Auf den ersten Blick ist es die einfache Geschichte einer Frau aus den französischen Alpen, die sich während des Studiums in einen Deutschen verliebt. Sie heiratet, zieht in ein deutsches Dorf, die Kinder werden groß, die Eltern sterben. Doch es ist kein einfaches Leben in der neuen Heimat, Louises Mann ist dort ganz anders, als sie ihn kennengelernt hat. Zugleich erfährt Louise immer mehr Details aus der Vergangenheit des autoritären Schwiegervaters, der im Krieg in Frankreich war. "Schnell, dein Leben" ist eine Befreiungsgeschichte, ein neuer Blick auf die Nachkriegszeit, ein Lebensbuch - von Sylvie Schenk mit großer Klarheit und Wucht erzählt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Frauke Meyer-Gosau erscheint Sylvie Schenks Roman am Ende allzu hilf- und gedankenlos im Umgang mit der darin aufscheinenden Resistance-Geschichte. Das hohe Tempo des Textes, der zunächst eine Dorfkindheit in den Fünfzigern in den französischen Alpen erzählt, die impressionistische Erzählweise mit schnellen Szenenwechseln, erscheint Meyer-Gosau zunächst durchaus interessant. Dass die im Fortgang der Erzählung bei der Rezensentin sich häufenden Fragen zum Nachkriegsdasein zwischen Deutschland und Frankreich im Buch jedoch keine weitere Beachtung finden, hält sie für problematisch. Immerhin schaut hier eine erwachsene, reflektierte Figur auf ihr Leben zurück, meint sie. Eine Gedankenlosigkeit, die sich laut Meyer-Gosau mitunter leider auch im Stil widerspiegelt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2016In Deutschland bist du als Französin eine Extrawurst
Sylvie Schenks Sammlung biographischer Splitter fügt sich zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung
Manch einer wird müde abwinken, wenn er im Klappentext dieses Buches liest, es sei die Geschichte einer "Frau aus den französischen Alpen, die sich während des Studiums in einen Deutschen verliebt", ihm in seine Heimat folgt und "immer mehr Details aus der Vergangenheit des autoritären Schwiegervaters" erfährt, "der im Krieg in Frankreich war". Solche Geschichten deutsch-französischer Grabenkämpfe und verschwiegener Familiengeheimnisse meint man zur Genüge zu kennen. Was indes Sylvie Schenk, Jahrgang 1944, in "Schnell, dein Leben" an biographischen Splittern preisgibt und zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung fügt, hat man so bestimmt noch nicht gelesen. Beim jüngsten Bachmann-Wettbewerb wurde der Ausschnitt daraus nicht adäquat gewürdigt.
Auch mit ihren Romanen "Parksünder", "Der Gesang der Haut" oder "Der Aufbruch des Erik Jansen" hat Sylvie Schenk bei weitem nicht jene Aufmerksamkeit erhalten, die sie als ironiebegabte Spezialistin für das Raffiniert-Banale verdient hätte. Nun wendet sich die Autorin zum ersten Mal energisch dem Stoff zu, der ihr am nächsten liegt, und verfremdet ihn zu einem Roman, der sein Kursorisches schon im Titel trägt.
"Schnell, dein Leben" klingt wie eine Aufforderung zum gerafften Erzählen, es hat aber auch etwas Überfallartiges. Sylvie Schenks Alter Ego Louise stammt aus den französischen Alpen, der Vater ist Zahnarzt und Bergfex und hält die Mutter kurz, die strickt und duldet. Anders als der einstige Bauernbub Josef Winkler, der Vater und Mutter bestahl, um sich Bücher zu kaufen, steckt dieses Mädchen einen gefundenen Geldschein der Mutter heimlich in die Börse.
"Mädchen" heißt das erste der kurzen, bisweilen kürzesten Kapitel, in dem die Erzählerin bekennt, als Kind der fünfziger Jahre wäre sie "lieber ein Junge" gewesen: "Der Wunsch bewirkt, dass du nie zum knallharten Feminismus konvertieren wirst." Die Erzählerin - das ist also keine, die Ich sagt. Sylvie Schenk, die diskrete Künstlerin der Form, erzählt den gesamten Roman in der zweiten Person, was ihm den Charakter eines intimen und schmerzhaft aufrichtigen Selbstgesprächs verleiht. Der zweite Kunstgriff besteht in der Wahl des Präsens. Die Momentaufnahmen definieren einen Raum der Gegenwart, von dem aus das erinnernde Subjekt nach vorne und zurückschaut.
