Zum Reformationsjubiläum 2017 gibt es eine regelrechte Publikationsflut zu den Themen „Reformation“ und „Martin Luther“. Martin Luther wird darin oft zu einem Superstar. Mit ihm lassen sich momentan gute Geschäfte machen. Da fragt man sich: wo bleiben die kritischen Stimmen? Schließlich waren
Luthers 95 Thesen vor 500 Jahren auch eine Kritik an der verkrusteten Kirche.
Der Journalist und…mehrZum Reformationsjubiläum 2017 gibt es eine regelrechte Publikationsflut zu den Themen „Reformation“ und „Martin Luther“. Martin Luther wird darin oft zu einem Superstar. Mit ihm lassen sich momentan gute Geschäfte machen. Da fragt man sich: wo bleiben die kritischen Stimmen? Schließlich waren Luthers 95 Thesen vor 500 Jahren auch eine Kritik an der verkrusteten Kirche.
Der Journalist und Buchautor Peter Henkel macht diesen kritischen Ansatz und hinterfragt nicht nur den jetzigen Luther-Kult sondern vor allem Luthers Wirken und dessen Folgen. Für ihn waren die geschichtlichen Abläufe vor, während und nach der Reformation oft erheblich komplexer, als die heutige Heldenverehrung für den Reformator das wahrhaben will. Zwar muss man die jeweiligen Lebens- und Denkumstände berücksichtigen, doch Henkel wehrt sich dagegen, damit Fehltritte und Vergehen der Akteure zu bagatellisieren oder gar zu leugnen.
Auf den knapp 200 Seiten bleibt Henkel diesem kritischen Vorsatz treu und beleuchtet als Nichttheologe Luthers Dogma ohne dessen Stärken, Begabungen und Bedeutung schlechtzureden. Luthers theologisch begründete Rebellion bedeutete einen Frontalangriff auf den Papst, obwohl er keineswegs als Erster von der Kirche Reformen verlangte. Für Henkel trägt Luther eine erhebliche Mitschuld an den europäischen Religionskriegen, indem er „bis an sein Lebensende Hass und Verachtung für die Gegenseite schürte und die Konfrontation befeuerte“. Radikal und fragwürdig findet er auch Luthers Gottesvorstellung und dessen Dogma von der Unfähigkeit des Menschen, aus eigenem Vermögen, durch eigenen Willen und durch eigenes Tun zum eigenen Heil beizutragen. Für Luther hatte die Nichtigkeit des Menschen stets enorme Bedeutung.
Wohl nichts hat das Ansehen des Reformators so beschädigt wie seine antijüdischen Äußerungen, die Henkel auf Vokabular und historischen Hintergrund beleuchtet. Für ihn ist eine antijudaistische Haltung in Luthers Theologie geradezu „unvermeidlich“. Auch mit Luthers Konflikt mit der römischen Kirche setzt sich der Autor auseinander. Hier äußert sich für ihn an vielen Stellen Luthers Eigensinn. Aber auch die katholisch-römische Kirche mit allesamt ihren Praktiken war nicht wandlungsfähig, so wurde die Auseinandersetzung immer rauer und verbissener. Abschließend widmet sich Henkel der „fiktiven“ Krankenakte des „Herkules Germanicus“, denn Luther war kein, wie vielfach angenommen, lebensfroher Kraftprotz, sondern zunehmend von körperlichen Gebrechen und psychischen Stimmungen geplagt.
Henkel vermeidet stets „allzu kühnes Behaupten und Schlussfolgern“, aber er hinterfragt Fakten und Lebensumstände, um ein ungefähres Bild zu gewinnen, wie Luther wurde, was er war. Im abschließenden Kapitel „Finale“ wird ein Blick auf den heutigen Zustand der christlichen Kirche geworfen, die für den Autor ein „lebensdienliches Produkt der soziokulturellen Evolution“ ist.
Man mag Henkels Ansichten nicht immer teilen, aber er ist stets um Objektivität bemüht und seine kritische Sicht auf das idealisierte Luther-Bild, das momentan Hochkonjunktur hat, trägt zur willkommenen Entzauberung eines „Radikalen“ bei.