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Joachim Seyppel, 1919 in Berlin geboren, führt uns durch sein Jahrhundert und seine Welt. Sein geisteswissenschaftliches Studium absolviert der Autor in seiner Geburtsstadt, von wo aus er auch in den Krieg zieht. Als er im Herbst 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Schlesischen Bahnhof in der geteilten Stadt Berlin eintrifft, muß auch er seine Entscheidung für Ost oder West treffen. 1948 wird Seyppel ausgewählt, um ein Jahr der 'Umerziehung' auf Kosten der amerikanischen Regierung in den USA zu verbringen. Er bleibt dort, heiratet, arbeitet als Sprachlehrer und Professor für…mehr

Produktbeschreibung
Joachim Seyppel, 1919 in Berlin geboren, führt uns durch sein Jahrhundert und seine Welt. Sein geisteswissenschaftliches Studium absolviert der Autor in seiner Geburtsstadt, von wo aus er auch in den Krieg zieht. Als er im Herbst 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Schlesischen Bahnhof in der geteilten Stadt Berlin eintrifft, muß auch er seine Entscheidung für Ost oder West treffen. 1948 wird Seyppel ausgewählt, um ein Jahr der 'Umerziehung' auf Kosten der amerikanischen Regierung in den USA zu verbringen. Er bleibt dort, heiratet, arbeitet als Sprachlehrer und Professor für Germanistik, trifft Einstein, Henry Miller, William Faulkner. Nach seiner Rückkehr nach Berlin engagiert sich der Journalist und Schriftsteller in den 68er-Unruhen, wird Kriegskorrespondent in Afrika, sieht sich auch in Ost-Berlin um und geht schließlich zu seiner neuen Liebe in die DDR. Dort wird der Idealist bald zu unbequem, so daß er 1979 ausgebürgert wird.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.1999

Auf Hasenjagd
Joachim Seyppels Erinnerungen "Schlesischer Bahnhof"

Er hat Henry Miller guten Tag gesagt und mit William Faulkner geangelt. Bei Albert Einstein trank er Tee, und dem amerikanischen Präsidenten Truman stellte er keck die Frage, ob die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nötig gewesen seien. Bei einem Empfang in der Ostberliner Staatsoper stand er neben Ulbricht, und schon 1938 teilte der damals noch wenig bekannte Ivo Andric in der Berliner jugoslawischen Botschaft dem Schüler vertraulich mit: "Wir lügen furchtbar, schlimmer noch als die Griechen . . ., wir lügen und wir lügen, und deshalb werde ich auch einmal den Nobelpreis erhalten!" Solche Geschichten erzählt in seinen "Erinnerungen" Joachim Seyppel, und wir wollen ihn nicht einen Baron von Münchhausen nennen.

Vieles von der Biographie Seyppels wissen wir aus anderen Büchern und Artikeln. Einige frühere Texte gingen auch, leicht verändert, in diese Memoiren mit dem Titel "Schlesischer Bahnhof" ein. Zusammen sind sie Zeugnisse eines abenteuerlichen Lebens, eines Lebens der Gegensätze, der überraschenden Wenden und Kehrtwendungen. Die Vorfahren mütterlicherseits stammen aus Schlesien (auf dem Berliner "Schlesischen Bahnhof" trifft der Großvater ein), der Vater (aus seinen Erinnerungen wird zitiert) kam aus Düsseldorf nach Berlin. Auf der Ost-West-Achse hin und her bewegt sich das Leben Seyppels.

Der siebzehnjährige Berliner Schüler wird für die Olympiade von 1936 als Englisch-Dolmetscher ausgebildet und begleitet amerikanische Athleten vom Olympischen Dorf in die Stadt. Im Krieg kann er sogar an mehreren Universitäten studieren und in Rostock den Doktor machen, gerät aber doch als Soldat, wegen Ungehorsams zu Frontbewährung verurteilt, in russische Gefangenschaft. Mit der Entlassung gelangt er in die Westdrift: West-Berlin, Reeducation-Programm in den Vereinigten Staaten, wieder in West-Berlin, bald zurück nach Amerika, Instrukteur in einer Spionageschule der amerikanischen Armee, dann Germanistikprofessor an amerikanischen Universitäten.

