Ein wiederentdecktes Meisterwerk: berührend und bristant.
Fünfhundert Kinder aus einem Moskauer Waisenhaus werden im Sommer 1944 in den Kaukasus verschickt, unter ihnen Saschka und Kolka. Die elfjährigen Zwillinge hoffen, endlich ihren quälenden Hunger hinter sich zu lassen. Doch bereits ihre Ankunft wird von bedrohlichen Detonationen in den nahe gelegenen Bergen begleitet. Bewaffnete Tschetschenen, die der Zwangsaussiedlung entfliehen konnten, setzen sich erbittert gegen die russischen Eindringlinge zur Wehr - und die Brüder geraten nach Momenten überwältigenden Glücks in größte Gefahr. Anatoli Pristawkin bringt die politischen Realitäten so ungeschönt zur Sprache, dass sein Werk in Russland erst mit Beginn der Perestroika erscheinen durfte.
»Obwohl Pristawkin keine Empathie vorgibt, die kein Opfer für seinen Täter zu empfinden braucht, vermag er dennoch, Verständnis für die Tschetschenen zu wecken, die in Rußland bis heute die Schwarzen geblieben sind. Das istdann schon die hohe Kunst der Literatur und womöglich noch wichtiger, als den Feind zu lieben: ihn zu verstehen.« Navid Kermani.
Jetzt in aktualisierter und überarbeiteter Übersetzung der unzensiert.
Fünfhundert Kinder aus einem Moskauer Waisenhaus werden im Sommer 1944 in den Kaukasus verschickt, unter ihnen Saschka und Kolka. Die elfjährigen Zwillinge hoffen, endlich ihren quälenden Hunger hinter sich zu lassen. Doch bereits ihre Ankunft wird von bedrohlichen Detonationen in den nahe gelegenen Bergen begleitet. Bewaffnete Tschetschenen, die der Zwangsaussiedlung entfliehen konnten, setzen sich erbittert gegen die russischen Eindringlinge zur Wehr - und die Brüder geraten nach Momenten überwältigenden Glücks in größte Gefahr. Anatoli Pristawkin bringt die politischen Realitäten so ungeschönt zur Sprache, dass sein Werk in Russland erst mit Beginn der Perestroika erscheinen durfte.
»Obwohl Pristawkin keine Empathie vorgibt, die kein Opfer für seinen Täter zu empfinden braucht, vermag er dennoch, Verständnis für die Tschetschenen zu wecken, die in Rußland bis heute die Schwarzen geblieben sind. Das istdann schon die hohe Kunst der Literatur und womöglich noch wichtiger, als den Feind zu lieben: ihn zu verstehen.« Navid Kermani.
Jetzt in aktualisierter und überarbeiteter Übersetzung der unzensiert.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sabine Berking ist glücklich, dass Anatoli Pristawkins russischer Klassiker, stark zensiert erstmals 1981 erschienen, nun in der ursprünglichen Übersetzung von Thomas Reschke, aber neu bearbeitet von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links, erneut publiziert wurde. Die Kritikerin liest die autobiografisch grundierte Geschichte um ein verwaistes Zwillingspaar, das in ein Kinderheim in den Kaukasus verschickt wird, so erschüttert wie berührt. Im Hintergrund der Geschichte steht Stalins großer Bevölkerungsaustausch, klärt Berking auf: Im Februar 1944 veranlasste Stalin die Deportation einer halben Million Tschetschenen aus dem Kaukasus nach Kasachstan und Sibirien, die beiden Zwillingsbrüder geraten tief in die grausamen Kämpfe der Nationalitätenpolitik, fährt die Rezensentin fort. Pristawkins Sprache voller Witz und Klugheit machen den Roman für die Kritikerin zu einem der "schönsten und aufrichtigsten" Bücher der russischen Literatur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2021Ein Romanrequiem für die Kinder
Anatoli Pristawkins autobiographische Geschichte über die Zeiten des stalinistischen Grauens
Das Allerheiligste ist den Kusmin-Zwillingen der Brotschneideraum. Nur dass ein acht Kilo schweres Speicherschloss davorhängt! Im Winter 1943/44 hungern die Bewohner des Kinderheims in Tomilino bei Moskau entsetzlich. Von dem wenigen, was es gibt, reißt sich der korrupte Direktor das meiste unter den Nagel. Dass jemand Hähnchenflügel nicht mag, wie eine Figur in Tolstois "Krieg und Frieden", ist ihnen vollkommen schleierhaft. Deshalb beschließen die elfjährigen Brüder, einen Tunnel zu graben, um sich wenigstens einmal satt zu essen. Zur Tarnung des Unternehmens Brotkrume nimmt wechselseitig nur einer der beiden am Unterricht teil, einmal als er selbst und einmal als sein Bruder. Unterscheiden kann sie ohnehin keiner.
