baute dort in übereinandergestapelten Kisten Chicorée an, ohne ein Gramm Erde". Die Dunkelheit des Treibhauses hinter dem schweren Gummivorhang und das Plätschern für die Bewässerung der Wurzeln dort hatte die Frau gemocht. Auch sie ist, als es geschieht, fünfundzwanzig Jahre alt, und sie weiß, noch in der Erinnerung: "Wir waren uns in Bezug auf uns sofort einig gewesen. Nennt man so etwas Liebe auf den ersten Blick?" Im September 1971 schießt sich Ton die Neun-Millimeter-Parabellum durch den Schädel. Die Frau ist weiterhin Lehrerin in der Dorfschule des Orts, sie ist dort geblieben.
Viele Jahre später in einer Nacht, in der sie keinen Schlaf findet, steht die Ich-Erzählerin in ihrer Küche und bäckt Kuchen, erst einen Butterkuchen mit Zimt, dann einen Russischen Napfkuchen, um genau zu sein. Nur en passant ist zu erfahren, wie alt die Frau jetzt ist; seit dreizehneinhalb Jahren ist sie allein, also in ihrem neununddreißigsten Jahr. Oben im Haus schläft derweil ein Fremder, den sie vormittags am Bahnhof abgeholt hat. Es ist nicht der erste fremde Mann, den sie ins Haus lässt, seit jenem "Unglück". Sie hat sich da eine Methode angeeignet, zu der Tons Schwester ihr geraten hatte, mittels einschlägiger Anzeigen ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch der Mann in ihrem Schlafzimmer bleibt namenlos, während sie unten in der eiskalten Küche, neben sich ihren Hund Anatole, den auch Ton schon kannte, arbeitet - an den Kuchen und an ihrem Leben.
Am Beginn der Liebe sind Ton und die Frau eines Wintertags mit ihren Schlittschuhen auf dünnem Eis eingebrochen, sie überlebten. Der Fremde hatte ihr nachmittags auch vom Rand des Wassers berichtet, an dem er einmal stand, als Männer in einem Rettungsboot zurückkamen von der See: "Ich erinnere mich an ihre Gesichter. Sie hatten den Moment erlebt, in dem sie nicht mehr an ihre Suche glaubten." In der nächtlichen Küche lässt sie ihre Gedanken schweifen, Revue passieren, was geschah, vor und seit dem Selbstmord ihres Mannes. Ein einziger Kuchen hätte dafür nicht ausgereicht. Nicht für die Rückblenden in ihrem Kopf, nicht für die Suche nach den Schicksalsgründen, und wäre es der eine Verdacht, dass es eine andere Frau gegeben haben könnte.
Und es sind auch ziemlich genau diese Backstunden, die es braucht, um die "Schlaflose Nacht" mit der Frau zu teilen - lesend. Es ist eine phantastische zeitliche Ökonomie des Schreibens, die Margriet de Moor da gelingt. Während die Teige quellen, entfaltet sich der Geruch eines Geheimnisses, das doch nicht ergründbar scheint. Womöglich ist es bloß ein Rätsel, das nicht lösbar ist.
Die Novelle erschien schon einmal, vor siebenundzwanzig Jahren im niederländischen Original, dann 1994 in deutscher Übersetzung von Rotraut Keller; damals lautete der Titel "Op het eerste gezicht" (Auf den ersten Blick), was beim Lesen jetzt kaum noch Sinn ergibt. Denn die Autorin hat ihren Text neu bearbeitet, hin zu eben einer "Schlaflosen Nacht", die packende neue Übersetzung ist von Helga van Beuningen. Das Ergebnis des Vergleichs mit der ersten Fassung ist verblüffend, wenngleich die Veränderungen minimal anmuten - auf den ersten Blick. Es ist dieselbe Geschichte, und es ist doch eine ganz andere: Der Textkörper ist gestrafft, nicht verlogen wie bei einer Schönheitsoperation, sondern hin zu geschärfter Kontur. An die Stelle einer beredten Geschichte, bei der höfliche Verbindlichkeit dem Leser gegenüber herrschte, ist ein präziser Rhythmus getreten.
