Dieses Lese- und Handbuch behandelt die Geschichte des Sports insgesamt, in seinen wichtigsten Disziplinen und mit seinen medizinischen und gesellschaftlichen Aspekten. Der Band beruht auf einer Sendereihe des Hessischen Rundfunks, die von Juni bis Dezember 1996 in 31 Folgen ausgestrahlt wurde. Die Autoren sind namhafte Fachgelehrte, Schriftsteller und Publizisten. Enthalten sind u.a. ein historischer Überblick, eine Darstellung einzelner Disziplinen sowie zahlreiche Portraits von Sportlegenden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996Der Urwaldschrei im Altersheim
Ewig juckt das Agonale: Sport, Sport, und ab und zu ein Mord / Von Hans-Joachim Neubauer
Die Knie kennen die Wahrheit, besonders das rechte: "Wie von einer spitzen Nadel durchbohrt, fuhr er zusammen. Jeder Gedanke folgte dem fließenden Schmerz, der von der Kniescheibe ausging und sich in Unter- und Oberschenkel ergoß." So stellt Ludwig Harig sich vor, was Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé, erduldet. Die immer noch berühmtesten Knie der Welt stehen für Geld, Glück und die Grenzen des Sports. "Ist das Knie die Basis der Geschäfte?" fragt Harig. Seine Meniskus-Meditation gehört zu den über dreißig Essays und Radiogesprächen, die der Hessische Rundfunk seit dem Sommer dieses Jahres über die Geschichte des Sports ausstrahlt. Unprätentiös, oft gelehrt und manchmal lustig erzählen Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller über populäre Sportarten und Stars, erklären die Soziologie der Leibesübungen und berichten, wie es die alten Ägypter, Assyrer, Griechen und Römer mit dem "Leder-, Kreide-, Turnermief" (Günter Grass) hielten.
Äußerster Anlaß von Reihe und Buch ist der fünfzigste Geburtstag des Hessischen Sportbundes - womit schon deutlich wird, was Sport heute ist: Vereinssache. Millionen Deutsche biegen und brechen, ziehen und strecken in Tausenden von Clubs nach dem coubertinolympischen Prinzip des citius-altius-fortius. Mit dem nationalen Turnvater Jahn hat das wenig zu tun! Auch wenn Bugattis aus Italien kommen, die Tour de France auf den Champs-Elysées endet und Skier eben Schnee brauchen: der moderne Sport ist ursprünglich ganz britisch. Schließlich heißt es ja "No sports", "Fair play", "Foul" und "Doping". Auch Sport selbst ist so ein Wort, "ebenso unübersetzbar wie Gentleman", schrieb Fürst Pückler-Muskau 1830 und bürgerte damit das Wort bei uns ein.
Nur hundert Jahre später schienen die Tugenden der englischen Gentry ziemlich verblaßt: "Wozu noch länger vom Geist des Sportsmanns reden", meinte, schlecht gelaunt, Robert Musil: "Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war so lange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es erlaubte, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten." Damit brachte er auf den Punkt, was uns von den Griechen unterscheidet.
Heute siegt das mediale Prinzip über das, was Jacob Burckhardt als das "Agon" bei den Hellenen so verehrte. Als "globales Dienstleistungsunternehmen" erwirtschaftet der Sport längst schwindelerregende Umsätze. Vor einem Vierteljahrhundert sahen ein paar Millionen am Bildschirm zu, wie Muhammad Ali Joe Frazier verwirrte, 1994 dann guckten sich drei Milliarden Menschen "live" das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft an. Eine Fußballmannschaft dagegen hat nach wie vor elf Spieler, und ein Boxer ist immer allein. Je größer ein Sportler, desto einsamer wirkt er, ganz für sich mit seinen Siegen, Schmerzen und Gelenken - das andere, fittere Ego des ebenso einsamen Zuschauers daheim.
Ob im Mittelalter, in China oder bei amerikanischen Ureinwohnern - wer sich auf die auch sentimentale Reise durch Geschichten und Geschichte des Sports begibt, versteht bald, wieso die Leibesübungen als "anthropologische Konstante" gelten. Das erwähnte "Agonale" hatten die Griechen nicht erfunden: längst kannten Ägypter und Assyrer Kampfspiele, Jagden und Wettschießen; wer gewann, bekam die Prinzessin. Auch der Brautagon par excellence, Odysseus' Schuß durch die zwölf Äxte, stellte nur einen altägyptischen Rekord ein. Dennoch kennt man, was zum Sport gehört, erst aus dem antiken Olympia: Publikum, Bestechung, Starkult, Unfälle. "Wer hier siegt", rühmt Pindar, "kann das übrige Leben süße Ruhe haben." Auch nach dem Tod: Unsterblicher Ruhm winkte den Superstars im Pentathlon oder im blutigen All- und Faustkampf. Später dann, in Rom, trat auch der Fan auf den Plan. Und mit ihm die Farben: "Sie favorisieren den Dreß, den Dreß lieben sie", berichtet Plinius über einen "day at the races" im hippischen Zirkus.
