Schmerz erzeugt Aggression. Doch die "Schmerzgrenze" des Gehirns verläuft anders, als wir bisher dachten
Brutale Gewalt in aller Öffentlichkeit, Amokläufe an Schulen, tödliche ethnische Konflikte und Kriege um knapper werdende Ressourcen: Das Phänomen der Aggression wird immer bedrängender und macht uns Angst.
Der "Aggressionstrieb", folgenreiche Erfindung von Sigmund Freud und Konrad Lorenz, erklärte die Gewalt zur unverrückbaren Konstante der menschlichen Natur. Joachim Bauer entlarvt den Mythos des Aggressionstriebes und liefert mit Schmerzgrenze eine Neukonzeption des Gewaltphänomens, die auf neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Evolutionärer Zweck der Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren zu können. Doch die Schmerzgrenze des Gehirns verläuft anders, als wir bisher dachten. Unser Gehirn bewertet Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies bedeutet: Aggressionsteht im Dienste der Verteidigung sozialer Bindungen.
Auch Armut bedeutet Ausgrenzung und Demütigung, zumal wenn sie sich im Angesicht von Reichtum ausbreitet. Wasser, Nahrung und Rohstoffe werden auf unserem Globus zur immer knapperen Ressource. Wenn wir das Problem der ungerechten Ressourcenverteilung nicht in den Griff bekommen, wird die Gewalt weltweit zunehmen und die menschliche Existenz bedrohen.
Joachim Bauers neues Buch "Schmerzgrenze" zeigt: Nur Fairness, Kooperation und ein neues Verständnis der Mechanismen der Gewalt können einen Weg aus der Aggressionsspirale weisen.
Brutale Gewalt in aller Öffentlichkeit, Amokläufe an Schulen, tödliche ethnische Konflikte und Kriege um knapper werdende Ressourcen: Das Phänomen der Aggression wird immer bedrängender und macht uns Angst.
Der "Aggressionstrieb", folgenreiche Erfindung von Sigmund Freud und Konrad Lorenz, erklärte die Gewalt zur unverrückbaren Konstante der menschlichen Natur. Joachim Bauer entlarvt den Mythos des Aggressionstriebes und liefert mit Schmerzgrenze eine Neukonzeption des Gewaltphänomens, die auf neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Evolutionärer Zweck der Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren zu können. Doch die Schmerzgrenze des Gehirns verläuft anders, als wir bisher dachten. Unser Gehirn bewertet Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies bedeutet: Aggressionsteht im Dienste der Verteidigung sozialer Bindungen.
Auch Armut bedeutet Ausgrenzung und Demütigung, zumal wenn sie sich im Angesicht von Reichtum ausbreitet. Wasser, Nahrung und Rohstoffe werden auf unserem Globus zur immer knapperen Ressource. Wenn wir das Problem der ungerechten Ressourcenverteilung nicht in den Griff bekommen, wird die Gewalt weltweit zunehmen und die menschliche Existenz bedrohen.
Joachim Bauers neues Buch "Schmerzgrenze" zeigt: Nur Fairness, Kooperation und ein neues Verständnis der Mechanismen der Gewalt können einen Weg aus der Aggressionsspirale weisen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2011Diesseits der Schmerzgrenze
Warum wir ohne Aggression nicht überleben können: Joachim Bauer spürt den Wurzeln der Gewalt nach
Sigmund Freud hatte im Ersten Weltkrieg zwei Söhne verloren. Traumatisiert wie die meisten seiner Zeitgenossen, suchte er nach einer Erklärung für die Kriegsgreuel und fand sie im Aggressionstrieb: Den Menschen treibe eine Lust am Töten, an Aggression und Zerstörung, der Krieg sei naturgemäß und kaum vermeidbar.
Konrad Lorenz machte den neuen Trieb in den sechziger Jahren populär, und seither geistert er im öffentlichen Diskurs herum, dient mal der Rechtfertigung des Raubtierkapitalismus und mal der Erklärung deutscher Verbrechen im Nationalsozialismus. Doch der Mensch ist dem Menschen kein Wolf. Der Aggressionstrieb hat sich als der große Flop der Psychoanalyse erwiesen, schreibt der Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer und holt aus zu einer neurobiologisch begründeten Theorie der Aggression in Individuum und Weltgeschichte.
