Schmitz ist durch ein schicksalhaftes Ereignis aus der Spur gebracht. Ein Flugzeugunglück kostete seine Frau das Leben. Wegen einer Unachtsamkeit eines Lotsen in der Flugüberwachung kam es zum Absturz zweier voll besetzter Maschinen. Schmitz' Frau ist unter den Opfern.
Seitdem ist ein Jahr vergangen. Seitdem ist Schmitz allein. Seitdem begegnet er sich selbst. Und Schmitz stellt sich Fragen. Aus seiner Perspektive erleben wir eine aus den Fugen geratene Welt. Am Jahrestag des Unglücksfalls tritt er eine tragikomische Reise an, er will die Absturzstelle besuchen.
"Schmitz" ist ein überraschend sprachsicheres Debüt, die Geschichte eines schleichenden Selbstverlusts.
Seitdem ist ein Jahr vergangen. Seitdem ist Schmitz allein. Seitdem begegnet er sich selbst. Und Schmitz stellt sich Fragen. Aus seiner Perspektive erleben wir eine aus den Fugen geratene Welt. Am Jahrestag des Unglücksfalls tritt er eine tragikomische Reise an, er will die Absturzstelle besuchen.
"Schmitz" ist ein überraschend sprachsicheres Debüt, die Geschichte eines schleichenden Selbstverlusts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2005Programmdirektor im Kopf
Schutz vor dem Schock: Thomas Weiss erzählt eine Ich-Spaltung
Jean Paul hat es auf den Punkt gebracht: "Doppeltgänger heißen Leute, die sich selbst sehen". Er mußte es wissen, denn durch sein Werk geistern nicht nur Menschen in mehrfacher Gestalt, er hat auch den Begriff in einer an solchen Phantomen reichen Zeit geprägt. Heute sind sie wieder vermehrt unterwegs, die Traumbilder, Schatten und Grenzgänger. Und so hat sich Thomas Weiss in seinem Erzählungsdebüt eine Hauptfigur gesucht, die sich selbst auf dem Sofa sitzen sieht: "Schmitz" heißt der titelgebende Mann mittleren Alters, der nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau aus dem Gleis geraten ist.
Er starrt auf eine mit Glasrändern verschmierte Tischdecke, fühlt sich verlassen und ist doch nicht allein. Denn da ist einer, der ihn ermahnt, seine Hose ordentlich hochzuziehen, nicht an den Jahrestag des Flugzeugabsturzes zu denken und die Flasche doch bitte beiseite zu stellen. Aber die Gedanken des Mannes verfangen sich in den Karos der Wachsdecke, sinken in die Vergangenheit oder in unbeherrschbare Phantasien. So wie er angetrunken auf den Boden sackt zwischen umherliegende Socken und Scherben. Allein eine Erkenntnis wird immer klarer: "Es gibt noch einen Schmitz. Er sitzt gerade im Wohnzimmer. Vielleicht gibt es auch drei oder vier, das weiß ich nicht, das muß ich später durchdenken, zunächst einmal reicht mir, daß es noch einen weiteren Schmitz gibt."
Perspektivisch hält sich die Erzählung an den ersten Schmitz, der über weite Strecken als Ich-Erzähler dominiert. Da das Ich dieses Erzählers aber ein gespaltenes ist, leuchtet es ein, daß auch diese Perspektive aufgebrochen werden muß. Mal gehen wir also mit einem personalen Erzähler auf Distanz. Dann stehen wir wieder mitten im Dialog zwischen den verschiedenen Bewohnern des Gemüts: "Ich dachte, ruft der Sofaschmitz, der plötzlich im Türrahmen steht, du wolltest an deiner Kontrolle arbeiten? Es ist eine Ausnahme, heute, sagt Schmitz, das weißt du genau." Ein klarer Fall von Ich-Spaltung, würde Freud sagen und beide Schmitze auf die Couch legen. Denn das gebrochene Persönlichkeitsbewußtsein ist schließlich auch Gegenstand einer außerliterarischen Seelenkunde. So liefert die Erzählung dann auch ein dichtes Netz psychoanalytischer Motive. Schmitz hat regelmäßig seine tote Frau zu Gast und schützt sich im Wahn vor dem Schock. Aber die Schmitze passen auch in die tiefenpsychologische Topik. Das libidinöse Es hat Sexualphantasien wie aus dem Lehrbuch, bedrängende Kastrationsängste und träumt vom Kannibalismus. Das gestrenge Über-Ich sorgt sich, was die Nachbarn wohl denken, und als vermittelndes Ich wird die Figur eines "Programmdirektors" eingeführt, der die anderen koordiniert.