Von da bis zu den modernen Formen des Fahrens, Hauens und Stechens war es ein langer und seltsamer Weg verzögerter Beschleunigung: Im Mittelalter ritten Ritter, später fuhren Fahrer. Nur langsam wurde man immer schneller. Anders als ihre heutigen Kollegen, in deren Spoilern angeblich "Erotik nistet", hatten es etwa die ersten Autorennfahrer kaum mit vierfacher Erdbeschleunigung zu tun; dafür gab es andere Tücken: "Die Fahrer Tochtermann und Bleyer, die einen Gladiator fuhren, waren von der Polizei in Rattenburg wegen Schnellfahrens verhaftet worden und eineinhalb Stunden im Arrest geblieben. Sie legten später einen Teil mit der Bahn zurück und wurden disqualifiziert. Grassel auf Benz schied nach dem Zusammenstoß mit einem Bierwagen aus", berichtet ein Reporter 1899 vom Rennen Innsbruck- München.
Charles Riley, der Entdecker und Trainer Jesse Owens, hatte ein einfaches Rezept für den Erfolg: "Trainiere vom nächsten Freitag an vier Jahre lang." Das ist der amerikanische Weg zu den Sternen, aber was macht einen Star zum Star? Vielleicht vollendet sich ja die Geschichte der wirklich "Großen" erst in ihrem Niedergang, vielleicht ist das Genos des Sports die Tragödie. Das Publikum jedenfalls liebt solche Muster biographischer Inszenierung, wie das Beispiel Johnny Weißmullers zeigt.
Der amerikanische Schwimmweltmeister brach lässig einen Rekord nach dem anderen. Schlank, charmant und schön, wurde er der erste Sportmillionär, und als fast nackter Film-Tarzan avancierte er schließlich zum Sexsymbol der dreißiger Jahre. Seine wortkarge Rolle versprach ewigen Ruhm; unvergessen sein Blick beim klassischen "Me - Tarzan". Danach dann, so sah es jedenfalls die Presse, kam der Niedergang: Absturz, Affären, Demenz. Noch heute hält sich die Fama, Weißmuller habe im Alter, geistig umnachtet, Mitgreise mit Urwaldschreien verschreckt. Sabine Horst zeigt, welcher prüden Logik solche Popular-Mythen gehorchen; es ist, "als ob einer, der sein Geld stets mit seinem Körper verdient hat, auf sein Leben nicht anders denn als gescheitertes zurückblicken dürfte".
Erst "danach" wird der Heros endgültig zum Mythos. Wo würde das deutlicher als beim Meister aller Klassen? Auch das Schicksal des Muhammad Ali beschließt sich erst im Moment der Niederlage: Vor dem letzten Kampf gegen Larry Holmes hat Ali, wie Jan Philipp Reemtsma ausführt, "Schwierigkeiten, mit geschlossenen Augen die eigene Nasenspitze zu berühren". Die Ärzte diagnostizieren Hirnschäden; zu viele, zu schwere Kopftreffer. Trotzdem geht the greatest in den Ring. Und verliert gegen den früheren Sparringspartner. Der sucht den Verlierer danach auf: "Ich sagte zu ihm: ,Du bist der Größte, ich liebe dich.' Mir war gräßlich zumute. Obwohl ich gewonnen hatte, war ich niedergeschlagen."
Im Herzen der Geschichte hat nur Platz, wer manchmal auch verliert. Darum lieben die Deutschen nicht Steffi, sondern Boris. Leute wie Netzer oder Libuda und nicht den smarten Kaiser aus Bayern. Denn die verborgene Botschaft des Schneller, Höher, Weiter ist das Langsamer und Weniger, ist die Ahnung um die Vergeblichkeit menschlichen Mühens, um die Schwäche des Körpers. Erst 1975 wurde der letzte von Jesse Owens Rekorden gebrochen: "Das ist, als würde man ein Familienmitglied verlieren", meinte der vierfache Olympiasieger von Berlin und spürte die Einsamkeit des Alters, als wäre sie ein Schmerz im rechten Knie.
