Im Kontext der Fluchtbewegungen der Jahre 1933-1945 fanden illegale Grenzübertritte wesentlich häufiger statt als allgemein bekannt. Sie erwiesen sich vielfach als lebensrettend. Dennoch wurden die Helferinnen und Helfer oft in undifferenzierter Weise kriminalisiert, obwohl nur ein Teil von ihnen primär aus finanziellem Interesse oder ausbeuterischer Absicht handelte. Auch in den Nachkriegsjahrzehnten war Fluchthilfe von großer Bedeutung. Heute ist das Thema angesichts der immer rigoroseren Abwehrmaßnahmen, mit denen die 'Festung Europa' gesichert werden soll, brisanter denn je. Der Band befasst sich mit den unterschiedlichen Formen, Phasen und Motiven der organisierten und individuellen Fluchthilfe oder 'Schlepperei' seit den 1930er Jahren und rückt auch die restriktive Aufnahmepolitik der potentiellen Zufluchtsländer als wesentliche Ursache für das Phänomen ins Blickfeld.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wilfried von Bredow liest den von Gabriele Anderl und Simon Usaty herausgegebenen Tagungsband zum Thema Fluchthilfe mit Blick auf die gegenwärtige Flüchtlingskrise. Allerdings scheinen ihm die Beiträge im Band vor allem ein historisches Panorama zu entfalten. Die, wie er findet, teils spannenden Ausführungen zur NS-Zeit, den Kriegsjahren, einzelnen Fluchthelfern, Routen und den handwerklichen Aspekten der Fluchthilfe, meint er, haben mit dem Phänomen der Globalisierungs-Migration wenig zu tun. Als Erweiterung der Perspektive auf das Thema Flucht scheint ihm das Buch aber begrüßenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2016Gefahrreiche Auswege
Plädoyers für Fluchthilfe als Beistand in der Not
In Deutschland und Europa wird mit großer Leidenschaft über eine moralisch vertretbare und ohne negative politische, soziale und kulturelle Nebeneffekte umsetzbare Flüchtlingspolitik gestritten. Dabei zeugen die gegeneinander in Stellung gebrachten Argumente nur in Ausnahmefällen von Sachverstand und Urteilskraft. Was man sich stattdessen wild um die Ohren haut, sind Vorurteile, Klischees, Stimmungen, Ängste - und in der politischen Arena natürlich auch Patentrezepte zur "Lösung" der Flüchtlingskrise: leider weder wirksame Rezepte noch in irgendeiner Hinsicht patent. Es scheint so, als habe sich das ganze Land in eine riesige Talkshow verwandelt, wo alle reden, keiner zuhört und sowieso niemand wirklich etwas weiß, aber das lautstark.
Zwar gibt es inzwischen eine quantitativ und qualitativ beachtenswerte Sach- und Fachliteratur zur Migration. Aber da die ganze Brisanz der Flüchtlingskrise für Deutschland und Europa erst im vergangenen Jahr aufgeflammt ist, machen sich nur wenige die Mühe, solche historischen und strukturellen Analysen wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Hinzu kommt, dass die scharfen politischen Kontroversen über die "richtige" Flüchtlingspolitik auf die Wissenschaft durchzuschlagen begonnen haben. Auch hier stehen sich, nur ein bisschen vergröbert formuliert, die Anhänger von "offenen Grenzen" für Flüchtlinge und von nationalstaatlicher und kontinentweiter Abdichtung der Grenzen zunehmend unversöhnlich gegenüber. Im Oktober 2014 veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Exilforschung in Wien eine internationale Fachtagung zum Thema Fluchthilfe zwischen Rettung und Ausbeutung. Österreich ist ja ein speziell für die Bundesregierung in Berlin schmerzliches Beispiel für eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik von freundlicher Aufnahmebereitschaft zu Stundenkontingenten. Doron Rabinovici hat im Vorwort zu dem Tagungsband das früh absehbare Dilemma so auf den Punkt gebracht: "Während immer mehr Menschen ihre Länder verlassen, um einen Ort zu finden, wo sie in Freiheit und Sicherheit überleben können, nimmt die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ab."
