Jens ist 14 geworden und darf zum letzten Mal ins sächsische Ferienlager Schneckenmühle fahren, dort kann man Skat spielen, Fußball und Tischtennis, muss allerdings auch auf Wanderungen gehen, in den Zoo oder nach Dresden fahren, und vor allem sind da die endlosen Nächte mit Quatsch und Gesprächen über Mädchen. Nur Tanzen in der abendlichen Disko, das kommt nicht infrage, zum Tanzen ist Jens zu schüchtern. Nach einem Ausflug wird Jens krank und kommt auf die Krankenstation. Da taucht Peggy bei ihm auf, die von der Gruppe gehänselt wird, und bittet ihn, ihr Essen zu bringen, sie würde sich von nun an verstecken. Aber dann wird sie im Lager vermisst und die Polizei wird eingeschaltet. Die Sache spitzt sich zu, auch zwischen Jens und Peggy. Es ist der Sommer 1989 in der DDR - und nicht nur den Jugendlichen stehen große Veränderungen bevor. Jochen Schmidts neuer Roman, mit großer Wärme, Detailfreude und Komik erzählt, berichtet von Zeiten des Umbruchs, hinreißend und anrührend - beste Unterhaltung!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013Jens braucht die DDR nicht mehr
Vom Duft des Sommers und Depeche Mode: Jochen Schmidts neuer Roman "Schneckenmühle" taucht ein in das Ferienlager der Kindheit.
Von Swantje Karich
Jochen Schmidts Roman "Schneckenmühle" spielt in den Wochen vor dem Mauerfall, im Sommer 1989. Aber eigentlich interessiert das nicht. Das historisierende Konstrukt ist zu vernachlässigen. Es ist sogar nervig, weil wir schon so viel gelesen haben zu der Frage: Wo warst du, als die Mauer fiel? Der Schriftsteller, 1970 in Ost-Berlin geboren und Autor auch dieser Zeitung, hat in einem Interview gesagt, dass die Perspektive des Schriftstellers auf die DDR ideal sei: "Sie können über einen Mikrokosmos schreiben, den Sie aus eigener Erfahrung kennen." Eigene Erfahrung steckt oft in seinen Werken, auch in diesem Buch in jeder Zeile. Denn Jochen Schmidt kriecht gern in seine Hauptfigur; wird in und dank ihr zum Text.
Jens ist vierzehn Jahre alt und fährt ein letztes Mal ins DDR-Ferienlager "Schneckenmühle". Einen Roman ausschließlich aus der persönlichen Sicht eines Jugendlichen zu schreiben ist ein Wagnis; auch bei Jochen Schmidt wirkt die Sprache ab und an etwas gekünstelt und sorgt dann für Unruhe zwischen den Zeilen. Aber nur zwischen den Zeilen. Denn Jochen Schmidt spielt auf einer so reichen Sprachklaviatur, dass wir ihm Glauben schenken können. Sein Jens selbst ist altklug: "Was mich antreibt? Ich weiß es gar nicht. Dass immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt." Dann entwaffnend naiv: "Muskeln, man braucht Muskeln. Muskeln lösen alle Probleme." Die anderen Jungs berlinern drastisch: "Ej, Du Spast, spuck mir nich an!" Passt das zusammen? Ja, es passt. Denn Jens schwankt zwischen Kindheit und Jugend, hin und her. Er zockt lieber Skat mit den Jungs als zu tanzen. Dann aber klopft die Mädchen-Sehnsucht von innen an, als schmerzhaft gespannter Trieb.
Nach außen aber mimt er Gelassenheit und staunt über die Anderen: Über Marco, dem der "Sack platzt", und "Dolly konnte den Ball zwanzig Meter hoch köpfen, der spielt im Verein". Dann kämpft er mit seiner Nüchternheit, wenn er über seinen Freund Roberto sagt: "Er ist immer so überzeugt von den Dingen, die er sich ausdenkt, und ich kann nur mitmachen, wenn ich mich verstelle." Zwangsläufig fragt er sich, ob er wirklich dazugehört: "Diese Mauer der Garstigkeit der Mädchen und das ewige Gekappel der Jungs." Er schwankt stärker, aber fällt nicht.
Ein Grund ist tatsächlich: Jens glaubt an Gott, er ist sogar getauft - in der DDR. Er spürt das als Stärke, als Unabhängigkeit von dem Mädchen-Jungs-Gewurstel. Als sie durch Zufall in einer Kirche landen, ist es ihm egal, dass einer sagt, dass ihm davon das Gehirn schrumpfe. "Es fühlt sich so an, als würde ich die anderen in unsere Wohnung lassen. Der Rückspiegel an der Orgel kann mich nicht mehr überraschen. Soll ich zugeben, dass ich christlich bin? Wäre das unvorsichtig? Die anderen bewegen sich voller Scheu, im Grunde ist ihnen der Ort heiliger als mir, sie kennen sich eben nicht aus. Sie scheinen Angst zu haben, die Götter mit einer Unachtsamkeit zu reizen." Er aber hält diesen Göttern stand.