Louise wird in der Schule katholisch imprägniert, sie liebt eine lesbische Lehrerin, ohne zu wissen, was das heißt. Sie verinnerlicht das einträchtige Schweigen: "Vor Kindern spricht man grundsätzlich nicht von Sex und von Krieg." Beim Studium der Altphilologie in Lyon lernt sie den Pianisten Henri kennen, hochbegabt und attraktiv umdüstert, mit ihm macht sie die ersten sexuellen Erfahrungen. Henri ist Waise, seine Eltern waren Partisanen, die Deutschen haben sie umgebracht. Dass die Studentin dieser Bürde nicht gewachsen ist, sich der Auseinandersetzung verweigert, bedeutet das Ende der Beziehung.
Louises anderer Verehrer ist Henris Gegenstück und Widerpart: der Deutsche Johann, der Pharmazie studiert und perfekt Französisch spricht. Bald sind sie ein Paar und beschließen zu heiraten, was Louises Eltern nicht goutieren: Sie wollen keinen Deutschen in der Familie. Es gebe, schreibt der Vater der Tochter, mehr als fünfzig Millionen Franzosen, da sei gewiss ein junger Mann darunter, der sie glücklich machen könne. Die Liebenden setzen sich jedoch durch. Die Erzählstimme meint ein Muster zu erkennen - die Sehnsucht nach dem Außenseiterdasein: "Ein Fuß drinnen, ein Fuß draußen, dazugehören, aber doch anders sein. In Deutschland bist du eine Extrawurst. Dieses Wort wirst du bald lernen."
Bei der Hochzeit ist Henri als der unsichtbare Dritte präsent, Mendelssohns Hochzeitsmarsch erklingt für das Brautpaar, wie vereinbart, nicht in der Kirche, sondern auf einem Kreuzfahrtschiff, Tausende Meilen weit weg. Der Freund, eine Gestalt von Celanscher Weltverneinung, wird dieser Ehe als steinerner Gast erhalten bleiben.
Louise weiß schon am Tag ihrer Hochzeit, dass sie Romane schreiben will, möglichst auf Deutsch, noch kann sie die Sprache nicht, sie weiß, sie braucht Zeit. "Allein die Zeit gibt einem die wesentliche Dichte. Und das Schreiben." Es sind die Jahre vor 1968, die im Lichtkegel der Erzählung aufscheinen, die zähe, die bleierne Zeit. Abends gibt es Aufschnitt, und en famille küsst man einander nicht. Sylvie Schenk versteht sich darauf, Atmosphären, Mentalitäten, Manieren zu durchleuchten; sie macht die Freude der jungen Französin spürbar, in dieser musterhaften Familie Aufnahme zu finden und von Johanns Vater, dem gebildeten, frankophilen Apotheker, ebenso geschätzt zu werden wie von seiner schönen, klugen Mutter. Nur die kleine Schwester agiert als Vorhut der Rebellion. Die Deutschen sind freundlich zur Fremden, wenn der Gesprächsstoff knapp wird, loben sie die französische Küche, den Käse, den Wein: "Du lernst zu dieser Zeit, dich höflich zu langweilen. Diese Kunst wirst du bald perfekt beherrschen."
Immer besser beherrscht sie freilich auch das Deutsche, begeistert sich für seine Schwierigkeiten, seinen Reichtum, experimentiert mit seinen Formen: "Diese Sprache funkelt: ein nie aufhörendes Feuerwerk." Zugleich erweist sich der Schwiegervater als Schweiger - Henris Recherchen über dessen Kriegszeit in Lyon ignoriert Louise lange. Sylvie Schenk nähert sich dem Thema ohne Routine: "Verdrängung, ein Wort, das klingt wie ein unkontrolliert und ruppig zusammengequetschtes Akkordeon." Haarscharf und unvermittelt schaut Schenk auf die Sollbruchstellen dieser Familie wie auf die hilflosen Kitt-Versuche. Ergreifend erzählt sie vom Krebstod der kleinen, sich ihr Lebtag klein machenden Mutter, die die Geburt von Louises Zwillingen gerade noch erlebt.