Die Wiener Tagung fand noch vor der österreichischen Kehrtwende statt. Ihre Organisatoren haben sie angelegt als eine Art Fluchthilfe-Panorama mit vielen historischen Beispielen und dem Schwerpunkt NS-Zeit. Die Fluchtgeschichten aus der Vergangenheit lassen sich allerdings nur sehr bedingt mit den heutigen vergleichen. Auf diese, also die Fluchtbewegungen mit dem Ziel Europa (hauptsächlich ja Deutschland, Österreich und Schweden) aus Ländern wie Irak, Syrien, Afghanistan oder aus Afrika, gehen auch einige wenige der insgesamt 38 Beiträge des Bandes ein.
Im Rückblick auf die 1930er und Weltkriegsjahre ergibt sich quasi wie von selbst ein überwiegend positives Bild von Fluchthilfe und Fluchthelfern und ein eher negatives Bild jener Staaten, die damals die Aufnahme von rassisch und politisch Verfolgten verweigerten oder mit hohen administrativen Hürden versahen. Die wenigen, die verfolgten Juden oder politischen Gegnern des NS-Regimes zur Flucht verholfen haben, oft unter Verletzung der Gesetze ihres Landes und unter Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken, werden heute dafür geehrt. Varian Fry, der "Engel von Marseille", gehört dazu. Aber es gab auch viele weniger bekannte Fluchthelfer, von denen einige hier vorgestellt werden. Dadurch bekommt man nebenbei auch einen guten Einblick in die vielfältigen "handwerklichen" Aspekte der Fluchthilfe, von der Ausstellung falscher Papiere über die Bestechung von Grenzposten bis zu den nächtlichen Grenzüberschreitungen, die manchmal erfolgreich waren, aber oft auch in einem Desaster endeten. Manche Fluchthelfer konnten erst Jahrzehnte nach ihrem Tod rehabilitiert werden, wie der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger. Bei anderen wie im Fall des Josef Schleich ist bis heute unklar und umstritten, ob sie eher Helfer oder Ausbeuter der von ihnen über die Grenze geschmuggelten Flüchtlinge waren. Die meisten Einzelbeiträge über bestimmte Fluchthelfer oder Fluchtrouten sind spannend zu lesen. Manche davon liegen ziemlich am Rand des Themas, etwa die Beschreibung der Transitwege von Freiwilligen für den Spanischen Bürgerkrieg im Vorarlberg und Tirol oder die Fluchtversuche polnischer Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges.
Fluchthilfe damals und das illegale Einschleusen von Flüchtlingen nach Europa heute unterscheiden sich allerdings in wesentlichen Punkten. Die Menschen, die dem Zugriff der Nazi-Schergen entfliehen wollten, mussten sozusagen um ihr Leben rennen. Flucht war Lebensrettung. Dass so wenige Länder ihnen Asyl zu gewähren bereit waren, dass etwa die Konferenz von Evian 1938 zu einer Koalition der Flüchtlings-Abwehr wurde, gilt uns als schäbig. Heute ist die große Zahl der Migranten ein Phänomen der Globalisierung. Die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse sind transparenter geworden, die Kommunikation und Mobilität über Grenzen hinweg haben sich vereinfacht. Zerstörerische Bürgerkriege, Staatsversagen und wirtschaftliche Not lassen die reichen Demokratien des Westens als reines El Dorado erscheinen. So entwickelte sich die Flüchtlingsbewegung zur Massenmigration. Wie man in den Zielländern angesichts dieses Andrangs die Gebote der Menschlichkeit, die Funktionsfähigkeit der sozialen und politischen Ordnung sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft in der Balance hält, das ist heute die Gretchenfrage der Flüchtlingspolitik in Europa.
Die angemessene Bewertung der Fluchthilfe und der Fluchthelfer ist dabei ein nicht ganz unwichtiger Unteraspekt. Das organisierte Schleusertum gehört inzwischen zu den lukrativsten Geschäftspraktiken der organisierten Kriminalität. Es ist unabdingbar, auch im Interesse der von den Schleusern ausgebeuteten Migranten, dagegen vorzugehen. Allerdings spielt sie nur die Rolle eines Ventils. Mit den Ursachen des Migrationsdrucks hat sie nur indirekt etwas zu tun. Und selbstverständlich gibt es auch andere als kriminelle Fluchthelfer. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Herausgeber dieses Bandes das Blickfeld erweitern und zu einer differenzierteren Betrachtung von Fluchthilfe und Fluchthelfern ermutigen wollen. Was die gegenwärtige Migration angeht, so liegt die indirekt vermittelte Grundaussage dieses Bandes ziemlich nah an dem militant-aktivistischen Credo offener Grenzen. In den Worten von Miltiades Oulios: "Wer den kriminellen Schleusern wirklich das Handwerk legen möchte, muss ein besseres Produkt anbieten: Möglichkeiten, nach Europa zu fliehen, die sicherer und günstiger sind als überfüllte Flüchtlingsboote." Alles andere sei verantwortungslos. Mag sein. Nur lässt es auch alle Probleme der Zielländer außer Acht.