Die spürbare Musikalität Margriet de Moors, die als junge Frau Klavier und Gesang studierte, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte, durchzieht ihr gesamtes Werk und hat sie zu einer der wichtigsten Autorinnen ihres Landes gemacht. Die Überarbeitung der so lange zurückliegenden Novelle und der geänderte Titel müssen ihr wichtig gewesen sein. Ihre Kunst strahlt da großartig gebündelt. Es ist ein lakonisches, ein elliptisches Erzählen, das von Verlust weiß, vielleicht auch von Gewinn in einem Leben. Die Nacht ist immer Verräterin und Ratgeberin, und es ist grade so, als ob das feste Kneten der Teige mit den Händen für die nicht mehr ganz junge Frau diesen freien Flug der Gedanken zusätzlich antreibt: "Jetzt muss ich ziemlich viel Kraft aufwenden. Ich stelle mich etwas breitbeiniger hin und hole Luft. Mitten in der Nacht beginne ich, auf den bleichen, gefügigen Klumpen vor meinem Bauch einzudreschen." So ein Lebensrätsel ist eine zähe Masse. Und oben schläft ein Fremder, der eine Familie hat und dessen Frau, als er schlief, einen Staubsauger nach ihm geschmissen hat. Die Banalität hat viele Facetten.
Die "Schlaflose Nacht" hat ein Doppelgesicht, kaum ist zu entscheiden, ob die dazugehörige unerhörte Begebenheit so viele Jahre vor dem Durchkneten der Kuchen lag oder ob sie nach dieser Erinnerungsarbeit eingetreten sein könnte. "Der russische Napfkuchen muss aus dem Ofen", heißt der letzte Satz. Die Frau war nach oben, zum fremden Mann in die "glühende Wärme" unter der Decke geschlüpft, als der Küchenwecker klingelt. Alles kann anders werden. Kann alles anders werden? Margriet de Moor hat eine wundervolle Parabel auf die Dinge des Lebens geschrieben.
Margriet de Moor: "Schlaflose Nacht".
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Hanser Verlag, München 2016. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor hat eine frühe Novelle neu bearbeitet. Ebenfalls neu übersetzt, erscheint nun "Schlaflose Nacht" zum Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse.
Von Rose-Maria Gropp
Der Name der Frau, die erzählt, fällt kein einziges Mal. Der Name des Mannes, mit dem sie verheiratet war, schon. Er hieß Ton, er war ein studierter Jurist und arbeitete als Bauer. Die Frau und Ton lernten sich als Studenten kennen, sie heirateten, zogen gemeinsam aufs Land. Nach etwas mehr als vierzehn Monaten tötete sich Ton mit einem Pistolenschuss, er war fünfundzwanzig Jahre alt. Er tat es "hinter dem großen Gewächshaus für experimentelle Treibhauskultur - er baute dort in übereinandergestapelten Kisten Chicorée an, ohne ein Gramm Erde". Die Dunkelheit des Treibhauses hinter dem schweren Gummivorhang und das Plätschern für die Bewässerung der Wurzeln dort hatte die Frau gemocht. Auch sie ist, als es geschieht, fünfundzwanzig Jahre alt, und sie weiß, noch in der Erinnerung: "Wir waren uns in Bezug auf uns sofort einig gewesen. Nennt man so etwas Liebe auf den ersten Blick?" Im September 1971 schießt sich Ton die Neun-Millimeter-Parabellum durch den Schädel. Die Frau ist weiterhin Lehrerin in der Dorfschule des Orts, sie ist dort geblieben.