Die lapidare Unerbittlichkeit von "Schnell, dein Leben" wirkt, als hätte die Autorin, von Ungeduld übermannt, beschlossen, alles schmückende Beiwerk wegzulassen und sich mit dem Gerippe eines Familienromans zu begnügen. Die Kürze wird hier zum Trumpf, auch weil sie suggeriert: So schnell ist es vorbei, das Leben. Zwei Kapitel tragen die Überschrift "Die Moral": Das erste, ziemlich am Anfang, benennt die mundtot machende Moral der Klosterschule. Das zweite, gegen Ende, die damit ohne weiteres kompatible Moral der Täter, als Vademecum für ihre Kinder: "Nicht lügen, nicht stehlen, nicht schlagen, nicht Unnötiges fragen." Jesus, erklärt Johanns Vater seinem Sohn, hat für unsere Sünden bezahlt. "Wie praktisch, sagt Johann."
DANIELA STRIGL.
Sylvie Schenk: "Schnell, dein Leben". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2016, 160 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sylvie Schenks Sammlung biographischer Splitter fügt sich zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung
Manch einer wird müde abwinken, wenn er im Klappentext dieses Buches liest, es sei die Geschichte einer "Frau aus den französischen Alpen, die sich während des Studiums in einen Deutschen verliebt", ihm in seine Heimat folgt und "immer mehr Details aus der Vergangenheit des autoritären Schwiegervaters" erfährt, "der im Krieg in Frankreich war". Solche Geschichten deutsch-französischer Grabenkämpfe und verschwiegener Familiengeheimnisse meint man zur Genüge zu kennen. Was indes Sylvie Schenk, Jahrgang 1944, in "Schnell, dein Leben" an biographischen Splittern preisgibt und zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung fügt, hat man so bestimmt noch nicht gelesen. Beim jüngsten Bachmann-Wettbewerb wurde der Ausschnitt daraus nicht adäquat gewürdigt.
Auch mit ihren Romanen "Parksünder", "Der Gesang der Haut" oder "Der Aufbruch des Erik Jansen" hat Sylvie Schenk bei weitem nicht jene Aufmerksamkeit erhalten, die sie als ironiebegabte Spezialistin für das Raffiniert-Banale verdient hätte. Nun wendet sich die Autorin zum ersten Mal energisch dem Stoff zu, der ihr am nächsten liegt, und verfremdet ihn zu einem Roman, der sein Kursorisches schon im Titel trägt.
"Schnell, dein Leben" klingt wie eine Aufforderung zum gerafften Erzählen, es hat aber auch etwas Überfallartiges. Sylvie Schenks Alter Ego Louise stammt aus den französischen Alpen, der Vater ist Zahnarzt und Bergfex und hält die Mutter kurz, die strickt und duldet. Anders als der einstige Bauernbub Josef Winkler, der Vater und Mutter bestahl, um sich Bücher zu kaufen, steckt dieses Mädchen einen gefundenen Geldschein der Mutter heimlich in die Börse.
"Mädchen" heißt das erste der kurzen, bisweilen kürzesten Kapitel, in dem die Erzählerin bekennt, als Kind der fünfziger Jahre wäre sie "lieber ein Junge" gewesen: "Der Wunsch bewirkt, dass du nie zum knallharten Feminismus konvertieren wirst." Die Erzählerin - das ist also keine, die Ich sagt. Sylvie Schenk, die diskrete Künstlerin der Form, erzählt den gesamten Roman in der zweiten Person, was ihm den Charakter eines intimen und schmerzhaft aufrichtigen Selbstgesprächs verleiht. Der zweite Kunstgriff besteht in der Wahl des Präsens. Die Momentaufnahmen definieren einen Raum der Gegenwart, von dem aus das erinnernde Subjekt nach vorne und zurückschaut.
Louise wird in der Schule katholisch imprägniert, sie liebt eine lesbische Lehrerin, ohne zu wissen, was das heißt. Sie verinnerlicht das einträchtige Schweigen: "Vor Kindern spricht man grundsätzlich nicht von Sex und von Krieg." Beim Studium der Altphilologie in Lyon lernt sie den Pianisten Henri kennen, hochbegabt und attraktiv umdüstert, mit ihm macht sie die ersten sexuellen Erfahrungen. Henri ist Waise, seine Eltern waren Partisanen, die Deutschen haben sie umgebracht. Dass die Studentin dieser Bürde nicht gewachsen ist, sich der Auseinandersetzung verweigert, bedeutet das Ende der Beziehung.