WILFRIED VON BREDOW
Gabriele Anderl/Simon Usaty (Herausgeber): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Mandelbaum Verlag, Wien 2016. 568 S., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Plädoyers für Fluchthilfe als Beistand in der Not
In Deutschland und Europa wird mit großer Leidenschaft über eine moralisch vertretbare und ohne negative politische, soziale und kulturelle Nebeneffekte umsetzbare Flüchtlingspolitik gestritten. Dabei zeugen die gegeneinander in Stellung gebrachten Argumente nur in Ausnahmefällen von Sachverstand und Urteilskraft. Was man sich stattdessen wild um die Ohren haut, sind Vorurteile, Klischees, Stimmungen, Ängste - und in der politischen Arena natürlich auch Patentrezepte zur "Lösung" der Flüchtlingskrise: leider weder wirksame Rezepte noch in irgendeiner Hinsicht patent. Es scheint so, als habe sich das ganze Land in eine riesige Talkshow verwandelt, wo alle reden, keiner zuhört und sowieso niemand wirklich etwas weiß, aber das lautstark.
Zwar gibt es inzwischen eine quantitativ und qualitativ beachtenswerte Sach- und Fachliteratur zur Migration. Aber da die ganze Brisanz der Flüchtlingskrise für Deutschland und Europa erst im vergangenen Jahr aufgeflammt ist, machen sich nur wenige die Mühe, solche historischen und strukturellen Analysen wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Hinzu kommt, dass die scharfen politischen Kontroversen über die "richtige" Flüchtlingspolitik auf die Wissenschaft durchzuschlagen begonnen haben. Auch hier stehen sich, nur ein bisschen vergröbert formuliert, die Anhänger von "offenen Grenzen" für Flüchtlinge und von nationalstaatlicher und kontinentweiter Abdichtung der Grenzen zunehmend unversöhnlich gegenüber. Im Oktober 2014 veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Exilforschung in Wien eine internationale Fachtagung zum Thema Fluchthilfe zwischen Rettung und Ausbeutung. Österreich ist ja ein speziell für die Bundesregierung in Berlin schmerzliches Beispiel für eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik von freundlicher Aufnahmebereitschaft zu Stundenkontingenten. Doron Rabinovici hat im Vorwort zu dem Tagungsband das früh absehbare Dilemma so auf den Punkt gebracht: "Während immer mehr Menschen ihre Länder verlassen, um einen Ort zu finden, wo sie in Freiheit und Sicherheit überleben können, nimmt die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, ab."
Die Wiener Tagung fand noch vor der österreichischen Kehrtwende statt. Ihre Organisatoren haben sie angelegt als eine Art Fluchthilfe-Panorama mit vielen historischen Beispielen und dem Schwerpunkt NS-Zeit. Die Fluchtgeschichten aus der Vergangenheit lassen sich allerdings nur sehr bedingt mit den heutigen vergleichen. Auf diese, also die Fluchtbewegungen mit dem Ziel Europa (hauptsächlich ja Deutschland, Österreich und Schweden) aus Ländern wie Irak, Syrien, Afghanistan oder aus Afrika, gehen auch einige wenige der insgesamt 38 Beiträge des Bandes ein.