In einer langen Rückblende, die Schmitz am Flughafen Schritt für Schritt das Ausmaß seines Unglücks begreifen läßt, gewinnt die Erzählung an Kontur. Denn hier mischen sich äußere Handlungsmomente und die Darstellung seelischer Zustände, so daß der Text dann stärker motiviert und weniger auf Kunstfertigkeit gerichtet ist als in Passagen wie der folgenden, die allein der Abbildung innerer Vorgänge und körperlicher Empfindungen dienen: "Hose und Unterhose hängen an seinen Knöcheln. Einerseits ist das unangenehm, andererseits vermittelt es ein freies Gefühl. Es ist nicht nur etwas Besonderes, mit bloßem Hintern in der Küche zu stehen, sondern auch, so auf dem Küchenstuhl zu sitzen." Weiss ist darum bemüht, seiner Erzählung auch komische und absurde Züge zu verleihen. Vielleicht hat ihn E. T. A. Hoffmann, der Vater psychologisch begründeten Doppelgängertums, durch sein mal düsteres, mal burleskes Spiel mit dem gespaltenen Ich beeindruckt. Dies trat im frühen 19. Jahrhundert an die Stelle der bis dahin üblichen allegorischen Sinngebung.
Eine Allegorie findet sich aber auch bei Thomas Weiss. Am Jahrestag des Unglücks tritt sein Protagonist eine Reise in die Schweiz an. Heiß ist der Sommertag, an dem er seinen Wagen mit all seinen Ichs belädt: "Rücksitzschmitz", "Programmdirektor" und viele extra abgespaltene "Bekannte". Sie machen sich gemeinsam auf den Weg zur Absturzstelle, da zwängt sich noch jemand in das Auto hinein. Es ist das Schicksal.
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Weiss: "Schmitz". Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 128 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schutz vor dem Schock: Thomas Weiss erzählt eine Ich-Spaltung
Jean Paul hat es auf den Punkt gebracht: "Doppeltgänger heißen Leute, die sich selbst sehen". Er mußte es wissen, denn durch sein Werk geistern nicht nur Menschen in mehrfacher Gestalt, er hat auch den Begriff in einer an solchen Phantomen reichen Zeit geprägt. Heute sind sie wieder vermehrt unterwegs, die Traumbilder, Schatten und Grenzgänger. Und so hat sich Thomas Weiss in seinem Erzählungsdebüt eine Hauptfigur gesucht, die sich selbst auf dem Sofa sitzen sieht: "Schmitz" heißt der titelgebende Mann mittleren Alters, der nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau aus dem Gleis geraten ist.
Er starrt auf eine mit Glasrändern verschmierte Tischdecke, fühlt sich verlassen und ist doch nicht allein. Denn da ist einer, der ihn ermahnt, seine Hose ordentlich hochzuziehen, nicht an den Jahrestag des Flugzeugabsturzes zu denken und die Flasche doch bitte beiseite zu stellen. Aber die Gedanken des Mannes verfangen sich in den Karos der Wachsdecke, sinken in die Vergangenheit oder in unbeherrschbare Phantasien. So wie er angetrunken auf den Boden sackt zwischen umherliegende Socken und Scherben. Allein eine Erkenntnis wird immer klarer: "Es gibt noch einen Schmitz. Er sitzt gerade im Wohnzimmer. Vielleicht gibt es auch drei oder vier, das weiß ich nicht, das muß ich später durchdenken, zunächst einmal reicht mir, daß es noch einen weiteren Schmitz gibt."