Viele Jahre später in einer Nacht, in der sie keinen Schlaf findet, steht die Ich-Erzählerin in ihrer Küche und bäckt Kuchen, erst einen Butterkuchen mit Zimt, dann einen Russischen Napfkuchen, um genau zu sein. Nur en passant ist zu erfahren, wie alt die Frau jetzt ist; seit dreizehneinhalb Jahren ist sie allein, also in ihrem neununddreißigsten Jahr. Oben im Haus schläft derweil ein Fremder, den sie vormittags am Bahnhof abgeholt hat. Es ist nicht der erste fremde Mann, den sie ins Haus lässt, seit jenem "Unglück". Sie hat sich da eine Methode angeeignet, zu der Tons Schwester ihr geraten hatte, mittels einschlägiger Anzeigen ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch der Mann in ihrem Schlafzimmer bleibt namenlos, während sie unten in der eiskalten Küche, neben sich ihren Hund Anatole, den auch Ton schon kannte, arbeitet - an den Kuchen und an ihrem Leben.
Am Beginn der Liebe sind Ton und die Frau eines Wintertags mit ihren Schlittschuhen auf dünnem Eis eingebrochen, sie überlebten. Der Fremde hatte ihr nachmittags auch vom Rand des Wassers berichtet, an dem er einmal stand, als Männer in einem Rettungsboot zurückkamen von der See: "Ich erinnere mich an ihre Gesichter. Sie hatten den Moment erlebt, in dem sie nicht mehr an ihre Suche glaubten." In der nächtlichen Küche lässt sie ihre Gedanken schweifen, Revue passieren, was geschah, vor und seit dem Selbstmord ihres Mannes. Ein einziger Kuchen hätte dafür nicht ausgereicht. Nicht für die Rückblenden in ihrem Kopf, nicht für die Suche nach den Schicksalsgründen, und wäre es der eine Verdacht, dass es eine andere Frau gegeben haben könnte.
Und es sind auch ziemlich genau diese Backstunden, die es braucht, um die "Schlaflose Nacht" mit der Frau zu teilen - lesend. Es ist eine phantastische zeitliche Ökonomie des Schreibens, die Margriet de Moor da gelingt. Während die Teige quellen, entfaltet sich der Geruch eines Geheimnisses, das doch nicht ergründbar scheint. Womöglich ist es bloß ein Rätsel, das nicht lösbar ist.
Die Novelle erschien schon einmal, vor siebenundzwanzig Jahren im niederländischen Original, dann 1994 in deutscher Übersetzung von Rotraut Keller; damals lautete der Titel "Op het eerste gezicht" (Auf den ersten Blick), was beim Lesen jetzt kaum noch Sinn ergibt. Denn die Autorin hat ihren Text neu bearbeitet, hin zu eben einer "Schlaflosen Nacht", die packende neue Übersetzung ist von Helga van Beuningen. Das Ergebnis des Vergleichs mit der ersten Fassung ist verblüffend, wenngleich die Veränderungen minimal anmuten - auf den ersten Blick. Es ist dieselbe Geschichte, und es ist doch eine ganz andere: Der Textkörper ist gestrafft, nicht verlogen wie bei einer Schönheitsoperation, sondern hin zu geschärfter Kontur. An die Stelle einer beredten Geschichte, bei der höfliche Verbindlichkeit dem Leser gegenüber herrschte, ist ein präziser Rhythmus getreten.
Die spürbare Musikalität Margriet de Moors, die als junge Frau Klavier und Gesang studierte, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte, durchzieht ihr gesamtes Werk und hat sie zu einer der wichtigsten Autorinnen ihres Landes gemacht. Die Überarbeitung der so lange zurückliegenden Novelle und der geänderte Titel müssen ihr wichtig gewesen sein. Ihre Kunst strahlt da großartig gebündelt. Es ist ein lakonisches, ein elliptisches Erzählen, das von Verlust weiß, vielleicht auch von Gewinn in einem Leben. Die Nacht ist immer Verräterin und Ratgeberin, und es ist grade so, als ob das feste Kneten der Teige mit den Händen für die nicht mehr ganz junge Frau diesen freien Flug der Gedanken zusätzlich antreibt: "Jetzt muss ich ziemlich viel Kraft aufwenden. Ich stelle mich etwas breitbeiniger hin und hole Luft. Mitten in der Nacht beginne ich, auf den bleichen, gefügigen Klumpen vor meinem Bauch einzudreschen." So ein Lebensrätsel ist eine zähe Masse. Und oben schläft ein Fremder, der eine Familie hat und dessen Frau, als er schlief, einen Staubsauger nach ihm geschmissen hat. Die Banalität hat viele Facetten.