Louises anderer Verehrer ist Henris Gegenstück und Widerpart: der Deutsche Johann, der Pharmazie studiert und perfekt Französisch spricht. Bald sind sie ein Paar und beschließen zu heiraten, was Louises Eltern nicht goutieren: Sie wollen keinen Deutschen in der Familie. Es gebe, schreibt der Vater der Tochter, mehr als fünfzig Millionen Franzosen, da sei gewiss ein junger Mann darunter, der sie glücklich machen könne. Die Liebenden setzen sich jedoch durch. Die Erzählstimme meint ein Muster zu erkennen - die Sehnsucht nach dem Außenseiterdasein: "Ein Fuß drinnen, ein Fuß draußen, dazugehören, aber doch anders sein. In Deutschland bist du eine Extrawurst. Dieses Wort wirst du bald lernen."
Bei der Hochzeit ist Henri als der unsichtbare Dritte präsent, Mendelssohns Hochzeitsmarsch erklingt für das Brautpaar, wie vereinbart, nicht in der Kirche, sondern auf einem Kreuzfahrtschiff, Tausende Meilen weit weg. Der Freund, eine Gestalt von Celanscher Weltverneinung, wird dieser Ehe als steinerner Gast erhalten bleiben.
Louise weiß schon am Tag ihrer Hochzeit, dass sie Romane schreiben will, möglichst auf Deutsch, noch kann sie die Sprache nicht, sie weiß, sie braucht Zeit. "Allein die Zeit gibt einem die wesentliche Dichte. Und das Schreiben." Es sind die Jahre vor 1968, die im Lichtkegel der Erzählung aufscheinen, die zähe, die bleierne Zeit. Abends gibt es Aufschnitt, und en famille küsst man einander nicht. Sylvie Schenk versteht sich darauf, Atmosphären, Mentalitäten, Manieren zu durchleuchten; sie macht die Freude der jungen Französin spürbar, in dieser musterhaften Familie Aufnahme zu finden und von Johanns Vater, dem gebildeten, frankophilen Apotheker, ebenso geschätzt zu werden wie von seiner schönen, klugen Mutter. Nur die kleine Schwester agiert als Vorhut der Rebellion. Die Deutschen sind freundlich zur Fremden, wenn der Gesprächsstoff knapp wird, loben sie die französische Küche, den Käse, den Wein: "Du lernst zu dieser Zeit, dich höflich zu langweilen. Diese Kunst wirst du bald perfekt beherrschen."
Immer besser beherrscht sie freilich auch das Deutsche, begeistert sich für seine Schwierigkeiten, seinen Reichtum, experimentiert mit seinen Formen: "Diese Sprache funkelt: ein nie aufhörendes Feuerwerk." Zugleich erweist sich der Schwiegervater als Schweiger - Henris Recherchen über dessen Kriegszeit in Lyon ignoriert Louise lange. Sylvie Schenk nähert sich dem Thema ohne Routine: "Verdrängung, ein Wort, das klingt wie ein unkontrolliert und ruppig zusammengequetschtes Akkordeon." Haarscharf und unvermittelt schaut Schenk auf die Sollbruchstellen dieser Familie wie auf die hilflosen Kitt-Versuche. Ergreifend erzählt sie vom Krebstod der kleinen, sich ihr Lebtag klein machenden Mutter, die die Geburt von Louises Zwillingen gerade noch erlebt.
Die lapidare Unerbittlichkeit von "Schnell, dein Leben" wirkt, als hätte die Autorin, von Ungeduld übermannt, beschlossen, alles schmückende Beiwerk wegzulassen und sich mit dem Gerippe eines Familienromans zu begnügen. Die Kürze wird hier zum Trumpf, auch weil sie suggeriert: So schnell ist es vorbei, das Leben. Zwei Kapitel tragen die Überschrift "Die Moral": Das erste, ziemlich am Anfang, benennt die mundtot machende Moral der Klosterschule. Das zweite, gegen Ende, die damit ohne weiteres kompatible Moral der Täter, als Vademecum für ihre Kinder: "Nicht lügen, nicht stehlen, nicht schlagen, nicht Unnötiges fragen." Jesus, erklärt Johanns Vater seinem Sohn, hat für unsere Sünden bezahlt. "Wie praktisch, sagt Johann."
DANIELA STRIGL.
Sylvie Schenk: "Schnell, dein Leben". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2016, 160 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2017Heile, heile, Gänsje
Sylvie Schenk erzählt ein deutsch-französisches Leben
Dass ein Mensch, der die 70 überschritten hat, seine Lebensgeschichte aufzeichnen möchte, ist nachvollziehbar. Bilanz ziehen, biografische oder generationstypische Muster erforschen vielleicht, sich Fragen stellen, die man im Getümmel der früheren Jahre vermieden hat. In diesem der Subjektivität verschriebenen Genre ist naturgemäß alles erlaubt. Nur eines erweist sich in der Autobiografie als gleichermaßen hinderlich wie im Roman: Naivität.