Wie so anderen Göttern auch. Nach und nach scheint durch, dass er eine Cousine drüben hat, Sehnsüchte nach einer anderen Lebensweise zu seinem Alltag gehören: "Ich habe ein bisschen Heimweh und darunter liegt eine Schicht Angst, dass meine Eltern sterben könnten." "Ich gucke manchmal, wenn ich nach Hause komme, und niemand da ist, über den Balkonrand, ob meine Mutter unten liegt. Sie hat immer Migräne, und manchmal sagt sie, dass sie es kaum noch ausgehalten habe und am liebsten gesprungen wäre."
Im Ferienlager aber beschäftigt ihn das nicht weiter. Nähere Verluste wirken nachhaltiger: Als Jens mit seinen Freunden Skat spielt, verschwinden die nach und nach auf der Tanzfläche. Er bleibt mit Marco zurück: Das nächste Lied "beginnt mit Hammerschlägen, Metall scheppert wie in einer Werkhalle, Eisenträger werden über den Boden geschleift, aber sehr rhythmisch und schön abgehackt, maschinenhaft". "Na endlich spielen sie Depeche Mode", sagt Marco und verschwindet auch. Jens bleibt allein. "Ich kann mir nur eine Patience legen. Das Wort heißt auf Französisch ,Geduld', das müsste ich aber noch gar nicht wissen in meinem Alter." Altklug? Nerd würde man ihn heute nennen. Hätte man damals seine Gedanken angezapft, wäre nur festgestellt worden: Er hat Westkontakte.
Eingebettet ist dieses Erleben von Jens in Déjà-vu-erzeugende Beschreibungen des Ferienlageralltags: nächtliches Schleichen der Jungs zu den Mädchen-Bungalows, Tischtennis-Rundläufe, aber auch Langeweile, Rumlungern: "Wir probieren, wer die meisten Bierdeckel an der Tischkante hochschlagen und in der Luft auffangen kann." Wir folgen den Gedankenströmen wie einem literarischen Dauergewitter, nehmen Abkürzungen, suchen Umwege, genießen seine Exkurse - bis zu seiner ganz persönlichen und entscheidenden Wende. Die Tischtennis-Skat-Monotonie wird nicht, wie zu erwarten wäre, beendet durch den Mauerfall, Chaos, Unruhe, sondern durch: Peggy. Sie sagt über die russische Sprache: "Ich finde die Buchstaben so schön, besonders das, das sieht wie ein Käfer aus." Was passiert, wenn man sich verliebt, wird hier nicht verraten. Das anschließende Mini-Roadmovie führt nicht in den Westen, aber trotzdem in ein selbstbestimmtes Leben.
Jochen Schmidt: "Schneckenmühle". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 220 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Duft des Sommers und Depeche Mode: Jochen Schmidts neuer Roman "Schneckenmühle" taucht ein in das Ferienlager der Kindheit.
Von Swantje Karich
Jochen Schmidts Roman "Schneckenmühle" spielt in den Wochen vor dem Mauerfall, im Sommer 1989. Aber eigentlich interessiert das nicht. Das historisierende Konstrukt ist zu vernachlässigen. Es ist sogar nervig, weil wir schon so viel gelesen haben zu der Frage: Wo warst du, als die Mauer fiel? Der Schriftsteller, 1970 in Ost-Berlin geboren und Autor auch dieser Zeitung, hat in einem Interview gesagt, dass die Perspektive des Schriftstellers auf die DDR ideal sei: "Sie können über einen Mikrokosmos schreiben, den Sie aus eigener Erfahrung kennen." Eigene Erfahrung steckt oft in seinen Werken, auch in diesem Buch in jeder Zeile. Denn Jochen Schmidt kriecht gern in seine Hauptfigur; wird in und dank ihr zum Text.
Jens ist vierzehn Jahre alt und fährt ein letztes Mal ins DDR-Ferienlager "Schneckenmühle". Einen Roman ausschließlich aus der persönlichen Sicht eines Jugendlichen zu schreiben ist ein Wagnis; auch bei Jochen Schmidt wirkt die Sprache ab und an etwas gekünstelt und sorgt dann für Unruhe zwischen den Zeilen. Aber nur zwischen den Zeilen. Denn Jochen Schmidt spielt auf einer so reichen Sprachklaviatur, dass wir ihm Glauben schenken können. Sein Jens selbst ist altklug: "Was mich antreibt? Ich weiß es gar nicht. Dass immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt." Dann entwaffnend naiv: "Muskeln, man braucht Muskeln. Muskeln lösen alle Probleme." Die anderen Jungs berlinern drastisch: "Ej, Du Spast, spuck mir nich an!" Passt das zusammen? Ja, es passt. Denn Jens schwankt zwischen Kindheit und Jugend, hin und her. Er zockt lieber Skat mit den Jungs als zu tanzen. Dann aber klopft die Mädchen-Sehnsucht von innen an, als schmerzhaft gespannter Trieb.