Als der Boden unter der Brotkammer infolge der Grabungen einstürzt, heißt es, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, um nicht aufzufliegen. Ein Transport für fünfhundert Waisenkinder in den Kaukasus kommt da gerade recht. Das Gebirge kennen die beiden lediglich von der Verpackung der Papirossy-Marke "Kasbek" und "kilometerlangen" Gedichten aus dem Unterricht wie jenem über das schlafende "goldne Wölkchen unter Sternen an der Felsenriesen Brust". Auf der tagelangen Fahrt erleben sie quälenden Hunger, elenden Durchfall und die Sorge, einer von beiden könnte das Ziel nicht erreichen. Während Saschka mit dem Leben ringt, macht sein Bruder Kolka auf dem Abstellgleis einer Bahnstation eine schauerliche Entdeckung: Aus einem verriegelten Güterzug blicken ihn angstvolle Kinderaugen an. Kleine Hände betteln um Wasser und Nahrung.
Was Kolka nicht ahnen konnte: Im Februar 1944 ließ Stalin durch seinen Geheimdienst NKWD eine halbe Million Tschetschenen aus dem Kaukasus nach Kasachstan und Sibirien deportieren, ein Viertel von ihnen überlebte die Vertreibung nicht. Wie auch anderen Völkern der Sowjetunion wurde ihnen kollektiv Kollaboration mit den Deutschen unterstellt. In die leeren Dörfer siedelten Russen aus dem kriegszerstörten Westen des Landes um, auch sie nicht unbedingt freiwillig. Die Deportation und ihre Folgen, von einigen Staaten heute als Völkermord anerkannt, war der vorläufige Höhepunkt eines über Jahrhunderte hinweg schwelenden Konflikts zwischen Russland und dem Kaukasusvolk - eine tickende Zeitbombe, die in den Neunzigerjahren explodieren sollte.
Die Kusmins werden somit Teil eines gigantischen Bevölkerungsaustauschs, gegen den sich in den Bergen verschanzte Tschetschenen militant wehren. Die unzertrennlichen Brüder geraten immer mehr in den Strudel der blutigen Nationalitätenpolitik, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie sich befinden. Die exotische Berglandschaft, die Geheimnisse um die leeren Dörfer, die im wahrsten Sinne satt machende Arbeit in einer Marmeladenfabrik, wortkarge Neusiedler und die von beiden angehimmelte Erzieherin wirken zunächst wie ein Abenteuer, bis die blutige Rache der Entrechteten das Lager der Kinder erreicht. Der Kaukasus als Arkadien und kolonialer Albtraum der Russen schwingt in all diesen Bildern mit.
Anatoli Pristawkin (1931 bis 2008) hatte die Kriegsjahre selbst als Straßenjunge und Zögling in sowjetischen Kinderheimen er- und überlebt. Die Mutter war früh verstorben, der Vater an der Front. Auch er kam mit einem Kindertransport in die Bergregion. Mehr als drei Jahrzehnte trug er das Trauma dieser Jahre in sich, bis er das Erlebte literarisch verarbeitete. Im Roman wechselt die Erzählstimme immer wieder von der eines allwissenden Autors in die erste Person Plural und ins Ich. "Wir waren doch ein halbes Tausend in dem Zug. Irgendwer, wenigstens einer hört mich vielleicht von den Überlebenden, obwohl viele zugrunde gegangen sind, teilweise vor meinen Augen, gestorben in dem neuen Land, in das sie uns gebracht haben."
Die Geschichte der Kusmin-Brüder mit ihrem brutalen, tragischen und zugleich berührend hoffnungsvollen Ende setzt jenen Kindern ein literarisches Denkmal, die durch Krieg und stalinistische Säuberungen auf sich allein gestellt blieben. Angesichts der Millionen Opfer kann man nur ahnen, wie viele unbehauste Minderjährige es damals gewesen sein müssen. In einer der letzten Szenen danken Kinder in einer Waisensammelstelle in Grosny dem Genossen Stalin für ihre glückliche Kindheit. Danach rezitiert Kolka das Gedicht vom goldenen Wölkchen, bis ihm beim Wort "einsam" die Stimme versagt.