Die 1944 in den französischen Alpen geborene Sylvie Schenk kam 1966 der Liebe wegen nach Deutschland und ist, mit Mann und Kindern, hiergeblieben. Erst arbeitete sie als Lehrerin, dann als Schulbuch-Autorin und begann in den 1970er-Jahren, in ihrer Muttersprache Gedichte zu veröffentlichen. Auf Deutsch publiziert sie seit einem Vierteljahrhundert Erzählungen und Romane und hat sich nun an ein autobiografisches Projekt gemacht, in Form eines Romans. Der Titel „Schnell, dein Leben“, verweist auf zwei Eigenheiten des Buches. In beschleunigtem Tempo soll das Erzählen hier vor sich gehen, und die Autorin redet ihre Hauptfigur mit „du“ an.
„Als kleines Mädchen der Fünfzigerjahre weißt du von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein“ – so geht es los, hinein in eine Dorf-Kindheit in den Bergen, ein Aufwachsen in gutbürgerlichem Elternhaus, das dennoch von der begüterten Lyoner Verwandtschaft mit Verachtung gestraft wird: Was sind schon Leute, die in einem entlegenen Dorf leben? Man lernt die sanfte, unterdrückte Mutter kennen, die ihr Unglück dem Kleiderschrank anvertraut, den auch nicht glücklicher wirkenden Vater, die Geschwister, und schon geht es zum Studium nach Lyon. Impressionistisch könnte man diese Erzählweise nennen, bei raschen Szenenwechseln wird es bis zum Ende des Buches bleiben. Leider, denn je länger dieses Leben andauert, umso mehr Fragen häufen sich auf, über die jedoch die Erzählerin, die sich Louise nennt, im eher unbedarften Hopplahopp hinwegfegt.
Etwa im Blick auf Henri, der abends in einem Jazzclub am Flügel sitzt und ein Kommilitone von Louise ist. Seine Eltern hatten der Résistance angehört und wurden von den Deutschen ermordet, das Waisenkind wuchs bei der Großmutter in Lyon auf. Anhaltend traumatisiert, erforscht Henri die Geschichte der Résistance in seiner Stadt, belegt die Kriegsverbrechen der Deutschen mit Namen, Tatorten und Opferzahlen. Er interessiert sich für Louise, aber der ist er zu düster und zu insistent.
Zumal es da ja auch noch Johann gibt, den perfekt Französisch sprechenden deutschen Austausch-Studenten: freundlich, zurückhaltend, in jeder Hinsicht blass, könnte man auch sagen. Ihm wird Louise nach Deutschland folgen, ihn wird sie gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Familie heiraten, mit ihm Kinder haben und irgendwann herausfinden, dass ihr so angenehm kultivierter Schwiegervater ein Helfershelfer von Klaus Barbie war, dem „Schlächter von Lyon“.
Henri hat diese Verbindung aufgedeckt, Louise wird seine Recherchen später, als sie Bücher aus dem Bestand von Henris Vater in der Bibliothek des Schwiegervaters findet, bestätigt sehen. Zuvor aber schreibt sie an Henri: „falls es stimme, falls Johanns Vater als Dolmetscher SS-Soldaten oder der Miliz beigestanden habe, dürfe man es ihm wirklich nachtragen? Was drohte denn Soldaten bei einer Befehlsverweigerung? Was hätte er, Henri, an dessen Stelle gemacht?“ Als Schwangere wünscht sie sich wenig später „einen kleinen deutschen Sohn, der so viel Licht in sich trägt und so weit vom Zweiten Weltkrieg entfernt ist, dass ihm niemand mehr vorwerfen wird, sein Großvater könnte ein Nazi gewesen sein“. Zuvor hat sie bereits ihre deutschen Schülerinnen, die gerade Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ über die deutschen Vernichtungslager gesehen haben und tief verstört in ihren Eltern potenzielle Verbrecher erkennen, damit zu trösten versucht, das seien doch die Probleme ihrer Eltern, nicht ihre.