Der Mensch, so Bauer, ist seinem innersten Wesen nach sozial. Er besitzt eine natürliche Veranlagung zur Empathie, und sein Motivationssystem wird durch nichts so sehr auf Touren gebracht wie durch soziale Integration und Anerkennung.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Menschen nicht aggressiv sein könnten. Doch Aggression hat ihre Wurzeln nicht in einem geheimnisvollen dunklen Kämmerchen in der menschlichen Seele. Es gibt keine tief in unserer Biologie auffindbare "Macht des Bösen". Aggression, so Bauer, ist nicht selbst Teil des Motivationssystems, kein Trieb, sondern ein reaktives Verhaltenssystem, das zunächst dazu da ist, die körperliche Unversehrtheit zu bewahren: Wer einem Lebewesen Schmerz zufügt, wird Aggression ernten. Doch ebenso wie auf körperlichen Schmerz reagieren die Schmerzzentren des Gehirns auf Ausgrenzung und Demütigung. Auch wer einen Menschen unfair behandelt, demütigt, ausgrenzt oder missachtet, überschreitet seine Schmerzgrenze. Aggression, so Bauer, ist ebenso ein System, das den sozialen Zusammenhalt schützen soll.
Diese Einsicht macht den Menschen erst einmal nicht weniger aggressiv, aber nur wenn wir verstehen, wie Aggression funktioniert, können wir ihr richtig entgegentreten, argumentiert Bauer. Es nütze niemandem, etwa einen Amoklauf an einer Schule als ein Ereignis außerhalb der Naturgesetze zu betrachten. Jeder Tat gehe vielmehr eine langsame konsequente Entwicklung voraus, und wer sie verstehen und in Zukunft vermeiden will, muss diese nachvollziehen, statt sich auf einen unbeeinflussbaren Aggressionstrieb zu berufen. In diesen Entwicklungsgeschichten spielen Ausgrenzung, Vernachlässigung und die Erfahrung, unfair behandelt zu werden, eine große Rolle.
Aggression ist nicht von vornherein schlecht, und aus der Welt schaffen lässt sie sich auch nicht. Es müsse vielmehr darum gehen, zu verhindern, dass sie in Gewalt umschlägt, so Bauer. Letzteres geschieht, wenn die Aggression nicht kommuniziert werden kann oder als kommunikatives Signal nicht verstanden wird. Ist es erst soweit gekommen, richtet sie sich auch nicht unbedingt gegen ihren Verursacher. "Verschobene Aggression" nennt Bauer Gewaltausbrüche, die beliebige Unbeteiligte treffen können. Wie also lassen sie sich verhindern? Für die "alltägliche Gewalt" konstatiert der Autor eine weitgehende Übereinstimmung von Neurowissenschaften und Sozialforschung: Neurowissenschaftler können heute durch Experimente im Hirnscanner zeigen, was Sozialarbeiter seit Dekaden predigen: Fürsorge, Achtsamkeit, Erziehung und Bildung sind die wichtigsten Faktoren der Gewaltprävention.
Was die "globale Gewalt" angeht, greift Bauer bis hinter die neolithische Revolution zurück. Als die egalitär organisierten Jäger und Sammler noch im fruchtbaren Halbmond lebten, war das Leben demnach überschaubar und friedlich. Dann passierte, was Forscher den "Event" nennen, was in der christlichen Mythologie "Vertreibung aus dem Paradies" heißt und was vermutlich weniger mit dem Pflücken von Äpfeln als dem Fällen von zu vielen Bäumen zu tun hatte. Mit dem Event begann der Stress: harte Arbeit in großen, hierarchisch organisierten Gesellschaften. Die alten impliziten Formen der Interaktion passten nicht mehr, Moralsysteme und Religionen traten mit mäßigem Erfolg an ihre Stelle, Gewalt wurde und blieb Markenzeichen der Geschichte.
Heute ist eine neolithische Revolution im globalen Maßstab im Gange, so Bauer. Leistungsdruck, Desintegration und Gewalt prägen eine Welt, in der sich die Verteilungskämpfe um die knapper werdenden Ressourcen verschärfen und Sozialsysteme mehr und mehr in Ingroups und Outgroups zerfallen. Nicht nur Individuen, auch Gesellschaften kennen Aggressionsgedächtnis und verschobene Aggression und können krasse Ungleichheit nicht ertragen, warnt Bauer.