Der Roman ist auch ein seiner Entstehungszeit vorauseilendes mutiges Plädoyer der ethnischen Aussöhnung und eine bittere Anklage gegen jeden politischen Nationalismus. Zum Ende wechselt der Erzähler in die Jetztzeit um 1980 und erlebt inmitten einer Gruppe von Kriegsveteranen, die sich mit ihrer Beteiligung an den Vertreibungen brüsten, ein bitteres Déjà-vu. "Zwangsläufig kam mir der Gedanke, dass sie noch leben . . . alle die Leute, die in Stalins Namen seinen Willen ausgeführt haben."
In seiner Heimat wurde Anatoli Pristawkin in der postsowjetischen Ära zur moralischen Instanz und zum Leiter der staatlichen Begnadigungskommission (die unter Putin wieder abgeschafft wurde!). Hunderte zum Tode Verurteilte verdanken ihm ihr Leben, Zehntausenden verhalf er zu einer Milderung der Haftstrafen. Sein Roman ist in seiner Heimat ein Klassiker, übersetzt in Dutzende Sprachen wurde er zum Welterfolg. 1981 war er stark zensiert erstmals in einer sowjetischen Literaturzeitschrift erschienen. Danach brauchte es sieben weitere Jahre bis zur unzensierten Buchfassung. Wie durch ein Wunder rutschte der Band noch vor der Wende durch das notorisch engmaschige Netz der DDR-Zensurbehörde und konnte im Ostberliner Verlag Volk & Welt 1989 publiziert werden. Taschenbuchausgaben, Theateradaptionen und eine Verfilmung folgten. Dann wurde es still.
Manchmal geht man blind an einem Buch vorbei, ohne den blassesten Schimmer zu haben, was einem entgeht. Navid Kermani beschreibt in seinem klugen Nachwort, dass es ihm fast so ergangen wäre, bis er beim Umräumen zufällig auf die alte DDR-Ausgabe stieß, die ihm eine Kollegin für eine Reise nach Tschetschenien geschenkt hatte. Der Roman mit dem einer Verszeile von Michail Lermontow entlehnten Titel zählt zum Schönsten, Aufrichtigsten und Bewegendsten, was in der russischen Literatur geschrieben wurde. An der klugen, gewitzten Sprache der in ihrem Charakter ganz verschiedenen Kusmin-Brüder, ihrer leisen Nachdenklichkeit und dem suggestiven Klang der sich anbahnenden Tragödie in der ursprünglichen Übersetzung von Thomas Reschke wurde glücklicherweise kaum etwas geändert. Hier und da hat man ein wenig gestrafft und das Vokabular nach dreißig Jahren angepasst, so wurden beispielsweise aus den "Muselmännern", die es im russischen Original gar nicht gibt, "Tschetschmeken". Herausgekommen ist eine behutsame Überarbeitung einer gelungenen Übersetzung und kein neuer Text. Bemerkenswert ist außerdem, dass Übersetzer und Neubearbeiterinnen gleichermaßen erwähnt werden; solch kollegiale Wertschätzung ist im literarischen Übersetzungsgewerbe nicht alltäglich.
Das Geheimnis der goldenen Wolke, die am Felsen schlief, erklärt Saschka seinem Bruder beim kräftezehrenden Tunnelgraben übrigens so: Die Wolke, die ist gegen den Felsen gestoßen, "hat 'ne Runde gepennt . . . und ist weitergezogen . . .". Was die so zusammenschreiben, erwidert Kolka, von Hähnchen und Wölkchen. SABINE BERKING.
Anatoli Pristawkin: "Schlief ein goldnes Wölkchen". Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Neu überarbeitet von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links. Mit einem Nachwort von Navid Kermani. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 320 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anatoli Pristawkins autobiographische Geschichte über die Zeiten des stalinistischen Grauens
Das Allerheiligste ist den Kusmin-Zwillingen der Brotschneideraum. Nur dass ein acht Kilo schweres Speicherschloss davorhängt! Im Winter 1943/44 hungern die Bewohner des Kinderheims in Tomilino bei Moskau entsetzlich. Von dem wenigen, was es gibt, reißt sich der korrupte Direktor das meiste unter den Nagel. Dass jemand Hähnchenflügel nicht mag, wie eine Figur in Tolstois "Krieg und Frieden", ist ihnen vollkommen schleierhaft. Deshalb beschließen die elfjährigen Brüder, einen Tunnel zu graben, um sich wenigstens einmal satt zu essen. Zur Tarnung des Unternehmens Brotkrume nimmt wechselseitig nur einer der beiden am Unterricht teil, einmal als er selbst und einmal als sein Bruder. Unterscheiden kann sie ohnehin keiner.