In diesen Passagen tritt das Grundproblem des Buches hervor. Es besteht darin, dass die Heldin, mag sie in früheren Jahren tatsächlich so naiv gewesen sein, wie sie hier erscheint, als inzwischen alte Frau noch immer keine Fragen zu haben scheint, schon gar keine an sich selbst. Und so nimmt dies Nachkriegs-Leben zwischen Deutschland und Frankreich seinen unreflektierten Lauf, in einem Stil, der gelegentlich stutzen lässt. Seit wann ließe sich ein Mensch als „Extrawurst“ bezeichnen? Erscheinen winkende deutsche Kinder als „schwingende Botschafter des Landes“? „Bohren“ Finger „in dein Fleisch wie ein Anker“? Seltsam auch, dass gegen Ende völlig unvermittelt der Ehemann Johann als Kind und junger Mann in den Fokus rückt. Nach einem Ehekrach hatte Louise ihm einmal, um ihn zu trösten, das Kinderlied „Heile, heile Gänsje, es ist bald wieder gut“ vorgesungen. Als ein solcher Gesang, hilf- und gedankenlos, erscheint nun das ganze Buch.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Henris Eltern waren in der
Résistance und wurden getötet
Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016.
160 Seiten, 16 Euro.
E-Book 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sylvie Schenk erzählt ein deutsch-französisches Leben
Dass ein Mensch, der die 70 überschritten hat, seine Lebensgeschichte aufzeichnen möchte, ist nachvollziehbar. Bilanz ziehen, biografische oder generationstypische Muster erforschen vielleicht, sich Fragen stellen, die man im Getümmel der früheren Jahre vermieden hat. In diesem der Subjektivität verschriebenen Genre ist naturgemäß alles erlaubt. Nur eines erweist sich in der Autobiografie als gleichermaßen hinderlich wie im Roman: Naivität.
Die 1944 in den französischen Alpen geborene Sylvie Schenk kam 1966 der Liebe wegen nach Deutschland und ist, mit Mann und Kindern, hiergeblieben. Erst arbeitete sie als Lehrerin, dann als Schulbuch-Autorin und begann in den 1970er-Jahren, in ihrer Muttersprache Gedichte zu veröffentlichen. Auf Deutsch publiziert sie seit einem Vierteljahrhundert Erzählungen und Romane und hat sich nun an ein autobiografisches Projekt gemacht, in Form eines Romans. Der Titel „Schnell, dein Leben“, verweist auf zwei Eigenheiten des Buches. In beschleunigtem Tempo soll das Erzählen hier vor sich gehen, und die Autorin redet ihre Hauptfigur mit „du“ an.
„Als kleines Mädchen der Fünfzigerjahre weißt du von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein“ – so geht es los, hinein in eine Dorf-Kindheit in den Bergen, ein Aufwachsen in gutbürgerlichem Elternhaus, das dennoch von der begüterten Lyoner Verwandtschaft mit Verachtung gestraft wird: Was sind schon Leute, die in einem entlegenen Dorf leben? Man lernt die sanfte, unterdrückte Mutter kennen, die ihr Unglück dem Kleiderschrank anvertraut, den auch nicht glücklicher wirkenden Vater, die Geschwister, und schon geht es zum Studium nach Lyon. Impressionistisch könnte man diese Erzählweise nennen, bei raschen Szenenwechseln wird es bis zum Ende des Buches bleiben. Leider, denn je länger dieses Leben andauert, umso mehr Fragen häufen sich auf, über die jedoch die Erzählerin, die sich Louise nennt, im eher unbedarften Hopplahopp hinwegfegt.
Etwa im Blick auf Henri, der abends in einem Jazzclub am Flügel sitzt und ein Kommilitone von Louise ist. Seine Eltern hatten der Résistance angehört und wurden von den Deutschen ermordet, das Waisenkind wuchs bei der Großmutter in Lyon auf. Anhaltend traumatisiert, erforscht Henri die Geschichte der Résistance in seiner Stadt, belegt die Kriegsverbrechen der Deutschen mit Namen, Tatorten und Opferzahlen. Er interessiert sich für Louise, aber der ist er zu düster und zu insistent.
Zumal es da ja auch noch Johann gibt, den perfekt Französisch sprechenden deutschen Austausch-Studenten: freundlich, zurückhaltend, in jeder Hinsicht blass, könnte man auch sagen. Ihm wird Louise nach Deutschland folgen, ihn wird sie gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Familie heiraten, mit ihm Kinder haben und irgendwann herausfinden, dass ihr so angenehm kultivierter Schwiegervater ein Helfershelfer von Klaus Barbie war, dem „Schlächter von Lyon“.