Hans Sarkowicz (Hrsg.): "Schneller, Höher, Weiter". Eine Geschichte des Sports. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 1996. 496 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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Ewig juckt das Agonale: Sport, Sport, und ab und zu ein Mord / Von Hans-Joachim Neubauer
Die Knie kennen die Wahrheit, besonders das rechte: "Wie von einer spitzen Nadel durchbohrt, fuhr er zusammen. Jeder Gedanke folgte dem fließenden Schmerz, der von der Kniescheibe ausging und sich in Unter- und Oberschenkel ergoß." So stellt Ludwig Harig sich vor, was Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé, erduldet. Die immer noch berühmtesten Knie der Welt stehen für Geld, Glück und die Grenzen des Sports. "Ist das Knie die Basis der Geschäfte?" fragt Harig. Seine Meniskus-Meditation gehört zu den über dreißig Essays und Radiogesprächen, die der Hessische Rundfunk seit dem Sommer dieses Jahres über die Geschichte des Sports ausstrahlt. Unprätentiös, oft gelehrt und manchmal lustig erzählen Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller über populäre Sportarten und Stars, erklären die Soziologie der Leibesübungen und berichten, wie es die alten Ägypter, Assyrer, Griechen und Römer mit dem "Leder-, Kreide-, Turnermief" (Günter Grass) hielten.
Äußerster Anlaß von Reihe und Buch ist der fünfzigste Geburtstag des Hessischen Sportbundes - womit schon deutlich wird, was Sport heute ist: Vereinssache. Millionen Deutsche biegen und brechen, ziehen und strecken in Tausenden von Clubs nach dem coubertinolympischen Prinzip des citius-altius-fortius. Mit dem nationalen Turnvater Jahn hat das wenig zu tun! Auch wenn Bugattis aus Italien kommen, die Tour de France auf den Champs-Elysées endet und Skier eben Schnee brauchen: der moderne Sport ist ursprünglich ganz britisch. Schließlich heißt es ja "No sports", "Fair play", "Foul" und "Doping". Auch Sport selbst ist so ein Wort, "ebenso unübersetzbar wie Gentleman", schrieb Fürst Pückler-Muskau 1830 und bürgerte damit das Wort bei uns ein.
Nur hundert Jahre später schienen die Tugenden der englischen Gentry ziemlich verblaßt: "Wozu noch länger vom Geist des Sportsmanns reden", meinte, schlecht gelaunt, Robert Musil: "Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war so lange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es erlaubte, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten." Damit brachte er auf den Punkt, was uns von den Griechen unterscheidet.
Heute siegt das mediale Prinzip über das, was Jacob Burckhardt als das "Agon" bei den Hellenen so verehrte. Als "globales Dienstleistungsunternehmen" erwirtschaftet der Sport längst schwindelerregende Umsätze. Vor einem Vierteljahrhundert sahen ein paar Millionen am Bildschirm zu, wie Muhammad Ali Joe Frazier verwirrte, 1994 dann guckten sich drei Milliarden Menschen "live" das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft an. Eine Fußballmannschaft dagegen hat nach wie vor elf Spieler, und ein Boxer ist immer allein. Je größer ein Sportler, desto einsamer wirkt er, ganz für sich mit seinen Siegen, Schmerzen und Gelenken - das andere, fittere Ego des ebenso einsamen Zuschauers daheim.
Ob im Mittelalter, in China oder bei amerikanischen Ureinwohnern - wer sich auf die auch sentimentale Reise durch Geschichten und Geschichte des Sports begibt, versteht bald, wieso die Leibesübungen als "anthropologische Konstante" gelten. Das erwähnte "Agonale" hatten die Griechen nicht erfunden: längst kannten Ägypter und Assyrer Kampfspiele, Jagden und Wettschießen; wer gewann, bekam die Prinzessin. Auch der Brautagon par excellence, Odysseus' Schuß durch die zwölf Äxte, stellte nur einen altägyptischen Rekord ein. Dennoch kennt man, was zum Sport gehört, erst aus dem antiken Olympia: Publikum, Bestechung, Starkult, Unfälle. "Wer hier siegt", rühmt Pindar, "kann das übrige Leben süße Ruhe haben." Auch nach dem Tod: Unsterblicher Ruhm winkte den Superstars im Pentathlon oder im blutigen All- und Faustkampf. Später dann, in Rom, trat auch der Fan auf den Plan. Und mit ihm die Farben: "Sie favorisieren den Dreß, den Dreß lieben sie", berichtet Plinius über einen "day at the races" im hippischen Zirkus.