Nun überläßt er sich der Ostdrift. In Berlin hat er mit einem amerikanischen Paß, wie seine amerikanisch-jüdische Frau, die der getaufte Christ in einer Synagoge heiratete, beliebigen Zugang nach Ost-Berlin. Er gehört zu den Westberliner Demonstranten gegen den amerikanischen Vietnam-Krieg und siedelt 1973 in die DDR über, heiratet seine neue Liebe, ein FDJ-Mädchen, und lebt mit ihr am Prenzlauer Berg und in der Datscha einer Künstlerkolonie in Mecklenburg, bis ihn im "Fall Havemann" seine Solidaritätserklärung in Ungnade fallen läßt; er wird ausgebürgert, geht zurück in den Westen, zunächst nach München.

Ein Wanderer zwischen den Welten. Ein Proteus in ständigem Rollenwechsel: Journalist, Dolmetscher, Dozent, Kriegsberichterstatter in Afrika, freier Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber, privilegierter Bürger der DDR. Eine Chance oder - aus seiner heutigen Sicht - ein Kelch ging an ihm vorüber: Klaus Höpcke, Kulturminister der DDR, setzte den Plan, ihn zu einem "Anti-Solschenizyn" aufzubauen, nicht in die Tat um. Vielleicht war ihm für eine solche Rolle die Figur dieses West-Ost-Pendlers doch zu riskant.

In einer Zeit, da sich Millionen von DDR-Bürgern für die "Republikflucht" entscheiden, verläuft Seyppels Biographie, wie er selbst nicht ohne einzelgängerischen Stolz sagt, "gegen den historischen Strich". Eine Lebensgeschichte, in der sich der Leser wie der Verfolger eines Hasen fühlt, der ständig Haken schlägt. Also ein lebendiges, spannendes Buch?

An Ereignisfülle fehlt es nicht. Von der Kindheit inmitten der reichen Steglitzer Verwandtschaft, von der Kinoseligkeit des Jungen und der gemischten Bürger- und Künstlergesellschaft der sogenannten "Golden Twenties" wird mit Schwung erzählt, auch wenn sich manchmal Flapsigkeit für Berliner Witz hält oder der Autor sich in die phantastische Erzählung verirrt, indem er die Großen der Zeit zu einem imaginären Stelldichein zusammenführt. Langweiligkeit oder behäbiger Stil sind diesem Buch nicht vorzuwerfen. Ein buntes Mosaik ist entstanden, aber ein Mosaik aus autobiographischen Splittern.

Man liest in diesem Buch, wie man in einem Album mit lauter Fotoschnappschüssen blättert. Aber seltsamerweise will hinter all den Bildern kein richtiges Gesicht erscheinen. Die Person des Autors entzieht sich, sie wird nur sichtbar in den Reflexen, die das Jahrhundert, das Seyppel ein "Nichtjahrhundert" nennt, auf sie wirft. Die Person summiert sich lediglich aus den Ansichten, die sie in den verschiedenen Situationen bietet.

Selbst Goethe hat sich im Alter über die Chancen des menschlichen Individuums keinen Täuschungen hingegeben. "Das Individuum geht verloren; das Andenken desselben verschwindet, und doch ist ihm und andern daran gelegen, daß es erhalten werde", schreibt er und begründet so Antrieb und Nutzen des Schreibens von Autobiographien. Für den Autor des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften", Robert Musil, war die Zeit eines Bildungsromans der Person abgelaufen und die Autobiographie des Individuums in Frage gestellt. Aber auch wenn die Person von außen gelenkt wird, sollte das autobiographische Ich über seine Reaktionen, seine Haltungen Rechenschaft ablegen.

Den Wenden und Kehren in Seyppels Autobiographie gehen tiefere gedankliche Auseinandersetzungen weder voraus, noch folgen sie ihnen. Der flotte Stil tändelt darüber hinweg. Die "innere" Autobiographie erhält zu wenig Kontur. Bemerkungen bleiben wolkig: "Vielleicht im Mauerschatten noch die besten Jahre. Hatte ich nicht, nach mißlungener Emigration zu Onkel Sam, endlich das Gefühl, zu wissen, was Heimat ist?" Allenfalls am Ende, im Kapitel "Die Wellen der Geschichte", holt der Autor zu allgemeinen Reflexionen aus.

Selbstkritische Einsichten eines Autors sollten nicht gegen ihn verwendet werden. Also nicht Seyppels Selbstcharakteristik als eines bedenkenlosen "literarischen Desperados". Da stand in einem Brief an Franz Fühmann, den der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag im Herbst 1968 aufgeschreckt hatte: "Daran zerbreche ich." Solche verstörenden Erlebnisse und Einsichten blieben dem Wanderer zwischen den Welten fremd. WALTER HINCK

Joachim Seyppel: "Schlesischer Bahnhof". Erinnerungen. F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1998. 224 S., geb., 34,- DM.

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