Als der Boden unter der Brotkammer infolge der Grabungen einstürzt, heißt es, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, um nicht aufzufliegen. Ein Transport für fünfhundert Waisenkinder in den Kaukasus kommt da gerade recht. Das Gebirge kennen die beiden lediglich von der Verpackung der Papirossy-Marke "Kasbek" und "kilometerlangen" Gedichten aus dem Unterricht wie jenem über das schlafende "goldne Wölkchen unter Sternen an der Felsenriesen Brust". Auf der tagelangen Fahrt erleben sie quälenden Hunger, elenden Durchfall und die Sorge, einer von beiden könnte das Ziel nicht erreichen. Während Saschka mit dem Leben ringt, macht sein Bruder Kolka auf dem Abstellgleis einer Bahnstation eine schauerliche Entdeckung: Aus einem verriegelten Güterzug blicken ihn angstvolle Kinderaugen an. Kleine Hände betteln um Wasser und Nahrung.
Was Kolka nicht ahnen konnte: Im Februar 1944 ließ Stalin durch seinen Geheimdienst NKWD eine halbe Million Tschetschenen aus dem Kaukasus nach Kasachstan und Sibirien deportieren, ein Viertel von ihnen überlebte die Vertreibung nicht. Wie auch anderen Völkern der Sowjetunion wurde ihnen kollektiv Kollaboration mit den Deutschen unterstellt. In die leeren Dörfer siedelten Russen aus dem kriegszerstörten Westen des Landes um, auch sie nicht unbedingt freiwillig. Die Deportation und ihre Folgen, von einigen Staaten heute als Völkermord anerkannt, war der vorläufige Höhepunkt eines über Jahrhunderte hinweg schwelenden Konflikts zwischen Russland und dem Kaukasusvolk - eine tickende Zeitbombe, die in den Neunzigerjahren explodieren sollte.
Die Kusmins werden somit Teil eines gigantischen Bevölkerungsaustauschs, gegen den sich in den Bergen verschanzte Tschetschenen militant wehren. Die unzertrennlichen Brüder geraten immer mehr in den Strudel der blutigen Nationalitätenpolitik, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie sich befinden. Die exotische Berglandschaft, die Geheimnisse um die leeren Dörfer, die im wahrsten Sinne satt machende Arbeit in einer Marmeladenfabrik, wortkarge Neusiedler und die von beiden angehimmelte Erzieherin wirken zunächst wie ein Abenteuer, bis die blutige Rache der Entrechteten das Lager der Kinder erreicht. Der Kaukasus als Arkadien und kolonialer Albtraum der Russen schwingt in all diesen Bildern mit.
Anatoli Pristawkin (1931 bis 2008) hatte die Kriegsjahre selbst als Straßenjunge und Zögling in sowjetischen Kinderheimen er- und überlebt. Die Mutter war früh verstorben, der Vater an der Front. Auch er kam mit einem Kindertransport in die Bergregion. Mehr als drei Jahrzehnte trug er das Trauma dieser Jahre in sich, bis er das Erlebte literarisch verarbeitete. Im Roman wechselt die Erzählstimme immer wieder von der eines allwissenden Autors in die erste Person Plural und ins Ich. "Wir waren doch ein halbes Tausend in dem Zug. Irgendwer, wenigstens einer hört mich vielleicht von den Überlebenden, obwohl viele zugrunde gegangen sind, teilweise vor meinen Augen, gestorben in dem neuen Land, in das sie uns gebracht haben."
Die Geschichte der Kusmin-Brüder mit ihrem brutalen, tragischen und zugleich berührend hoffnungsvollen Ende setzt jenen Kindern ein literarisches Denkmal, die durch Krieg und stalinistische Säuberungen auf sich allein gestellt blieben. Angesichts der Millionen Opfer kann man nur ahnen, wie viele unbehauste Minderjährige es damals gewesen sein müssen. In einer der letzten Szenen danken Kinder in einer Waisensammelstelle in Grosny dem Genossen Stalin für ihre glückliche Kindheit. Danach rezitiert Kolka das Gedicht vom goldenen Wölkchen, bis ihm beim Wort "einsam" die Stimme versagt.
Der Roman ist auch ein seiner Entstehungszeit vorauseilendes mutiges Plädoyer der ethnischen Aussöhnung und eine bittere Anklage gegen jeden politischen Nationalismus. Zum Ende wechselt der Erzähler in die Jetztzeit um 1980 und erlebt inmitten einer Gruppe von Kriegsveteranen, die sich mit ihrer Beteiligung an den Vertreibungen brüsten, ein bitteres Déjà-vu. "Zwangsläufig kam mir der Gedanke, dass sie noch leben . . . alle die Leute, die in Stalins Namen seinen Willen ausgeführt haben."