Perspektivisch hält sich die Erzählung an den ersten Schmitz, der über weite Strecken als Ich-Erzähler dominiert. Da das Ich dieses Erzählers aber ein gespaltenes ist, leuchtet es ein, daß auch diese Perspektive aufgebrochen werden muß. Mal gehen wir also mit einem personalen Erzähler auf Distanz. Dann stehen wir wieder mitten im Dialog zwischen den verschiedenen Bewohnern des Gemüts: "Ich dachte, ruft der Sofaschmitz, der plötzlich im Türrahmen steht, du wolltest an deiner Kontrolle arbeiten? Es ist eine Ausnahme, heute, sagt Schmitz, das weißt du genau." Ein klarer Fall von Ich-Spaltung, würde Freud sagen und beide Schmitze auf die Couch legen. Denn das gebrochene Persönlichkeitsbewußtsein ist schließlich auch Gegenstand einer außerliterarischen Seelenkunde. So liefert die Erzählung dann auch ein dichtes Netz psychoanalytischer Motive. Schmitz hat regelmäßig seine tote Frau zu Gast und schützt sich im Wahn vor dem Schock. Aber die Schmitze passen auch in die tiefenpsychologische Topik. Das libidinöse Es hat Sexualphantasien wie aus dem Lehrbuch, bedrängende Kastrationsängste und träumt vom Kannibalismus. Das gestrenge Über-Ich sorgt sich, was die Nachbarn wohl denken, und als vermittelndes Ich wird die Figur eines "Programmdirektors" eingeführt, der die anderen koordiniert.
In einer langen Rückblende, die Schmitz am Flughafen Schritt für Schritt das Ausmaß seines Unglücks begreifen läßt, gewinnt die Erzählung an Kontur. Denn hier mischen sich äußere Handlungsmomente und die Darstellung seelischer Zustände, so daß der Text dann stärker motiviert und weniger auf Kunstfertigkeit gerichtet ist als in Passagen wie der folgenden, die allein der Abbildung innerer Vorgänge und körperlicher Empfindungen dienen: "Hose und Unterhose hängen an seinen Knöcheln. Einerseits ist das unangenehm, andererseits vermittelt es ein freies Gefühl. Es ist nicht nur etwas Besonderes, mit bloßem Hintern in der Küche zu stehen, sondern auch, so auf dem Küchenstuhl zu sitzen." Weiss ist darum bemüht, seiner Erzählung auch komische und absurde Züge zu verleihen. Vielleicht hat ihn E. T. A. Hoffmann, der Vater psychologisch begründeten Doppelgängertums, durch sein mal düsteres, mal burleskes Spiel mit dem gespaltenen Ich beeindruckt. Dies trat im frühen 19. Jahrhundert an die Stelle der bis dahin üblichen allegorischen Sinngebung.
Eine Allegorie findet sich aber auch bei Thomas Weiss. Am Jahrestag des Unglücks tritt sein Protagonist eine Reise in die Schweiz an. Heiß ist der Sommertag, an dem er seinen Wagen mit all seinen Ichs belädt: "Rücksitzschmitz", "Programmdirektor" und viele extra abgespaltene "Bekannte". Sie machen sich gemeinsam auf den Weg zur Absturzstelle, da zwängt sich noch jemand in das Auto hinein. Es ist das Schicksal.
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Weiss: "Schmitz". Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 128 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Durchaus angetan ist Rezensentin Dorothea Dieckmann von diesem literarischen Debüt, in dem Thomas Weiss die Geschichte des plötzlich verwitweten Schmitz erzählt, dessen Frau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Der Text schildert den Jahrestag des Unfalls und lässt das vergangene Jahr - von der schrecklichen und unerwarteten Todesnachricht bis über das von "Kopfgeburten" und Phantasiegestalten bevölkerte Alltagsleben des Protagonisten - in der Erinnerung Schmitz' Revue passieren, erklärt die Rezensentin. Sie entdeckt dabei, dass sich die Erzählung von der sehr wirklichkeitsgetreuen Beschreibung des ersten Schockzustands in eine Welt des höchst "surrealen Chaos" verwandelt. Dieses Buch ist "keine Sensation" und nicht immer überzeugen die Schilderungen von Schmitz' Innenleben, räumt Dieckmann ein. Dennoch imponiert ihr die "mutige Idee" der Erzählung. Sie hat sich von der "präzisen Introspektion" mit der dieses Trauerjahr beschrieben wird, gefangen nehmen lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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