Deutschland und Italien sind durch eine lange und wechselvolle Geschichte verbunden. Nach Allianzen, Kriegen mit- und gegeneinander sowie der brutalen Besetzung der Apenninhalbinsel durch die Streitkräfte des Dritten Reichs schienen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern endlich ein glückliches Gleichgewicht im Zeichen der europäischen Integration gefunden zu haben. Der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch des Ostblocks und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 führten jedoch zu einer grundlegenden Neuordnung des politischen Koordinatensystems in Europa, in dem das Gewicht Deutschlands auch gegenüber Italien wuchs. Seither reißen die Warnungen vor einer schleichenden Entfremdung nicht mehr ab. Der vorliegende Band liefert eine Bestandsaufnahme der bilateralen Beziehungen und versucht eine Antwort auf die Frage, wie es um das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien wirklich bestellt ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2008Temperament und Temperatur
Deutsch-italienisches Verhältnis seit dem Ende der DDR: Suche nach Herzlichkeit
Der italienische Deutschland-Kenner Gian Enrico Rusconi vertritt die provozierende These, einer der Verlierer der Revolution von 1989 sei das ehedem herzliche deutsch-italienische Verhältnis. Deutsche und Italiener hätten sich infolge der deutschen Vereinigung und der globalen Umbrüche voneinander entfernt, schlimmer noch: Sie seien im Umgang miteinander in uralte, ressentimentgeladene Klischees zurückgefallen. Rusconis Alarmruf ist in der Öffentlichkeit auf erhebliches Interesse gestoßen. Spricht das nun für oder gegen seine Entfremdungsdiagnose? Ist die lebhafte Reaktion ein Indiz dafür, dass man sich dabei ertappt fühlt, dem anderen Land tatsächlich mit wachsendem Unverständnis zu begegnen?
Die Beiträge des Sammelbandes diskutieren, ob wirklich Grund zur Sorge über die Beziehung zwischen den beiden "Schicksalsschwestern" (Golo Mann) besteht. Das Ergebnis lautet: Es kommt darauf an, vor allem auf die Protagonisten, die man untersucht. Wer wie Stephan Ulrich und Angelo Bolaffi auf die staatlich-politische Ebene schaut, stimmt der These vom Niedergang des bilateralen Verhältnisses eher zu. Beide Autoren sehen die Ursachen hauptsächlich im Verlust der europäischen Kohäsionskraft, die nach 1945 lange Zeit den engen Dialog zwischen Deutschland und Italien angetrieben hatte. Während das vereinte Deutschland heute auf der Weltbühne mitredet, sieht sich Italien im erweiterten Europa marginalisiert. Die spürbare Asymmetrie in Ermangelung eines starken gemeinsamen Europaprojekts als Konvergenzpunkt nationaler Interessen nährt Überlegenheitsgefühle auf deutscher und Verunsicherung auf italienischer Seite. Das führt zu Animositäten.
Kein einheitliches Bild ergibt der Blick auf die wechselseitige Medienberichterstattung. Gerade in der Debatte um die echte oder bloß "gefühlte" Abkühlung des deutsch-italienischen Verhältnisses hat es nicht an verletzenden Kommentaren gefehlt, wie Henning Klüver zeigt. Aber haben Berlusconi, der Müll von Neapel und die Mafia die Deutschen wirklich ihrem Traumland entfremdet? Nein, sagt der Historiker Hans Woller. Wechselseitige Irritationen, gepaart mit viel Verständnislosigkeit, gehören nämlich seit jeher zum deutsch-italienischen Verhältnis. Ein "goldenes Zeitalter" der Beziehungen hat es nie gegeben, nicht einmal unter Adenauer und De Gasperi. Derart gegen Geschichtsmythen gefeit sehen Hans Woller und Thomas Schlemmer Italiener und Deutsche, allen Stimmungsschwankungen zum Trotz, in solider Freundschaft verbunden. Ihr maßvoller Optimismus wird durch die Beiträge zum wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen Italien und Deutschland bekräftigt.
Die Zivilgesellschaften beider Länder kooperieren eindeutig besser, als es Politik und Medien bisweilen vermitteln. Leider wird nicht vertieft, warum das so ist. Aber es ist für die Debatte symptomatisch, dass die deutschen Texte überwiegend einen zufriedenen Ton anschlagen und der These von der "Entfremdung" widersprechen, während bei den italienischen Autoren mehr Skepsis mitschwingt, erleben sie doch immer wieder, wie der italienische Anspruch, auf "gleicher Augenhöhe" ernst genommen zu werden, brüskiert wird. Woher das kommt, muss weiter erforscht werden, wobei zusätzliche Vergleichsgrößen wichtig sind. Denn es lohnt sich - der Band weist die Richtung -, das deutsch-italienische Verhältnis als Seismographen der gesamteuropäischen Situation nach 1989 zu deuten. Das schließt völkerpsychologische Stimmungsbilder, die ja auch immer ihren Unterhaltungswert haben, durchaus ein - fragt aber auch pragmatisch nach dem unterschiedlichen politischen und soziokulturellen Instrumentarium, mit dem sich die einzelnen Nationen und Europa insgesamt für die globalisierte Moderne rüsten.
CHRISTIANE LIERMANN.