Die "Schlaflose Nacht" hat ein Doppelgesicht, kaum ist zu entscheiden, ob die dazugehörige unerhörte Begebenheit so viele Jahre vor dem Durchkneten der Kuchen lag oder ob sie nach dieser Erinnerungsarbeit eingetreten sein könnte. "Der russische Napfkuchen muss aus dem Ofen", heißt der letzte Satz. Die Frau war nach oben, zum fremden Mann in die "glühende Wärme" unter der Decke geschlüpft, als der Küchenwecker klingelt. Alles kann anders werden. Kann alles anders werden? Margriet de Moor hat eine wundervolle Parabel auf die Dinge des Lebens geschrieben.
Margriet de Moor: "Schlaflose Nacht".
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Hanser Verlag, München 2016. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2016Tod und Treibhaus
Unbedingt einen zweiten Blick wert: Margriet de Moors frühe Novelle „Schlaflose Nacht“
Wer sich hin und wieder das Vergnügen macht, alte Folgen des Literarischen Quartetts (die Rede ist vom Original) auf Youtube anzuschauen, stößt irgendwann auf die Sendung vom 12. Dezember 1993, in der die Akteure versuchten, den Zauber und die Eigenart des Romandebüts der damals noch unbekannten Holländerin Margriet de Moor zu erklären. Es gelang ihnen nicht, aber „Erst grau dann weiß dann blau“ wurde auch im deutschen Sprachraum ein Sensationserfolg, und das nicht nur, weil der notorisch gnadenlose Marcel Reich-Ranicki fast verschämt gestanden hatte, er habe sich „in das Buch verliebt“.
In jenem Herbst waren die Niederlande und Flandern gemeinsam Ehrengast der Frankfurter Buchmesse gewesen, was der Literatur beider Länder zum internationalen Durchbruch verhalf. Nun wiederholt sich dieser Gastauftritt, unter anderen Vorzeichen, in einer veränderten Welt. Margriet de Moor, zu einer der bekanntesten Schriftstellerinnen ihres Landes avanciert, hat gerade ihren neuen Roman „Van vogels en mensen“ (Von Vögeln und Menschen) veröffentlicht, aber auf die Übersetzung müssen ihre deutschen Leser noch ein wenig warten. Entschädigt werden sie unterdessen mit einem eleganten kleinen Recycling: Bei der Novelle „Schlaflose Nacht“ handelt es sich um ein Frühwerk aus dem Jahr 1989, das von der Autorin bearbeitet und von der versierten Helga von Beuningen neu übersetzt wurde.
In dem Band „Doppelporträt“ war die Erzählung in den Neunzigern schon einmal auf Deutsch erschienen, unter dem Titel „Auf den ersten Blick“. Es erweist sich, dass dieses kunstvoll verdichtete, jetzt noch klarer konturierte Prosastück unbedingt einen zweiten Blick wert ist, zeigt es doch schon jene Merkmale, die vor 23 Jahren den Kritikern auffielen und nicht leicht in Worte zu fassen waren: Eine schwerelose und zugleich geerdete Prosa umkreist ein Geheimnis, ein unbewältigtes Geschehen, das die Beziehungen zwischen den Figuren bestimmt. Vieles bleibt offen, die Fantasie des Lesers ist aufgefordert, die Leerstellen zu füllen. Immer wieder lässt ein ausgeprägter Sinn für Rhythmus und Sprachmelodie die Vergangenheit der Autorin als Pianistin und Sängerin durchschimmern, und eine virtuose Schnitttechnik erinnert daran, dass sie Filmporträts von Künstlern drehte, bevor sie zu schreiben begann.