Nach außen aber mimt er Gelassenheit und staunt über die Anderen: Über Marco, dem der "Sack platzt", und "Dolly konnte den Ball zwanzig Meter hoch köpfen, der spielt im Verein". Dann kämpft er mit seiner Nüchternheit, wenn er über seinen Freund Roberto sagt: "Er ist immer so überzeugt von den Dingen, die er sich ausdenkt, und ich kann nur mitmachen, wenn ich mich verstelle." Zwangsläufig fragt er sich, ob er wirklich dazugehört: "Diese Mauer der Garstigkeit der Mädchen und das ewige Gekappel der Jungs." Er schwankt stärker, aber fällt nicht.
Ein Grund ist tatsächlich: Jens glaubt an Gott, er ist sogar getauft - in der DDR. Er spürt das als Stärke, als Unabhängigkeit von dem Mädchen-Jungs-Gewurstel. Als sie durch Zufall in einer Kirche landen, ist es ihm egal, dass einer sagt, dass ihm davon das Gehirn schrumpfe. "Es fühlt sich so an, als würde ich die anderen in unsere Wohnung lassen. Der Rückspiegel an der Orgel kann mich nicht mehr überraschen. Soll ich zugeben, dass ich christlich bin? Wäre das unvorsichtig? Die anderen bewegen sich voller Scheu, im Grunde ist ihnen der Ort heiliger als mir, sie kennen sich eben nicht aus. Sie scheinen Angst zu haben, die Götter mit einer Unachtsamkeit zu reizen." Er aber hält diesen Göttern stand.
Wie so anderen Göttern auch. Nach und nach scheint durch, dass er eine Cousine drüben hat, Sehnsüchte nach einer anderen Lebensweise zu seinem Alltag gehören: "Ich habe ein bisschen Heimweh und darunter liegt eine Schicht Angst, dass meine Eltern sterben könnten." "Ich gucke manchmal, wenn ich nach Hause komme, und niemand da ist, über den Balkonrand, ob meine Mutter unten liegt. Sie hat immer Migräne, und manchmal sagt sie, dass sie es kaum noch ausgehalten habe und am liebsten gesprungen wäre."
Im Ferienlager aber beschäftigt ihn das nicht weiter. Nähere Verluste wirken nachhaltiger: Als Jens mit seinen Freunden Skat spielt, verschwinden die nach und nach auf der Tanzfläche. Er bleibt mit Marco zurück: Das nächste Lied "beginnt mit Hammerschlägen, Metall scheppert wie in einer Werkhalle, Eisenträger werden über den Boden geschleift, aber sehr rhythmisch und schön abgehackt, maschinenhaft". "Na endlich spielen sie Depeche Mode", sagt Marco und verschwindet auch. Jens bleibt allein. "Ich kann mir nur eine Patience legen. Das Wort heißt auf Französisch ,Geduld', das müsste ich aber noch gar nicht wissen in meinem Alter." Altklug? Nerd würde man ihn heute nennen. Hätte man damals seine Gedanken angezapft, wäre nur festgestellt worden: Er hat Westkontakte.
Eingebettet ist dieses Erleben von Jens in Déjà-vu-erzeugende Beschreibungen des Ferienlageralltags: nächtliches Schleichen der Jungs zu den Mädchen-Bungalows, Tischtennis-Rundläufe, aber auch Langeweile, Rumlungern: "Wir probieren, wer die meisten Bierdeckel an der Tischkante hochschlagen und in der Luft auffangen kann." Wir folgen den Gedankenströmen wie einem literarischen Dauergewitter, nehmen Abkürzungen, suchen Umwege, genießen seine Exkurse - bis zu seiner ganz persönlichen und entscheidenden Wende. Die Tischtennis-Skat-Monotonie wird nicht, wie zu erwarten wäre, beendet durch den Mauerfall, Chaos, Unruhe, sondern durch: Peggy. Sie sagt über die russische Sprache: "Ich finde die Buchstaben so schön, besonders das, das sieht wie ein Käfer aus." Was passiert, wenn man sich verliebt, wird hier nicht verraten. Das anschließende Mini-Roadmovie führt nicht in den Westen, aber trotzdem in ein selbstbestimmtes Leben.
Jochen Schmidt: "Schneckenmühle". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 220 S., geb., 17,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Klug, sämtliche Töne von traurig bis komisch treffend und geschickt die wohlfeile Verbindung zwischen den Leiden der Adoleszenz und der Zerfallgeschichte der DDR vermeidend, scheint dieser Roman von Jochen Schmidt beim Rezensenten alle Hoffnungen auf unterhaltsame Lektüre zu erfüllen. Dass er es bei Schmidts 1989 spielender Geschichte aus dem Ferienlager "Schneckenmühle" mit einer besonderen Coming-of-Age-Story zu tun hat, wird Rainer Moritz schnell bewusst. Zwar leidet der Held Jens wie alle 14-Jährigen unter seiner Unvollkommenheit, dem falschen Tanzschritt und Waffeleis aus Pappe (gilt nur für DDR-Sozialisierte!), doch machen Schmidts Dialogsicherheit, sein Wortwitz und sein Verzicht auf allzu viel Zeitgeschichte das Buch für Moritz zum Renner.
© Perlentaucher Medien GmbH
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