Gian Enrico Rusconi/Thomas Schlemmer/Hans Woller (Herausgeber): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer. Oldenbourg Verlag, München 2008. 136 S., 16,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsch-italienisches Verhältnis seit dem Ende der DDR: Suche nach Herzlichkeit
Der italienische Deutschland-Kenner Gian Enrico Rusconi vertritt die provozierende These, einer der Verlierer der Revolution von 1989 sei das ehedem herzliche deutsch-italienische Verhältnis. Deutsche und Italiener hätten sich infolge der deutschen Vereinigung und der globalen Umbrüche voneinander entfernt, schlimmer noch: Sie seien im Umgang miteinander in uralte, ressentimentgeladene Klischees zurückgefallen. Rusconis Alarmruf ist in der Öffentlichkeit auf erhebliches Interesse gestoßen. Spricht das nun für oder gegen seine Entfremdungsdiagnose? Ist die lebhafte Reaktion ein Indiz dafür, dass man sich dabei ertappt fühlt, dem anderen Land tatsächlich mit wachsendem Unverständnis zu begegnen?
Die Beiträge des Sammelbandes diskutieren, ob wirklich Grund zur Sorge über die Beziehung zwischen den beiden "Schicksalsschwestern" (Golo Mann) besteht. Das Ergebnis lautet: Es kommt darauf an, vor allem auf die Protagonisten, die man untersucht. Wer wie Stephan Ulrich und Angelo Bolaffi auf die staatlich-politische Ebene schaut, stimmt der These vom Niedergang des bilateralen Verhältnisses eher zu. Beide Autoren sehen die Ursachen hauptsächlich im Verlust der europäischen Kohäsionskraft, die nach 1945 lange Zeit den engen Dialog zwischen Deutschland und Italien angetrieben hatte. Während das vereinte Deutschland heute auf der Weltbühne mitredet, sieht sich Italien im erweiterten Europa marginalisiert. Die spürbare Asymmetrie in Ermangelung eines starken gemeinsamen Europaprojekts als Konvergenzpunkt nationaler Interessen nährt Überlegenheitsgefühle auf deutscher und Verunsicherung auf italienischer Seite. Das führt zu Animositäten.
Kein einheitliches Bild ergibt der Blick auf die wechselseitige Medienberichterstattung. Gerade in der Debatte um die echte oder bloß "gefühlte" Abkühlung des deutsch-italienischen Verhältnisses hat es nicht an verletzenden Kommentaren gefehlt, wie Henning Klüver zeigt. Aber haben Berlusconi, der Müll von Neapel und die Mafia die Deutschen wirklich ihrem Traumland entfremdet? Nein, sagt der Historiker Hans Woller. Wechselseitige Irritationen, gepaart mit viel Verständnislosigkeit, gehören nämlich seit jeher zum deutsch-italienischen Verhältnis. Ein "goldenes Zeitalter" der Beziehungen hat es nie gegeben, nicht einmal unter Adenauer und De Gasperi. Derart gegen Geschichtsmythen gefeit sehen Hans Woller und Thomas Schlemmer Italiener und Deutsche, allen Stimmungsschwankungen zum Trotz, in solider Freundschaft verbunden. Ihr maßvoller Optimismus wird durch die Beiträge zum wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen Italien und Deutschland bekräftigt.
Die Zivilgesellschaften beider Länder kooperieren eindeutig besser, als es Politik und Medien bisweilen vermitteln. Leider wird nicht vertieft, warum das so ist. Aber es ist für die Debatte symptomatisch, dass die deutschen Texte überwiegend einen zufriedenen Ton anschlagen und der These von der "Entfremdung" widersprechen, während bei den italienischen Autoren mehr Skepsis mitschwingt, erleben sie doch immer wieder, wie der italienische Anspruch, auf "gleicher Augenhöhe" ernst genommen zu werden, brüskiert wird. Woher das kommt, muss weiter erforscht werden, wobei zusätzliche Vergleichsgrößen wichtig sind. Denn es lohnt sich - der Band weist die Richtung -, das deutsch-italienische Verhältnis als Seismographen der gesamteuropäischen Situation nach 1989 zu deuten. Das schließt völkerpsychologische Stimmungsbilder, die ja auch immer ihren Unterhaltungswert haben, durchaus ein - fragt aber auch pragmatisch nach dem unterschiedlichen politischen und soziokulturellen Instrumentarium, mit dem sich die einzelnen Nationen und Europa insgesamt für die globalisierte Moderne rüsten.
CHRISTIANE LIERMANN.
Gian Enrico Rusconi/Thomas Schlemmer/Hans Woller (Herausgeber): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer. Oldenbourg Verlag, München 2008. 136 S., 16,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Julius Müller-Meiningen betont, dass die Autoren dieses Sammelbandes sämtliche denkbaren Kriterien (politische, wirtschaftliche, kulturelle) heranziehen, mit denen sich das deutsch-italienische Verhältnis messen lässt. Dass sie sich dabei durchaus uneins und ihre Thesen mitunter sogar genau entgegengesetzt sind, hält Müller-Meiningen für einen seltenen und reizvollen Quell der Spannung. Zwar markiert der Mauerfall für viele Beiträger einen Wendepunkt, wie der Rezensent erkennt, doch während ein Autor die Verarmung der politischen Kultur zwischen beiden Staaten beklagt, liest Müller-Meiningen, wie ein anderer dies als Panikmache abtut und u. a. auf blühende kulturelle Beziehungen verweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH