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Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Heri beginnt der Erzähler sein »Journal«, und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder. Indem sich der…mehr

Produktbeschreibung
Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Heri beginnt der Erzähler sein »Journal«, und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder. Indem sich der Autor seiner Wahrnehmungen vergewissert, geht er ihren Spuren nach, reflektiert sie, variiert ihre Motive, schreibt sie - und damit sein wie das Leben anderer - fort.
Jörn Winter ist wieder dabei. Der Leser kennt ihn auf den letzten Büchern von Jürgen Becker, Der fehlende Rest und Aus der Geschichte der Trennungen. Ob Alter ergo oder erfundene Romanperson, hier beschäftigt ihn der Autor als Korrespondenten. Jörn berichtet von Reisen, Orten, Begegnungen - und schreibt seinerseits an seiner Chronik der Erfahrungen. Und er erzählt die Geschichte von Achim, einem Maler, der rätselhaft in Ahrenshoop verschwunden und auf einer griechischen Insel, wo man ihn als Micha kennt, wiederaufgetaucht ist.
In Schnee in den Ardennen vermischt Jürgen Becker die Formen von Tagebuch, Reiseerzählung und Roman. Täuschende Wahrnehmungen, ironische Berichte, lakonische Mitteilungen, poetische Notate - im Wechsel der Schreibweisen hält Jürgen Becker seinen Lesern einen Spiegel vor, in dem jeder sich selbst, seine Erfahrungen und Geschichten erkennen wird.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Rabe und Elster im Streit um Lufthoheit
Magie des Kamerablicks: Jürgen Becker gibt den poetischen Naturburschen / Von Walter Hinck

Das Gedächtnis ist ein stummes Archiv, in das nur die Erinnerung Leben hineinbringt, oder anders, aus dem sie ihre Bilder hervorholt." So heißt es im neuen Buch von Jürgen Becker. Der Satz hätte auch in einem seiner früheren Texte stehen können. Schon im Debüt "Felder" von 1964 tauchen im experimentellen Spiel mit der Grammatik die Umrisse erinnerter Orte auf, und im Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) ruft die Erinnerung des Erzählers Bilder von Lebensepisoden ab, die zu Facetten einer Geschichte des "Dritten Reichs" werden. In der Folge seiner Lyrik- und Prosabände verfestigen sich zunehmend Spurenelemente des Epischen und Situationen einer eindringlichen Wiederbegegnung mit deutscher Geschichte. Am Titel des langen "Gedichts von der wiedervereinigten Landschaft" (1988) und an den Gattungsbezeichnungen Erzählung ("Der fehlende Rest", 1997) und Roman läßt sich diese Entwicklung ablesen.

Aber wie bisher kein neues Buch Beckers den Zusammenhang mit dem vorhergehenden preisgab, so kopierte keines das bereits benutzte literarische Muster. Der neue Band, "Schnee in den Ardennen", ist als Journalroman deklariert. In den Teilen I und III verflüchtigt sich das Romanhafte zugunsten des Journal-, also Tagebuchhaften. Tagebücher binden sich an die jeweilige Situation, aus der geschrieben wird, sprechen aus der Unmittelbarkeit des Erlebens, der Erfahrung oder der geistigen Auseinandersetzung, überlassen viel Spielraum der Subjektivität. Aber was sich dem Augenblick verdankt, muß nicht interessant bleiben, und so schlüpfen, ähnlich wie in Walter Kempowskis Tagebüchern, in den Aufzeichnungen mitunter kleine Eintagsfliegen aus.

Viele Alltagsbeobachtungen Beckers weiten sich jedoch zum Entwurf höchst anschaulicher Szenen. Ihr Gegenstand wird durch das Lebensumfeld des Autors bestimmt, und das ist, seit seinem Abschied aus der Leitung der Hörspielredaktion beim Deutschlandfunk, eindeutig ein Dorf im Bergischen Land. Ist Becker ein neuer Candide, der sich nach den Abenteuern des Lebens zurückzieht, um seinen "Garten zu bebauen"? Hält er es mit Arno Schmidt, der seine Wortwerkstatt nach Bargfeld in der Lüneburger Heide verlegte? Daß der Ort, in dem Becker ein altes Gehöft bewohnt, Heide heißt, könnte dann Anlaß für eine ironische Glosse sein. Aber weder mit der philosophischen Parabelfigur Voltaires noch mit dem Artisten der Anspielung und des Zitats, dem Autor von "Zettels Traum", teilt Becker einen Rückzug ins Abseits - die Verbindung zur Kulturmetropole Köln bleibt lebendig.

Immerhin, der Journal-Schreiber hat seinen Standort vornehmlich im ländlichen Raum. Und oft scheint es, als beobachte er seine Umgebung, wie der Kameramann des Tierfilms, aus einem Versteck. Der Vergleich ist nicht herbeigeholt. Schon früh hat Becker den Kontakt mit den audiovisuellen Medien gesucht, als Hörspielschreiber und als Autor eines Fernsehfilms (1970), der das Verhältnis von Wort und Bild am Beispiel des "Schreibens und Filmens" zeigt. Der Fotoband "Zeit ohne Wörter" (1971) kommt sogar ganz ohne Sprache aus. Mehrfach deuten seine Texte an, daß Bewußtseinsvorgänge ablaufen wie Filme.

Der Kamerablick, mit dem der Journal-Schreiber nun seine Umgebung absucht, ist mit einer magischen Kraft begabt: Er bannt sein Gegenüber, die Landschaft, die Tiere, die Dinge so, daß sie zu erzählen beginnen. Wundersame Erzählungen entstehen, vom Lichtwandel der Tage und Jahre, vom morschen Birnbaum und der Technik des Fällens, vom Sterben der Katze, vom Kampf der Raben, Elstern und Eichelhäher um die Lufthoheit, von den Strategien der Singvögel, ans Futter des Vogelhäuschens zu gelangen, vom früheren Bauernleben, über das die Sense, ausgebaggerte Scherben und alte Schriftstücke Auskunft geben.

Aber ins Dorf hat längst die neueste Zivilisation ihren Einzug gehalten. Über die "Radiostimmen im Kopf", über die "Tonspur früherer Geräusche" legt sich der Lärm der Einflugschneise des Flughafens Köln-Bonn und des Staus auf der Straße; ein Kreisverkehr wird in der Dorfmitte gebaut. Längst ist die Stadt ins Land hinein unterwegs. Auf die Hausiererin, die alle paar Monate in die Gehöfte schlurft, wartet hinter der Kurve ein Mercedes.

Das poetische Journal protokolliert die unaufhaltsame Besiedlung des Bergischen Landes, hält aber auch den Reichtum verbleibenden Lebens auf den Naturinseln fest. Insofern deutet der Titel "Schnee in den Ardennen", der an ein Kriegsfoto von Robert Capa anknüpft, auf die besondere Nähe zur Landschaft, die den Roman kennzeichnet. Widerruft Becker die Absage im Titel seines Gedichtbandes "Das Ende der Landschaftsmalerei" (1974), und zwar noch einmal? Schon das "Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft" deutete ja eine Umkehr an, war Ausdruck des Wunsches, daß die Trennung der Landschaften durch Mauer und Stacheldraht aufgehoben werde. Tatsächlich greift Becker, im Mittelteil des neuen Buchs, die Frage wieder auf.

Dieser Mittelteil ist ein Block, der sich in der Schrittfolge des Tagebuchs wie ein Hindernis aufbaut. Hier setzt sich eine erzählerisch bündige Schreibweise durch. Der Binnenroman des Journalromans erzählt vom Aufenthalt auf einer griechischen Insel, auf der sich längst auch westeuropäische Wohlstandsbürger eingenistet haben. Jörn, das zweite Ich des Erzählers (eine aus früheren Büchern vertraute Zwillingsfigur), trifft unerwartet einen Bekannten von früher - einen Maler, der während der sechziger Jahre in Düsseldorf auf Aktionen, auf Event-Kunst setzte. Dieser Maler ist Jörn schon in der Künstlerkolonie des Ostseebades Ahrenshoop wiederbegegnet. Der Star des Kunstmarkts von einst war in ein künstlerisches Dilemma geraten; ihn hatte "Heimweh nach der Landschaftsmalerei" ergriffen, aber zugleich war ihm bewußt, daß die Gegend "längst ihre Unschuld verloren" hatte. In dieser Ratlosigkeit findet Jörn den Maler noch immer.

Bedenkt man die experimentellen Anfänge Beckers und seine Zweifel an der Tauglichkeit überlieferter Formen von Naturlyrik und Landschaftsdichtung, so wird die Gestalt des Malers zur Gleichnisfigur für Beckers schriftstellerische Entwicklung. Zugleich aber widerlegt "Schnee in den Ardennen" diesen Gleichnischarakter. Denn Becker wagt es, den Weg aus der Sackgasse einzuschlagen. Schon in "Aus der Geschichte der Trennungen" fiel die Ausdauer auf, mit der Becker eine Landschaft und die Bewegung in ihr erfaßte. Im neuen Roman gewinnt die Landschaftsdarstellung eine neue Qualität. Was anfangs "Kamerablick" genannt wurde, kann jetzt als filmische Optik bezeichnet werden. Das Auge des Erzählers gleicht dem Objektiv der Kamera, und als objektiv empfindet der Leser die neue Darstellungsweise. Das Auge des Erzählers, die Kamera schwenkt von der Naheinstellung in die Totale. Sie mogelt keine Geheimnisse in die Gegenstände hinein, die poetische Prosa bleibt auf Distanz, vertraut aufs Schauen; die Erzählung entsteht aus der Bewegung des Kameraauges. Im Roman "Das Jahr der Trennungen" spiegelte sich Geschichtserfahrung intensiver. Aber noch nie hat Becker eine filmische Optik mit solcher poetischen Konsequenz übernommen wie im neuen Roman.

Jürgen Becker: "Schnee in den Ardennen". Journalroman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 186 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Noch nie hat Jürgen Becker in seiner Erzählweise eine filmische Optik mit solcher poetischen Konsequenz übernommen, wie im neuen Roman, meint Rezensent Walter Hinck. Ihm zufolge ist das Buch ein poetisches Journal, dass die unaufhaltsame Besiedelung des Bergischen Landes protokolliert. In diesem Journalroman fand der Rezensent außerdem einen Binnenroman enthalten, der vom Einnisten westeuropäischer Wohlstandsbürger auf einer griechischen Insel erzählt. Das Auge des Erzählers findet Hinck einem Kameraobjektiv gleich, und objektiv auch die Darstellungsweise. Von der Naheinstellung schwenke sie in die Totale, mogele keine Geheimnisse in die Gegenstände hinein, die poetische Prosa bleibe auf Distanz, vertraue aufs Schauen: So entstehe die Erzählung aus der Bewegung. Aus der magischen Kraft dieser Erzählweise sieht der Rezensent wunderbare Erzählungen wachsen. Tiere und Dinge würden von Beckers Kamerablick so gebannt, dass sie zu leben begännen. Alltagsbeobachtungen sieht der Rezensent sich zum Entwurf höchst anschaulicher Szenen weiten.

© Perlentaucher Medien GmbH