Henri hat diese Verbindung aufgedeckt, Louise wird seine Recherchen später, als sie Bücher aus dem Bestand von Henris Vater in der Bibliothek des Schwiegervaters findet, bestätigt sehen. Zuvor aber schreibt sie an Henri: „falls es stimme, falls Johanns Vater als Dolmetscher SS-Soldaten oder der Miliz beigestanden habe, dürfe man es ihm wirklich nachtragen? Was drohte denn Soldaten bei einer Befehlsverweigerung? Was hätte er, Henri, an dessen Stelle gemacht?“ Als Schwangere wünscht sie sich wenig später „einen kleinen deutschen Sohn, der so viel Licht in sich trägt und so weit vom Zweiten Weltkrieg entfernt ist, dass ihm niemand mehr vorwerfen wird, sein Großvater könnte ein Nazi gewesen sein“. Zuvor hat sie bereits ihre deutschen Schülerinnen, die gerade Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ über die deutschen Vernichtungslager gesehen haben und tief verstört in ihren Eltern potenzielle Verbrecher erkennen, damit zu trösten versucht, das seien doch die Probleme ihrer Eltern, nicht ihre.
In diesen Passagen tritt das Grundproblem des Buches hervor. Es besteht darin, dass die Heldin, mag sie in früheren Jahren tatsächlich so naiv gewesen sein, wie sie hier erscheint, als inzwischen alte Frau noch immer keine Fragen zu haben scheint, schon gar keine an sich selbst. Und so nimmt dies Nachkriegs-Leben zwischen Deutschland und Frankreich seinen unreflektierten Lauf, in einem Stil, der gelegentlich stutzen lässt. Seit wann ließe sich ein Mensch als „Extrawurst“ bezeichnen? Erscheinen winkende deutsche Kinder als „schwingende Botschafter des Landes“? „Bohren“ Finger „in dein Fleisch wie ein Anker“? Seltsam auch, dass gegen Ende völlig unvermittelt der Ehemann Johann als Kind und junger Mann in den Fokus rückt. Nach einem Ehekrach hatte Louise ihm einmal, um ihn zu trösten, das Kinderlied „Heile, heile Gänsje, es ist bald wieder gut“ vorgesungen. Als ein solcher Gesang, hilf- und gedankenlos, erscheint nun das ganze Buch.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Henris Eltern waren in der
Résistance und wurden getötet
Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2016.
160 Seiten, 16 Euro.
E-Book 11,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Eine poetische französisch-deutsche Nachkriegsbiografie, in der jeder Satz sitzt." Judith Liere, Stern, 08.12.16
"Subtil und einfühlsam, zudem ein komprimiertes Stück Zeitgeschichte". Brigitte wir, 6/2016
"Sylvie Schenk macht aus dem Schweigen, das auch ihr Leben bestimmt hat, Literatur, autobiographische Splitter zu einem Roman verfremdet. 'Schnell, dein Leben' ist die Geschichte einer Frau zwischen Frankreich und Deutschland und eine Liebesgeschichte." Carola Wittwock, arte "Metropolis", 25.10.16
"Der Erzählstil von Sylvie Schenk ist so einfach, klar und klug, dass kein überflüssiges Wort die Präzision verdirbt. Wer ihren neuen Roman 'Schnell, dein Leben', liest, hält die Luft an." Selma Üsük, HR, 21.10.16
"Was Sylvie Schenk an biographischen Splittern preisgibt und zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung fügt, hat man so bestimmt noch nicht gelesen." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.16
"Ein autobiografischer Roman, der sehr klug von der Last der Vergangenheit erzählt. ... Ein kleines Meisterwerk ist der Autorin da gelungen - und ein großer Befreiungsschlag." Angela Wittmann, Brigitte, 08/16
"Was für ein Leben, was für Koinzidenzen. Und wie schön es Schenk gelingt, darauf hinzuweisen, wie kurz ein Leben bei so einem Draufblick ist, 'mein Leben, unser Leben'. Und wieviel trotzdem drin steckt, wie komplex es sich darstellt! Die Zeit nimmt bei der Lektüre dieses Romans andere Dimensionen an, sie dehnt sich, und doch hat man am Ende den Eindruck, viel zu schnell und zu begeistert gelesen zu haben." Gerrit Bartels, Deutschlandradio Kultur Buchkritik, 08.08.16
"Mit jeder Seite ihres - wohl autobiografisch inspirierten Romans - kommt Sylvie Schenk mehr in einen Flow und erzählt dabei ein Stück der lange schmerzhaften französisch-deutschen Geschichte." Silivia Feist, emotion September 2016