In der Küche eines Bauernhauses backt eine junge Frau zu nächtlicher Stunde große Mengen Kuchen; seit Jahren kompensiert sie damit ihre chronische Schlaflosigkeit. In ihrem Bett, erfährt man beiläufig, schläft ein Mann, den sie an diesem Tag erst kennengelernt hat: Nach dem Suizid ihres Ehemannes Ton hat sie irgendwann begonnen, sich per Kontaktanzeige wechselnde Liebhaber für Kurzbegegnungen zu suchen. Und zwar auf Empfehlung ihrer Schwägerin, durch die sie Ton einst kennenlernte, beim Schlittschuhlaufen mit einer Studentenclique in Leiden.
Der Kontrast zwischen einem sehr niederländisch anmutenden Pragmatismus und einer flirrend labilen Seelenverfassung, die nur scheinbar durch kühle Vernunft gebändigt wird, ist typisch für Margriet de Moor. Von dieser eigenartigen, mit einem Hauch makabrer Ironie gewürzten Spannung lebt der Bericht der Nachtbäckerin, wenn sie sich bei ihrer sinnlichen Beschäftigung mit Knetteig, duftenden Zutaten und Ofenwärme noch einmal ihre Ehegeschichte vergegenwärtigt. Auf den ersten Blick hatten sie und Ton sich zueinander hingezogen gefühlt, und auf den ersten Blick war ihr Zusammenleben vollkommen harmonisch gewesen.
An einem Spätsommerabend jedoch, vierzehn Monate nach der Hochzeit, ereignete sich, was die Erzählerin in einen einzigen, abenteuerlich ausgespannten Satz presst: „Noch vor acht Uhr, wie man mir hinterher versicherte, hatte sich mein Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, bekleidet mit Jeans, Leinenschuhen und einem blauen T-Shirt, also alles ganz normal, hinter dem großen Gewächshaus für experimentelle Treibhauskultur – er baute dort in übereinandergestapelten Kisten Chicorée an, ohne ein Gramm Erde, die Wurzeln wurden aus dem Nordostpolder geholt und, in einer Art künstlichem Winter, einen Monat lang bei einer Temperatur von 4 Grad Celsius eingelagert, um danach innerhalb von drei Wochen mit Hilfe von fließendem, sauerstoffreichem Wasser bis zur Erntereife herangezüchtet zu werden, man stelle sich das mal vor: ein natürlicher Prozess von eineinhalb Jahren war auf drei Monate reduziert! – das Leben genommen, indem er sich mit einer 9-mm-Luger in den Kopf schoss.“
Nichts hatte darauf hingedeutet, dass der studierte Jurist, der nach dem Tod des Vaters spontan dessen Bauernhof übernommen hatte, an Schwermut litt oder vor unüberwindlichen Problemen stand. Es gab keinen Abschiedsbrief, die Hintergründe des Selbstmords wurden nie geklärt. Die Witwe, Lehrerin an der Dorfschule, ist auf dem Hof geblieben, obwohl sie aus einer anderen Gegend stammt. Stärker als die Trauer ist ihre Obsession, das Rätsel zu lösen und das Unbegreifliche zu verstehen.
Mehrmals benutzt sie das Wort „Wahnsinn“, um ihren Zustand zu beschreiben. Und tatsächlich enthüllt ihre fiebrige Suche nach Hinweisen und Warnzeichen, in Schränken und Schubladen wie in der eigenen Erinnerung, dass sie kaum etwas über den Mann wusste, mit dem sie verheiratet war – und er genauso wenig über sie.
Es zeugt von hoher Kunst, wie es Margriet de Moor gelingt, auf dem engen Raum einer Novelle so viele Fragen, Andeutungen, Irritationen und Widersprüche unterzubringen, sie in atmosphärisch starke Szenen einzubinden, ihre Erzählerin dunkle Winkel ausleuchten und doch im Nebel des Halbwissens verharren zu lassen. Und wie sie parallel dazu die Anbahnung einer neuen Liebe schildert, die vielleicht, auch das bleibt vage, mehr Licht in die Nächte der Bäckerin bringen wird. Man möchte es ihr wünschen, denn in einem kleinen, traurigen Satz hat sie eine existenzielle Einsamkeit offenbart, die viel weiter zurückreicht als bis zum Freitod ihres Mannes: „Schon als Kind hatte ich das Gefühl gehabt, die meisten würden woanders spielen gehen als ich.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Es zeugt von hoher Kunst, wie
sich im engen Raum einer Novelle
das Spiel der Irritationen entfaltet
Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2016.