Die Widerlegung des Mythos vom Aggressionstrieb sei keine illegitime Intervention der Neurobiologie in politische Belange, betont der Autor in seinem kühnen Rundumschlag, in dem weder der Medienkonsum der Jugendlichen noch der Genuss von zu viel Schokolade oder radikale Islamvorstellungen fehlen. In der Tat ist diese Intervention schon deshalb unproblematisch, weil sie die vorhandenen Erkenntnisse bestätigt und unterfüttert.
Was den Kern der Moral angeht, bestätigt Bauer eine viel ältere Position: Wir müssen erkennen, so der Autor, dass es kein eindeutiges Gut oder Böse gibt und dass wir der Versuchung widerstehen sollten, uns selbst oder andere einer eindeutig moralischen oder unmoralischen Position zuzuordnen: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Und beruft euch nie wieder auf den Aggressionstrieb, wenn es euch nicht gelungen ist, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen.
MANUELA LENZEN
Joachim Bauer: "Schmerzgrenze". Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt.
Karl Blessing Verlag, München 2011. 286 S., Abb., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum wir ohne Aggression nicht überleben können: Joachim Bauer spürt den Wurzeln der Gewalt nach
Sigmund Freud hatte im Ersten Weltkrieg zwei Söhne verloren. Traumatisiert wie die meisten seiner Zeitgenossen, suchte er nach einer Erklärung für die Kriegsgreuel und fand sie im Aggressionstrieb: Den Menschen treibe eine Lust am Töten, an Aggression und Zerstörung, der Krieg sei naturgemäß und kaum vermeidbar.
Konrad Lorenz machte den neuen Trieb in den sechziger Jahren populär, und seither geistert er im öffentlichen Diskurs herum, dient mal der Rechtfertigung des Raubtierkapitalismus und mal der Erklärung deutscher Verbrechen im Nationalsozialismus. Doch der Mensch ist dem Menschen kein Wolf. Der Aggressionstrieb hat sich als der große Flop der Psychoanalyse erwiesen, schreibt der Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer und holt aus zu einer neurobiologisch begründeten Theorie der Aggression in Individuum und Weltgeschichte.
Der Mensch, so Bauer, ist seinem innersten Wesen nach sozial. Er besitzt eine natürliche Veranlagung zur Empathie, und sein Motivationssystem wird durch nichts so sehr auf Touren gebracht wie durch soziale Integration und Anerkennung.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Menschen nicht aggressiv sein könnten. Doch Aggression hat ihre Wurzeln nicht in einem geheimnisvollen dunklen Kämmerchen in der menschlichen Seele. Es gibt keine tief in unserer Biologie auffindbare "Macht des Bösen". Aggression, so Bauer, ist nicht selbst Teil des Motivationssystems, kein Trieb, sondern ein reaktives Verhaltenssystem, das zunächst dazu da ist, die körperliche Unversehrtheit zu bewahren: Wer einem Lebewesen Schmerz zufügt, wird Aggression ernten. Doch ebenso wie auf körperlichen Schmerz reagieren die Schmerzzentren des Gehirns auf Ausgrenzung und Demütigung. Auch wer einen Menschen unfair behandelt, demütigt, ausgrenzt oder missachtet, überschreitet seine Schmerzgrenze. Aggression, so Bauer, ist ebenso ein System, das den sozialen Zusammenhalt schützen soll.
Diese Einsicht macht den Menschen erst einmal nicht weniger aggressiv, aber nur wenn wir verstehen, wie Aggression funktioniert, können wir ihr richtig entgegentreten, argumentiert Bauer. Es nütze niemandem, etwa einen Amoklauf an einer Schule als ein Ereignis außerhalb der Naturgesetze zu betrachten. Jeder Tat gehe vielmehr eine langsame konsequente Entwicklung voraus, und wer sie verstehen und in Zukunft vermeiden will, muss diese nachvollziehen, statt sich auf einen unbeeinflussbaren Aggressionstrieb zu berufen. In diesen Entwicklungsgeschichten spielen Ausgrenzung, Vernachlässigung und die Erfahrung, unfair behandelt zu werden, eine große Rolle.