Von da bis zu den modernen Formen des Fahrens, Hauens und Stechens war es ein langer und seltsamer Weg verzögerter Beschleunigung: Im Mittelalter ritten Ritter, später fuhren Fahrer. Nur langsam wurde man immer schneller. Anders als ihre heutigen Kollegen, in deren Spoilern angeblich "Erotik nistet", hatten es etwa die ersten Autorennfahrer kaum mit vierfacher Erdbeschleunigung zu tun; dafür gab es andere Tücken: "Die Fahrer Tochtermann und Bleyer, die einen Gladiator fuhren, waren von der Polizei in Rattenburg wegen Schnellfahrens verhaftet worden und eineinhalb Stunden im Arrest geblieben. Sie legten später einen Teil mit der Bahn zurück und wurden disqualifiziert. Grassel auf Benz schied nach dem Zusammenstoß mit einem Bierwagen aus", berichtet ein Reporter 1899 vom Rennen Innsbruck- München.
Charles Riley, der Entdecker und Trainer Jesse Owens, hatte ein einfaches Rezept für den Erfolg: "Trainiere vom nächsten Freitag an vier Jahre lang." Das ist der amerikanische Weg zu den Sternen, aber was macht einen Star zum Star? Vielleicht vollendet sich ja die Geschichte der wirklich "Großen" erst in ihrem Niedergang, vielleicht ist das Genos des Sports die Tragödie. Das Publikum jedenfalls liebt solche Muster biographischer Inszenierung, wie das Beispiel Johnny Weißmullers zeigt.
Der amerikanische Schwimmweltmeister brach lässig einen Rekord nach dem anderen. Schlank, charmant und schön, wurde er der erste Sportmillionär, und als fast nackter Film-Tarzan avancierte er schließlich zum Sexsymbol der dreißiger Jahre. Seine wortkarge Rolle versprach ewigen Ruhm; unvergessen sein Blick beim klassischen "Me - Tarzan". Danach dann, so sah es jedenfalls die Presse, kam der Niedergang: Absturz, Affären, Demenz. Noch heute hält sich die Fama, Weißmuller habe im Alter, geistig umnachtet, Mitgreise mit Urwaldschreien verschreckt. Sabine Horst zeigt, welcher prüden Logik solche Popular-Mythen gehorchen; es ist, "als ob einer, der sein Geld stets mit seinem Körper verdient hat, auf sein Leben nicht anders denn als gescheitertes zurückblicken dürfte".
Erst "danach" wird der Heros endgültig zum Mythos. Wo würde das deutlicher als beim Meister aller Klassen? Auch das Schicksal des Muhammad Ali beschließt sich erst im Moment der Niederlage: Vor dem letzten Kampf gegen Larry Holmes hat Ali, wie Jan Philipp Reemtsma ausführt, "Schwierigkeiten, mit geschlossenen Augen die eigene Nasenspitze zu berühren". Die Ärzte diagnostizieren Hirnschäden; zu viele, zu schwere Kopftreffer. Trotzdem geht the greatest in den Ring. Und verliert gegen den früheren Sparringspartner. Der sucht den Verlierer danach auf: "Ich sagte zu ihm: ,Du bist der Größte, ich liebe dich.' Mir war gräßlich zumute. Obwohl ich gewonnen hatte, war ich niedergeschlagen."
Im Herzen der Geschichte hat nur Platz, wer manchmal auch verliert. Darum lieben die Deutschen nicht Steffi, sondern Boris. Leute wie Netzer oder Libuda und nicht den smarten Kaiser aus Bayern. Denn die verborgene Botschaft des Schneller, Höher, Weiter ist das Langsamer und Weniger, ist die Ahnung um die Vergeblichkeit menschlichen Mühens, um die Schwäche des Körpers. Erst 1975 wurde der letzte von Jesse Owens Rekorden gebrochen: "Das ist, als würde man ein Familienmitglied verlieren", meinte der vierfache Olympiasieger von Berlin und spürte die Einsamkeit des Alters, als wäre sie ein Schmerz im rechten Knie.
Hans Sarkowicz (Hrsg.): "Schneller, Höher, Weiter". Eine Geschichte des Sports. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 1996. 496 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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