128 Seiten, 16 Euro.
E-Book 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Unbedingt einen zweiten Blick wert: Margriet de Moors frühe Novelle „Schlaflose Nacht“
Wer sich hin und wieder das Vergnügen macht, alte Folgen des Literarischen Quartetts (die Rede ist vom Original) auf Youtube anzuschauen, stößt irgendwann auf die Sendung vom 12. Dezember 1993, in der die Akteure versuchten, den Zauber und die Eigenart des Romandebüts der damals noch unbekannten Holländerin Margriet de Moor zu erklären. Es gelang ihnen nicht, aber „Erst grau dann weiß dann blau“ wurde auch im deutschen Sprachraum ein Sensationserfolg, und das nicht nur, weil der notorisch gnadenlose Marcel Reich-Ranicki fast verschämt gestanden hatte, er habe sich „in das Buch verliebt“.
In jenem Herbst waren die Niederlande und Flandern gemeinsam Ehrengast der Frankfurter Buchmesse gewesen, was der Literatur beider Länder zum internationalen Durchbruch verhalf. Nun wiederholt sich dieser Gastauftritt, unter anderen Vorzeichen, in einer veränderten Welt. Margriet de Moor, zu einer der bekanntesten Schriftstellerinnen ihres Landes avanciert, hat gerade ihren neuen Roman „Van vogels en mensen“ (Von Vögeln und Menschen) veröffentlicht, aber auf die Übersetzung müssen ihre deutschen Leser noch ein wenig warten. Entschädigt werden sie unterdessen mit einem eleganten kleinen Recycling: Bei der Novelle „Schlaflose Nacht“ handelt es sich um ein Frühwerk aus dem Jahr 1989, das von der Autorin bearbeitet und von der versierten Helga von Beuningen neu übersetzt wurde.
In dem Band „Doppelporträt“ war die Erzählung in den Neunzigern schon einmal auf Deutsch erschienen, unter dem Titel „Auf den ersten Blick“. Es erweist sich, dass dieses kunstvoll verdichtete, jetzt noch klarer konturierte Prosastück unbedingt einen zweiten Blick wert ist, zeigt es doch schon jene Merkmale, die vor 23 Jahren den Kritikern auffielen und nicht leicht in Worte zu fassen waren: Eine schwerelose und zugleich geerdete Prosa umkreist ein Geheimnis, ein unbewältigtes Geschehen, das die Beziehungen zwischen den Figuren bestimmt. Vieles bleibt offen, die Fantasie des Lesers ist aufgefordert, die Leerstellen zu füllen. Immer wieder lässt ein ausgeprägter Sinn für Rhythmus und Sprachmelodie die Vergangenheit der Autorin als Pianistin und Sängerin durchschimmern, und eine virtuose Schnitttechnik erinnert daran, dass sie Filmporträts von Künstlern drehte, bevor sie zu schreiben begann.
In der Küche eines Bauernhauses backt eine junge Frau zu nächtlicher Stunde große Mengen Kuchen; seit Jahren kompensiert sie damit ihre chronische Schlaflosigkeit. In ihrem Bett, erfährt man beiläufig, schläft ein Mann, den sie an diesem Tag erst kennengelernt hat: Nach dem Suizid ihres Ehemannes Ton hat sie irgendwann begonnen, sich per Kontaktanzeige wechselnde Liebhaber für Kurzbegegnungen zu suchen. Und zwar auf Empfehlung ihrer Schwägerin, durch die sie Ton einst kennenlernte, beim Schlittschuhlaufen mit einer Studentenclique in Leiden.