In seiner Heimat wurde Anatoli Pristawkin in der postsowjetischen Ära zur moralischen Instanz und zum Leiter der staatlichen Begnadigungskommission (die unter Putin wieder abgeschafft wurde!). Hunderte zum Tode Verurteilte verdanken ihm ihr Leben, Zehntausenden verhalf er zu einer Milderung der Haftstrafen. Sein Roman ist in seiner Heimat ein Klassiker, übersetzt in Dutzende Sprachen wurde er zum Welterfolg. 1981 war er stark zensiert erstmals in einer sowjetischen Literaturzeitschrift erschienen. Danach brauchte es sieben weitere Jahre bis zur unzensierten Buchfassung. Wie durch ein Wunder rutschte der Band noch vor der Wende durch das notorisch engmaschige Netz der DDR-Zensurbehörde und konnte im Ostberliner Verlag Volk & Welt 1989 publiziert werden. Taschenbuchausgaben, Theateradaptionen und eine Verfilmung folgten. Dann wurde es still.
Manchmal geht man blind an einem Buch vorbei, ohne den blassesten Schimmer zu haben, was einem entgeht. Navid Kermani beschreibt in seinem klugen Nachwort, dass es ihm fast so ergangen wäre, bis er beim Umräumen zufällig auf die alte DDR-Ausgabe stieß, die ihm eine Kollegin für eine Reise nach Tschetschenien geschenkt hatte. Der Roman mit dem einer Verszeile von Michail Lermontow entlehnten Titel zählt zum Schönsten, Aufrichtigsten und Bewegendsten, was in der russischen Literatur geschrieben wurde. An der klugen, gewitzten Sprache der in ihrem Charakter ganz verschiedenen Kusmin-Brüder, ihrer leisen Nachdenklichkeit und dem suggestiven Klang der sich anbahnenden Tragödie in der ursprünglichen Übersetzung von Thomas Reschke wurde glücklicherweise kaum etwas geändert. Hier und da hat man ein wenig gestrafft und das Vokabular nach dreißig Jahren angepasst, so wurden beispielsweise aus den "Muselmännern", die es im russischen Original gar nicht gibt, "Tschetschmeken". Herausgekommen ist eine behutsame Überarbeitung einer gelungenen Übersetzung und kein neuer Text. Bemerkenswert ist außerdem, dass Übersetzer und Neubearbeiterinnen gleichermaßen erwähnt werden; solch kollegiale Wertschätzung ist im literarischen Übersetzungsgewerbe nicht alltäglich.
Das Geheimnis der goldenen Wolke, die am Felsen schlief, erklärt Saschka seinem Bruder beim kräftezehrenden Tunnelgraben übrigens so: Die Wolke, die ist gegen den Felsen gestoßen, "hat 'ne Runde gepennt . . . und ist weitergezogen . . .". Was die so zusammenschreiben, erwidert Kolka, von Hähnchen und Wölkchen. SABINE BERKING.
Anatoli Pristawkin: "Schlief ein goldnes Wölkchen". Roman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Neu überarbeitet von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links. Mit einem Nachwort von Navid Kermani. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 320 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[...]ein erschütterndes literarisches autobiografisches Zeitdokument [...], das nun in einer neuen Ausgabe wiederentdeckt werden kann - und sollte.« Mitteldeutsche Zeitung 20211106
Rezensentin Sabine Berking ist glücklich, dass Anatoli Pristawkins russischer Klassiker, stark zensiert erstmals 1981 erschienen, nun in der ursprünglichen Übersetzung von Thomas Reschke, aber neu bearbeitet von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links, erneut publiziert wurde. Die Kritikerin liest die autobiografisch grundierte Geschichte um ein verwaistes Zwillingspaar, das in ein Kinderheim in den Kaukasus verschickt wird, so erschüttert wie berührt. Im Hintergrund der Geschichte steht Stalins großer Bevölkerungsaustausch, klärt Berking auf: Im Februar 1944 veranlasste Stalin die Deportation einer halben Million Tschetschenen aus dem Kaukasus nach Kasachstan und Sibirien, die beiden Zwillingsbrüder geraten tief in die grausamen Kämpfe der Nationalitätenpolitik, fährt die Rezensentin fort. Pristawkins Sprache voller Witz und Klugheit machen den Roman für die Kritikerin zu einem der "schönsten und aufrichtigsten" Bücher der russischen Literatur.
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