Im Rückblick auf die 1930er und Weltkriegsjahre ergibt sich quasi wie von selbst ein überwiegend positives Bild von Fluchthilfe und Fluchthelfern und ein eher negatives Bild jener Staaten, die damals die Aufnahme von rassisch und politisch Verfolgten verweigerten oder mit hohen administrativen Hürden versahen. Die wenigen, die verfolgten Juden oder politischen Gegnern des NS-Regimes zur Flucht verholfen haben, oft unter Verletzung der Gesetze ihres Landes und unter Inkaufnahme hoher persönlicher Risiken, werden heute dafür geehrt. Varian Fry, der "Engel von Marseille", gehört dazu. Aber es gab auch viele weniger bekannte Fluchthelfer, von denen einige hier vorgestellt werden. Dadurch bekommt man nebenbei auch einen guten Einblick in die vielfältigen "handwerklichen" Aspekte der Fluchthilfe, von der Ausstellung falscher Papiere über die Bestechung von Grenzposten bis zu den nächtlichen Grenzüberschreitungen, die manchmal erfolgreich waren, aber oft auch in einem Desaster endeten. Manche Fluchthelfer konnten erst Jahrzehnte nach ihrem Tod rehabilitiert werden, wie der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger. Bei anderen wie im Fall des Josef Schleich ist bis heute unklar und umstritten, ob sie eher Helfer oder Ausbeuter der von ihnen über die Grenze geschmuggelten Flüchtlinge waren. Die meisten Einzelbeiträge über bestimmte Fluchthelfer oder Fluchtrouten sind spannend zu lesen. Manche davon liegen ziemlich am Rand des Themas, etwa die Beschreibung der Transitwege von Freiwilligen für den Spanischen Bürgerkrieg im Vorarlberg und Tirol oder die Fluchtversuche polnischer Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges.
Fluchthilfe damals und das illegale Einschleusen von Flüchtlingen nach Europa heute unterscheiden sich allerdings in wesentlichen Punkten. Die Menschen, die dem Zugriff der Nazi-Schergen entfliehen wollten, mussten sozusagen um ihr Leben rennen. Flucht war Lebensrettung. Dass so wenige Länder ihnen Asyl zu gewähren bereit waren, dass etwa die Konferenz von Evian 1938 zu einer Koalition der Flüchtlings-Abwehr wurde, gilt uns als schäbig. Heute ist die große Zahl der Migranten ein Phänomen der Globalisierung. Die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse sind transparenter geworden, die Kommunikation und Mobilität über Grenzen hinweg haben sich vereinfacht. Zerstörerische Bürgerkriege, Staatsversagen und wirtschaftliche Not lassen die reichen Demokratien des Westens als reines El Dorado erscheinen. So entwickelte sich die Flüchtlingsbewegung zur Massenmigration. Wie man in den Zielländern angesichts dieses Andrangs die Gebote der Menschlichkeit, die Funktionsfähigkeit der sozialen und politischen Ordnung sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft in der Balance hält, das ist heute die Gretchenfrage der Flüchtlingspolitik in Europa.
Die angemessene Bewertung der Fluchthilfe und der Fluchthelfer ist dabei ein nicht ganz unwichtiger Unteraspekt. Das organisierte Schleusertum gehört inzwischen zu den lukrativsten Geschäftspraktiken der organisierten Kriminalität. Es ist unabdingbar, auch im Interesse der von den Schleusern ausgebeuteten Migranten, dagegen vorzugehen. Allerdings spielt sie nur die Rolle eines Ventils. Mit den Ursachen des Migrationsdrucks hat sie nur indirekt etwas zu tun. Und selbstverständlich gibt es auch andere als kriminelle Fluchthelfer. Insofern ist es zu begrüßen, dass die Herausgeber dieses Bandes das Blickfeld erweitern und zu einer differenzierteren Betrachtung von Fluchthilfe und Fluchthelfern ermutigen wollen. Was die gegenwärtige Migration angeht, so liegt die indirekt vermittelte Grundaussage dieses Bandes ziemlich nah an dem militant-aktivistischen Credo offener Grenzen. In den Worten von Miltiades Oulios: "Wer den kriminellen Schleusern wirklich das Handwerk legen möchte, muss ein besseres Produkt anbieten: Möglichkeiten, nach Europa zu fliehen, die sicherer und günstiger sind als überfüllte Flüchtlingsboote." Alles andere sei verantwortungslos. Mag sein. Nur lässt es auch alle Probleme der Zielländer außer Acht.
WILFRIED VON BREDOW
Gabriele Anderl/Simon Usaty (Herausgeber): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Mandelbaum Verlag, Wien 2016. 568 S., 24,90 [Euro].
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