""(...) wie sie die Liebe zwischen einer Französin und einem Deutschen in den 60er-Jahren schildert ist spektakulär. (...) Ein schmales Buch mit der Wucht eines kleinen Meisterwerks. (...) Der Roman ist zugleich Fiktion und Zeitgeschichte, vor allem aber eine kühne Selbstbetrachtung." Ariane Heimbach, Brigitte woman 09/16
"Es ist ihrer eigenen Biografie entlang geschrieben und überzeugt durch seine Dichte, Stringenz und Lakonie. (...) Ein packendes und wichtiges Buch. Kein Wort zu viel." Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 24.07.16
"Es scheint, als sei es das Buch für eine ganze Generation." Mareike Ilsemann, WDR 3 Mosaik, 29.06.16
"Schenk hat einen Blick für die sprechenden Details und ein Sensorium für die ambivalente Atmosphäre der Nachkriegsjahre. ... Der Roman liest sich ungeheuer gut." Christoph Schröder, taz, 27.08.16
"Und einmal abgesehen von den Ereignissen, die dieses Leben prägen, ist es gerade die Schlichtheit der Darstellung, die stärker wirkt als alle auftrumpfenden ästhetischen Verfahren." Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 19.08.16
"Subtil und einfühlsam, zudem ein komprimiertes Stück Zeitgeschichte". Brigitte wir, 6/2016
"Sylvie Schenk macht aus dem Schweigen, das auch ihr Leben bestimmt hat, Literatur, autobiographische Splitter zu einem Roman verfremdet. 'Schnell, dein Leben' ist die Geschichte einer Frau zwischen Frankreich und Deutschland und eine Liebesgeschichte." Carola Wittwock, arte "Metropolis", 25.10.16
"Der Erzählstil von Sylvie Schenk ist so einfach, klar und klug, dass kein überflüssiges Wort die Präzision verdirbt. Wer ihren neuen Roman 'Schnell, dein Leben', liest, hält die Luft an." Selma Üsük, HR, 21.10.16
"Was Sylvie Schenk an biographischen Splittern preisgibt und zu einem Kaleidoskop überscharfer Erinnerung fügt, hat man so bestimmt noch nicht gelesen." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.16
"Ein autobiografischer Roman, der sehr klug von der Last der Vergangenheit erzählt. ... Ein kleines Meisterwerk ist der Autorin da gelungen - und ein großer Befreiungsschlag." Angela Wittmann, Brigitte, 08/16
"Was für ein Leben, was für Koinzidenzen. Und wie schön es Schenk gelingt, darauf hinzuweisen, wie kurz ein Leben bei so einem Draufblick ist, 'mein Leben, unser Leben'. Und wieviel trotzdem drin steckt, wie komplex es sich darstellt! Die Zeit nimmt bei der Lektüre dieses Romans andere Dimensionen an, sie dehnt sich, und doch hat man am Ende den Eindruck, viel zu schnell und zu begeistert gelesen zu haben." Gerrit Bartels, Deutschlandradio Kultur Buchkritik, 08.08.16
"Mit jeder Seite ihres - wohl autobiografisch inspirierten Romans - kommt Sylvie Schenk mehr in einen Flow und erzählt dabei ein Stück der lange schmerzhaften französisch-deutschen Geschichte." Silivia Feist, emotion September 2016
""(...) wie sie die Liebe zwischen einer Französin und einem Deutschen in den 60er-Jahren schildert ist spektakulär. (...) Ein schmales Buch mit der Wucht eines kleinen Meisterwerks. (...) Der Roman ist zugleich Fiktion und Zeitgeschichte, vor allem aber eine kühne Selbstbetrachtung." Ariane Heimbach, Brigitte woman 09/16
"Es ist ihrer eigenen Biografie entlang geschrieben und überzeugt durch seine Dichte, Stringenz und Lakonie. (...) Ein packendes und wichtiges Buch. Kein Wort zu viel." Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 24.07.16
"Es scheint, als sei es das Buch für eine ganze Generation." Mareike Ilsemann, WDR 3 Mosaik, 29.06.16
"Schenk hat einen Blick für die sprechenden Details und ein Sensorium für die ambivalente Atmosphäre der Nachkriegsjahre. ... Der Roman liest sich ungeheuer gut." Christoph Schröder, taz, 27.08.16
"Und einmal abgesehen von den Ereignissen, die dieses Leben prägen, ist es gerade die Schlichtheit der Darstellung, die stärker wirkt als alle auftrumpfenden ästhetischen Verfahren." Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 19.08.16