Der Kontrast zwischen einem sehr niederländisch anmutenden Pragmatismus und einer flirrend labilen Seelenverfassung, die nur scheinbar durch kühle Vernunft gebändigt wird, ist typisch für Margriet de Moor. Von dieser eigenartigen, mit einem Hauch makabrer Ironie gewürzten Spannung lebt der Bericht der Nachtbäckerin, wenn sie sich bei ihrer sinnlichen Beschäftigung mit Knetteig, duftenden Zutaten und Ofenwärme noch einmal ihre Ehegeschichte vergegenwärtigt. Auf den ersten Blick hatten sie und Ton sich zueinander hingezogen gefühlt, und auf den ersten Blick war ihr Zusammenleben vollkommen harmonisch gewesen.
An einem Spätsommerabend jedoch, vierzehn Monate nach der Hochzeit, ereignete sich, was die Erzählerin in einen einzigen, abenteuerlich ausgespannten Satz presst: „Noch vor acht Uhr, wie man mir hinterher versicherte, hatte sich mein Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, bekleidet mit Jeans, Leinenschuhen und einem blauen T-Shirt, also alles ganz normal, hinter dem großen Gewächshaus für experimentelle Treibhauskultur – er baute dort in übereinandergestapelten Kisten Chicorée an, ohne ein Gramm Erde, die Wurzeln wurden aus dem Nordostpolder geholt und, in einer Art künstlichem Winter, einen Monat lang bei einer Temperatur von 4 Grad Celsius eingelagert, um danach innerhalb von drei Wochen mit Hilfe von fließendem, sauerstoffreichem Wasser bis zur Erntereife herangezüchtet zu werden, man stelle sich das mal vor: ein natürlicher Prozess von eineinhalb Jahren war auf drei Monate reduziert! – das Leben genommen, indem er sich mit einer 9-mm-Luger in den Kopf schoss.“
Nichts hatte darauf hingedeutet, dass der studierte Jurist, der nach dem Tod des Vaters spontan dessen Bauernhof übernommen hatte, an Schwermut litt oder vor unüberwindlichen Problemen stand. Es gab keinen Abschiedsbrief, die Hintergründe des Selbstmords wurden nie geklärt. Die Witwe, Lehrerin an der Dorfschule, ist auf dem Hof geblieben, obwohl sie aus einer anderen Gegend stammt. Stärker als die Trauer ist ihre Obsession, das Rätsel zu lösen und das Unbegreifliche zu verstehen.
Mehrmals benutzt sie das Wort „Wahnsinn“, um ihren Zustand zu beschreiben. Und tatsächlich enthüllt ihre fiebrige Suche nach Hinweisen und Warnzeichen, in Schränken und Schubladen wie in der eigenen Erinnerung, dass sie kaum etwas über den Mann wusste, mit dem sie verheiratet war – und er genauso wenig über sie.
Es zeugt von hoher Kunst, wie es Margriet de Moor gelingt, auf dem engen Raum einer Novelle so viele Fragen, Andeutungen, Irritationen und Widersprüche unterzubringen, sie in atmosphärisch starke Szenen einzubinden, ihre Erzählerin dunkle Winkel ausleuchten und doch im Nebel des Halbwissens verharren zu lassen. Und wie sie parallel dazu die Anbahnung einer neuen Liebe schildert, die vielleicht, auch das bleibt vage, mehr Licht in die Nächte der Bäckerin bringen wird. Man möchte es ihr wünschen, denn in einem kleinen, traurigen Satz hat sie eine existenzielle Einsamkeit offenbart, die viel weiter zurückreicht als bis zum Freitod ihres Mannes: „Schon als Kind hatte ich das Gefühl gehabt, die meisten würden woanders spielen gehen als ich.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Es zeugt von hoher Kunst, wie
sich im engen Raum einer Novelle
das Spiel der Irritationen entfaltet
Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2016.
128 Seiten, 16 Euro.
E-Book 11,99 Euro.
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