Aggression ist nicht von vornherein schlecht, und aus der Welt schaffen lässt sie sich auch nicht. Es müsse vielmehr darum gehen, zu verhindern, dass sie in Gewalt umschlägt, so Bauer. Letzteres geschieht, wenn die Aggression nicht kommuniziert werden kann oder als kommunikatives Signal nicht verstanden wird. Ist es erst soweit gekommen, richtet sie sich auch nicht unbedingt gegen ihren Verursacher. "Verschobene Aggression" nennt Bauer Gewaltausbrüche, die beliebige Unbeteiligte treffen können. Wie also lassen sie sich verhindern? Für die "alltägliche Gewalt" konstatiert der Autor eine weitgehende Übereinstimmung von Neurowissenschaften und Sozialforschung: Neurowissenschaftler können heute durch Experimente im Hirnscanner zeigen, was Sozialarbeiter seit Dekaden predigen: Fürsorge, Achtsamkeit, Erziehung und Bildung sind die wichtigsten Faktoren der Gewaltprävention.
Was die "globale Gewalt" angeht, greift Bauer bis hinter die neolithische Revolution zurück. Als die egalitär organisierten Jäger und Sammler noch im fruchtbaren Halbmond lebten, war das Leben demnach überschaubar und friedlich. Dann passierte, was Forscher den "Event" nennen, was in der christlichen Mythologie "Vertreibung aus dem Paradies" heißt und was vermutlich weniger mit dem Pflücken von Äpfeln als dem Fällen von zu vielen Bäumen zu tun hatte. Mit dem Event begann der Stress: harte Arbeit in großen, hierarchisch organisierten Gesellschaften. Die alten impliziten Formen der Interaktion passten nicht mehr, Moralsysteme und Religionen traten mit mäßigem Erfolg an ihre Stelle, Gewalt wurde und blieb Markenzeichen der Geschichte.
Heute ist eine neolithische Revolution im globalen Maßstab im Gange, so Bauer. Leistungsdruck, Desintegration und Gewalt prägen eine Welt, in der sich die Verteilungskämpfe um die knapper werdenden Ressourcen verschärfen und Sozialsysteme mehr und mehr in Ingroups und Outgroups zerfallen. Nicht nur Individuen, auch Gesellschaften kennen Aggressionsgedächtnis und verschobene Aggression und können krasse Ungleichheit nicht ertragen, warnt Bauer.
Die Widerlegung des Mythos vom Aggressionstrieb sei keine illegitime Intervention der Neurobiologie in politische Belange, betont der Autor in seinem kühnen Rundumschlag, in dem weder der Medienkonsum der Jugendlichen noch der Genuss von zu viel Schokolade oder radikale Islamvorstellungen fehlen. In der Tat ist diese Intervention schon deshalb unproblematisch, weil sie die vorhandenen Erkenntnisse bestätigt und unterfüttert.
Was den Kern der Moral angeht, bestätigt Bauer eine viel ältere Position: Wir müssen erkennen, so der Autor, dass es kein eindeutiges Gut oder Böse gibt und dass wir der Versuchung widerstehen sollten, uns selbst oder andere einer eindeutig moralischen oder unmoralischen Position zuzuordnen: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Und beruft euch nie wieder auf den Aggressionstrieb, wenn es euch nicht gelungen ist, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen.
MANUELA LENZEN
Joachim Bauer: "Schmerzgrenze". Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt.
Karl Blessing Verlag, München 2011. 286 S., Abb., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen weiteren Beitrag zur Grablegung des von Freud herstammenden Mythos eines menschlichen Aggressionstriebes sieht Rezensentin Manuela Lenzen in Joachim Bauers Abhandlung über den "Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt". Nicht als böse und unbeherrschbare Triebfeder, sondern als Reaktion auf die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen wird Gewalt verstehbar, erläutert Lenzen nach der Lektüre des Buches. Dort und nirgends sonst, d.h. in der individuellen, aber auch kollektiven Vorgeschichte aggressiven Verhaltens, ist nach Erklärungen für selbiges sowie nach Präventionsansätzen zu suchen, wie die Rezensentin resümiert. Offensichtliches Interesse bringt sie auch Bauers Überlegungen zu den Ursprüngen globaler Gewalt entgegen, die, so Lenzen, von einer gegenwärtigen Neuauflage der neolithischen Revolution mitsamt Ressourcenknappheit und Verteilungskämpfen ausgehen. Auszusetzen hat die Rezensentin nichts an diesem "kühnen Rundumschlag", der nicht zuletzt, wie sie hervorhebt, "vorhandene Erkenntnisse bestätigt und unterfüttert".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Sein Buch definiert und erklärt Aggression durchgängig plausibel. Dabei bleibt der Autor einer humanistischen Tradition verpflichtet." Joachim Kersten, Psychologie heute